Kitabı oku: «Das Experiment», sayfa 2

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4

Am nächsten Nachmittag waren die braunen Decken verschwunden. Nicht wenige der anwesenden Jungmediziner sahen zum ersten Mal einen toten menschlichen Körper.

Auch für Martin war es das erste Mal. Er war erstaunt, wie wenig beeindruckt und überwältigt er war, als er auf den leblosen Körper schaute. Er verspürte nichts und das ärgerte ihn. Er fühlte keine Angst, als er das versteinerte eingefallene Gesicht erblickte, kein Mitleid mit dem verstorbenen Spender, keine Dankbarkeit, dass sich dieser für ihren Kurs bereitgestellt hatte, und keinen Stolz darüber, Medizinstudent zu sein und auf der anderen, der handelnden Seite des Tisches zu stehen. Keines dieser Gefühle hatte er und auch keines der abertausend anderen, die denkbar gewesen wären. War sein Inneres kalt oder konnte er sich auf keine Empfindung konzentrieren? Er wusste es nicht.

Am Abend, allein in seiner Wohnung, versuchte er, die Gefühlssperre, die er beim Anblick des Toten gehabt hatte, umzudeuten und nicht als Schwäche zu empfinden. Er redete sich ein, dass die Leere ein Vorteil war, die ihm dabei half, ungestört zu lernen.

Andere Mitstudenten aus seinem Kurs bekamen arge Probleme. Besonders Maria, seine Nachbarin, schien ernsthaft angegriffen und dachte laut darüber nach, ihr Studium hinzuschmeißen. Denn ohne diesen Kurs, das war klar, würde der Weg zum Arzt augenblicklich enden.

Schließlich kam das Leben zu einer gewissen Routine, und auch Maria setzte ihr Studium fort. An den Vormittagen besuchte man die Vorlesungen, die von Professor Riester und anderen Anatomen gehalten wurden. Die Nachmittage verbrachte man im düsteren, nach Formalin riechenden Keller.

Man betrat gegen zwei das dreieckige Gebäude und streifte sich einen weißen Kittel oder einen Umhang, der den gesamten Körper bedeckte, über die Alltagskleidung. Schließlich verschwand man in jenem der drei Säle mit dem eigenen Tisch.

Unter Aufsicht der Assistenten wurde der Leichnam sorgfältig präpariert. Mit Pinzetten, Skalpellen und Scheren der verschiedensten Größen und Ausführungen wurden Haut und Fett entfernt, bis Nerven und Gefäße bis zur kleinsten Aufzweigung sichtbar waren. Schließlich wurden die Muskeln durchschnitten und die Knochen und Gelenke kamen zum Vorschein.

Als Arme und Beine präpariert und geprüft worden waren, ging es weiter zu den Bauchorganen, deren Anatomie ebenso gefürchtet war wie das dazugehörige Testat. Je näher der Tag der Prüfung rückte, desto größer wurde die allgemeine Unruhe, die früher oder später jeden Beteiligten in ihren Bann zog.

Martins Gruppe hatte an einem Dienstag Prüfung. Da Professor Riester bekennender Frühaufsteher war, wurde das Testat für acht Uhr morgens anberaumt.

Je vier Studenten wurden zeitgleich geprüft. Die erste Prüfungsgruppe, das hatte das Los entschieden, bestand aus Klaus, Thorsten, Silke und Maria, während Martin, Peter, Dennis und Dieter die zweite bildeten.

Kurz nach acht Uhr öffnete sich die Tür und die ersten vier Prüflinge verschwanden in dem dämmrigen Saal. Ein jeder der vier Verbliebenen nutzte die restlichen Minuten, so gut er konnte. Dennis nahm sich gleich mehrere Anatomiebücher und blätterte entschlossen zu den Stellen, die er sorgsam mit Klebestreifen markiert hatte. Dieter durchschritt mit großen, schlaksigen Schritten die Gänge der Anatomie und murmelte dabei Begriffe vor sich her, die oft nicht den richtigen entsprachen, deren Fehlerhaftigkeit er aber nicht zuletzt deshalb übersah, da er die meisten Bezeichnungen bereits mit falschen Bedeutungen abgespeichert hatte. Peter schließlich dachte an die Flasche Sekt, die er zu Hause im Wohnheim kühl gestellt hatte. Die vorherigen zwei Testate hatte er knapp bestanden, doch heute würde er durchfallen.

Nach etwa einer Stunde öffnete sich die Tür. Einzig Silke kam mit gesenktem Kopf heraus.

Als die vier den Saal betraten, thronte Professor Riester hinter der Leiche, die sie in den letzten Wochen präpariert hatten. Zu seiner Rechten verharrte sein Assistent in einer steifen Haltung.

„Kommen Sie ruhig näher, meine Damen und Herren! Entschuldigung, meine Herren, denn in ihrer Gruppe ist keine einzige Dame, was mir als Anatomen und Menschenkenner eigentlich auf den ersten Blick, prima vista sozusagen, hätte auffallen müssen. Aber sei es drum. Sie sind schließlich hier, um geprüft zu werden, nicht wahr, meine Herren?“

Da keiner der vier hierauf etwas zu erwidern wusste, senkte der Professor den Blick und schaute aus seiner außergewöhnlichen Höhe in den vor ihm liegenden geöffneten Bauch.

„Die Abdominalorgane, also die inneren Organe im Bauch, sind unser heutiges Thema, ein sehr wichtiges Thema, wie ich finde, denn ohne Arme und Beine, über die Sie in den letzten Wochen von mir befragt worden sind, kann der Mensch leidlich und dauerhaft leben, ohne die Funktion des Bauches jedoch keinesfalls, also weder leidlich noch dauerhaft. Darüber hinaus ist der Bauch häufiger Ursprung chirurgischer und internistischer Krankheitsbilder, die nicht selten lebensbedrohlich werden, sollten wir, die Ärzte und Mediziner, sie nicht rechtzeitig erkennen und diagnostizieren. Mein Ziel und Anliegen ist es, dass Ihnen nach unserer gemeinsamen Vorbereitung solche Fehler, die oft sehr folgenreich sein können, nicht mehr widerfahren werden.“

Er richtete seinen langen Zeigefinger auf Dieter, der ganz links stand und augenblicklich zusammenzuckte.

„Zu Beginn würde ich gern von Ihnen erfahren, wie das Organ heißt, auf das ich zeige. Wir beginnen ganz einfach.“

Sein Finger deutete nun in Richtung des rechten geöffneten Oberbauchs und zeigte auf die Leber. Dieters Links–Rechts-Schwäche war in den ersten Testaten nicht auffällig geworden, da Arme und Beine in ihrem Aufbau symmetrisch sind und keinerlei Unterschiede zwischen beiden Seiten aufweisen. Nun aber, im Bauchraum, kam er ins Schwitzen. Er nahm allen Mut zusammen und räusperte sich entschieden.

„Ey, das ist eindeutig, das ist die Milz.“

Noch ehe der Unterkiefer von Professor Riester heruntergeklappt war und der vormalig ruhige Assistent sich wieder beruhigt hatte, sprang Dennis dazwischen. Er hatte Dieters Unglück erwartet und sich bereits die richtige Antwort zurechtgelegt.

„Es tut mir leid, aber ich möchte meinen Kollegen an dieser Stelle verbessern. Es handelt sich keineswegs um die Milz, die sitzt genau hier, sondern um die Leber. Nur bei dem äußerst seltenen Krankheitsbild des Situs inversus, also der Umkehrung sämtlicher Bauch- und Brustorgane, welche nur in Verbindung mit einer Erweiterung der Bronchien und sich wiederholenden Entzündungen der Nasennebenhöhlen auftreten würde, kommt es vor, dass, wie von meinem Kollegen beschrieben, die Leber links und die Milz auf der rechten Seite anzutreffen ist.“

„Sie haben ganz recht“, antwortete Professor Riester. „Zeigen Sie, ich meine Sie, zu meiner Rechten, zeigen Sie mir nach all der Aufregung doch bitte Milz und Leber. Ich bitte Sie, nichts zu überstürzen.“

Dieter war durch Dennis’ Einmischung dermaßen in Verwirrung geraten, dass er weder ein noch aus wusste. Unschlüssig wechselte er hin und her zwischen links und rechts, ohne ein vernünftiges Wort herauszubekommen.

„Nun, besonders für einen Chirurgen, aber auch für jeden anderen Arzt, ist es sehr wichtig, dass er links von rechts unterscheiden kann, allein schon deshalb, um sicher zur Arbeit zu kommen. Kleiner Scherz, nicht wahr? Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie unternehmen am heutigen Tag nichts Aufregendes mehr, Sie fahren kein Auto, machen keinen Sport, der als gefährlich gilt und so weiter und so fort. Sie unterlassen alle Dinge, bei denen etwas Schlimmes passieren könnte, und das sind mehr, als man denkt. Am besten also, Sie unternehmen heute überhaupt nichts mehr. Und wir sehen uns in vierzehn Tagen wieder, natürlich nur, wenn Sie sich vollständig erholt haben.“

Dies war nichts anderes als die Mitteilung, nicht bestanden zu haben, wenn auch in der für Professor Riester so typisch umständlichen und weitausholenden Art und Weise. Doch Dieter wollte retten, wo schon nichts mehr zu retten war. Er beendete seine Überlegungen und zeigte erneut Milz und Leber in der falschen Reihenfolge, bis er merkte, dass ihm niemand zuhörte. Mit hängendem Kopf verließ er den Saal.

Die Prüfung von Martin über die Blut- und Gefäßversorgung des Magens und des Dünndarms verlief ohne Probleme.

Dennis hatte durch seine Antwort, die er ungefragt in die Runde geworfen hatte, bereits Pluspunkte gesammelt. Doch die Nervenversorgung des Magens konnte er nicht erklären. Prompt setzte er ein Lächeln auf sein verhärmtes Gesicht und stellte Professor Riester eine Frage, die er sich eigens hierfür zurechtgelegt hatte.

Ohne Zögern, dafür aber mit umso längeren Worten, nahm sich der Professor dieser Frage an und beschritt derart weite und geschlungene Wege, dass er sich gegen Ende seiner Ausführungen weder an die Frage, die Dennis an ihn gerichtet, noch an diejenige, die er seinem Prüfling gestellt hatte, die dieser aber nicht zu beantworten vermocht hatte, erinnern konnte. So blieb diese eine Frage ohne Antwort, während Dennis, als seine Zeit abgelaufen war, sein Testat bestand.

Als letzter kam Peter an die Reihe.

„Was versteht man unter dem Cannon-Böhmschen-Punkt?“, wollte Professor Riester wissen.

Peter zuckte zusammen. Er kannte die Lösung. Martin hatte ihm diese Geschichte erklärt und so sagte er, was er behalten hatte.

„Sehr gut. Können Sie mir am Leichnam zeigen, wo sich dieser Punkt in etwa befinden muss?“

Mist, auch das wusste er. So langsam wurde es ihm zu bunt. Früher oder später musste er falsch antworten, ansonsten würde er diese verdammte Prüfung bestehen und könnte fürs Erste die Sache mit dem Sekt vergessen.

„Ich habe keine Ahnung.“

„Sie kennen den Cannon-Böhmschen-Punkt, können mir sehr schön darlegen, was genau da geschieht, doch sehen sich nicht in der Lage, mir zu zeigen, wo er liegt? Erstaunlich, erstaunlich.“

„Ich würd’s Ihnen sagen, wenn ich’s wüsste.“

Professor Riester schüttelte den Kopf. Er schien zu überlegen, ob er es bei der ersten richtigen Antwort belassen konnte oder noch weiter in die Tiefe gehen sollte. Schließlich verließ er aus Kulanz das Thema und stürzte sich in andere, noch ungeprüfte Bereiche des menschlichen Bauches. Er befragte die möglichen Lagen des Wurmfortsatzes (Appendix), der vom Volksmund fälschlicherweise Blinddarm genannt werde, was aber wiederum dem Caecum entspreche, und wollte die Längenaufteilung des Dünndarms in Duodenum, Jejunum und Ileum wissen.

Dies alles konnte Peter nicht beantworten. Nach einer Stunde war alles vorbei. In leisen Worten sagte Professor Riester, dass sich Peter, zusammen mit dem heute derangierten Kollegen und dem hübschen Mädchen aus der ersten Prüfung in vierzehn Tagen wieder bei ihm einfinden solle. Sicher habe er in zwei Wochen mehr Glück und könne die guten Ansätze, die zweifellos vorhanden waren, in ein verspätetes Bestehen ummünzen.

Peter wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

5

„Dieser bekloppte Punkt. Wie hieß er noch?“

„Cannon-Böhmscher-Punkt.“

„Ah ja, stimmt. Schon wieder vergessen“, sagte Peter und lachte. Es war der letzte Abend vor dem entscheidenden Testat.

„Das ist nicht dein Ernst.“ Entgeistert schüttelte Martin den lockigen Kopf. „In der Prüfung hast Du wenigstens den noch gekannt.“

„Aber nur, weil Du mich damit genervt hast.“

„Wenn Du willst, können wir alles noch einmal durchgehen. Dann schaffst Du das morgen.“

„Hab keine Zeit“, erwiderte Peter und zündete sich eine Zigarette an. Blöd, dass er mit dem Rauchen begonnen hatte, aber man sah nicht nur cooler aus, man fühlte sich auch so. „Wundert mich, dass Du nichts von der Party gehört hast, heute Abend.“

„Versuch´s zur Abwechslung doch mal mit Lernen.“

„Bloß nicht“, meinte Peter und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette.

„Sag mal, Peter, was ich Dich fragen wollte.“

„Nur raus mit der Sprache.“

„Warum hast Du eigentlich diesen Blödmann angesprochen?“

„Welchen Blödmann?“

„Na, wen wohl. Dennis.“

„Wieso? Magst Du ihn nicht?“

„Ich frage mich wirklich, was Du an ihm gefunden hast. Ihr seid doch total unterschiedlich.“

Mit geschlossenen Augen zog Peter langsam an seinem Glimmstängel und blies einige Rauchwolken in die Luft. „Bereit für die Wahrheit?“

„Aber ja doch.“

„Okay, ich hätte es Dir früher sagen sollen. Dennis ist auf mich zugekommen. Aber das sollte niemand wissen. Mir war eigentlich wurscht, wer da wen angesprochen hat, also habe ich für ihn, na ja, gelogen.“

„Großartig. Wirklich großartig.“

„Bist du mir böse?“

„Ich hoffe, Du warst stockbesoffen. Ansonsten, ja.“

Peter drückte seine Zigarette auf einem Unterteller aus, auf dem noch ein benutzter Teebeutel lag. Dann stand er auf. „Tut mir leid, okay?“

„Nein, aber ich drück Dir trotzdem die Daumen für morgen.“

„Mach dir keine Mühe. Wird schon schiefgehen. Fährst Du mit?“

„Wohin?“

„Na, zur Party.“

„Ich weiß nicht.“

„Komm schon, heute ist Keller.“

„Welcher Keller?“

„Na, hör mal. Wer den nicht kennt, hat in Homburg nicht studiert. Ganz klar, Du bist dabei.“

„Ich muss noch…“

„Vergiss es, keine Ausreden. Wenn einer morgen Prüfung hat, dann doch wohl ich, oder?“

Beherzt zog Peter seinen Freund zur Tür, während sich Martin gerade noch Jacke und Schlüssel schnappen konnte.

6

Der Keller war etwas Besonderes im Nachtleben Homburgs. Mehr noch, der Keller war der Taktgeber im Treiben der Studenten und so sprach man von der Zeit vor und nach dem Keller, als wäre er ähnlich bedeutsam wie Karneval oder Weihnachten.

Vor dem Keller zählte man den Montag und die hellen Stunden des Dienstags. Nach dem Keller waren der Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Wochenenden spielten keine Rolle, da die meisten Studenten von außerhalb kamen und an freien Tagen in die Heimat fuhren.

Der Wendepunkt der Zeitrechnung, der Keller selbst also, lag in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. In einem dunklen Kellerraum unter dem letzten von drei Wohnheimen fand er statt. Auch wenn es keine offiziellen Zeiten gab, die seinen Auftakt bestimmt hätten, so wussten die Informierten, dass der Keller um halb zwölf begann.

Sein Ende aber war offen. Nicht selten wurde derart ausgiebig gefeiert, dass die ersten Lichtstrahlen des Mittwochs zu sehen gewesen wären (hätte es im Keller Fenster gegeben), als die letzten alkoholgeschwängerten Gestalten den Raum verließen. Es waren Fälle von Studenten bekannt – und ihre Geschichten wurden gern erzählt –, die sich direkt vom Feiern in die Hörsäle schleppten und schnarchend und mit stechender Fahne das Lernen behinderten. Manch einer mochte sogar über dem Mikroskop eingeschlafen sein, was böse Blutergüsse im Bereich beider Augen nach sich ziehen konnte. Unbestrittene Tatsache war, dass sämtliche Vorlesungen am Mittwochmorgen weit unter Durchschnitt besucht waren, mochte der Dozent so gut und beliebt sein, wie er wollte.

Betrat man den dunklen Kellerraum, stand links eine Theke, hinter der in verschiedenen Schichten je drei Studenten Getränke verkauften. Rechter Hand war eine Sitzecke mit Bänken und zwei großen Tischen. Weiter einwärts kam eine rechteckige Tanzfläche, am Ende dann ein Podest, auf dessen linke Seite man sich setzen konnte, während daneben ein DJ für die Musik sorgte. Fast der ganze Keller steckte in einer ahnungsvollen Dämmerung. Nur die Tanzfläche war mit zuckendem Licht beleuchtet.

So war der Keller ein viel zu kleiner Raum, gefüllt mit viel zu vielen Leuten, beschallt von zu lauter Musik, erfüllt mit stickiger, schweißgetränkter Luft und ausgestattet mit einer schlechten Beleuchtung.

Trotzdem kamen jeden Dienstagabend viel mehr Studenten, als es den Räumlichkeiten gut getan hätte und den friedlichen, ruhebedürftigen Nachbarn lieb gewesen wäre.

Schon seit Jahren kursierten die Gerüchte, dass die Veranstaltung eines Tages geschlossen werden solle, da sie bestimmte Vorschriften des Brandschutzes nicht erfülle, aber bisher war dieses Vorhaben nicht umgesetzt worden, vielleicht, weil man ahnte, dass sie viel zu beliebt war, als dass man dieses Wagnis hätte eingehen wollen.

So hielt sich der Keller mit beeindruckender Zähigkeit und ging im Semester jeden Dienstag über die Bühne.

Mit dem Fahrrad fuhren Peter und Martin durch die klirrende Kälte. Alle Parkplätze vor den Wohnheimen und in der Stichstraße, die sie verband, waren belegt. Einige Autofahrer, die versucht hatten, einen günstigen Parkplatz zu ergattern, kehrten frustriert wieder um.

Von allen Seiten strömten Studenten herbei. Paare, eng umschlungen in der kalten Nacht, einzelne Personen, die sich mit gesenktem Kopf zur Feier schleppten. Viele erschienen in Gruppen, liefen zu fünft oder sechst kichernd nebeneinander und blockierten die enge Stichstraße, sehr zum Ärger der Autofahrer, die bei der Parkplatzsuche leer ausgegangen waren. Einige Studentinnen hatten sich trotz der Minusgrade nur knapp angezogen und rannten kreischend und mit übereinandergeschlagenen Armen zum Keller.

Mit den anderen Besuchern drängelten sich Peter und Martin ins warme Wohnheim. Über eine Treppe kamen sie in einen schmalen Gang.

Mit vor dem Bauch gespitzten Händen, als machte er einen Kopfsprung, tauchte Peter in den Keller ein. Er und Martin schoben sich für einige Zeit durch das dichte Gedränge, bis Peter Getränke kaufen wollte. Martin bestellte ein Bier. Sein Freund kämpfte sich Richtung Theke und war schon bald in der Menge verschwunden.

Martin blickte sich um. Zunächst sah er Silke. Dann blieb er an einem Frauengesicht hängen, das ihm vertraut vorkam. Er wusste nicht, wo er dieser Studentin, denn das musste sie wohl sein, schon einmal begegnet war. Hatte er sie in einem Kurs getroffen oder stammte sie aus seiner ferneren Vergangenheit?

Fast meinte er, so etwas wie Seelenverwandtschaft zu spüren, als er sie sah, auch wenn sie kein Wort gewechselt hatten, mehrere Meter im dunklen Keller getrennt waren und einige Dutzend Leute zwischen ihnen standen. Unterbrochen nur vom Wimpernschlag, schaute er sie an. Er kam sich beklommen vor, als dringe er unerlaubt in ihr Inneres vor. Die Studentin stand am hinteren Ende des Kellers und unterhielt sich ausgelassen mit einem jungen Mann, der ihr lachend zuhörte.

Martin hatte das Gefühl, dass er unwürdig war, ihr, die gut aussah und sich anscheinend vorzüglich unterhielt, zuzuschauen. Was war er anderes als ein Spanner, der sich niemals in ihre Nähe wagen würde?

Er riss seinen Blick los, um festzustellen, ob anderen aufgefallen war, dass er sie angestarrt hatte. Doch offensichtlich hatte niemand etwas gemerkt, man war wie vorher in Gespräche vertieft.

Plötzlich drehte die Studentin ihren Kopf und blickte in seine Richtung. Sie musste ihn gesehen haben, mehr noch, sie musste gemerkt haben, dass er sie anschaute, auch wenn er noch versucht hatte, rechtzeitig seine Augen so abzuwenden, als stiere er nur verträumt in die Ferne. Das war ihm jedoch nicht gelungen, und sie beide hatten für einen kurzen Moment Blickkontakt gehabt. Nun musste ihr klar geworden sein, dass er sie beobachtet hatte.

Es klopfte auf seiner Schulter. Peter war mit zwei gefüllten Weizenbiergläsern zurückgekehrt und reichte ihm eines davon. Verzweifelt schüttelte er seinen blonden Kopf und ärgerte sich über das lange Anstehen.

„Langweilig?“, fragte Peter.

„Es ging“, erwiderte Martin. Er versuchte ein gequältes Lächeln aufzusetzen, als sage er dies nur aus Höflichkeit. Niemand sollte erfahren, welche Entdeckung er soeben gemacht hatte.

„Häh!?“ Peter machte ein verständnisloses Gesicht. „Was hast du gesagt?“

„Es ging!“, schrie Martin seinem Freund entgegen.

„Bekannte gesehen?“

„Was?“

„Sind Bekannte hier?“

„Silke ist hier“, meinte Martin und deutete mit seiner Hand auf die Tanzfläche. Sollte er nach der Studentin fragen, mit der er Blickkontakt gehabt hatte? Peter kannte eine Menge Leute und wusste vielleicht, wie sie hieß. Schließlich nahm er allen Mut zusammen. Er versuchte, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen und beiläufig zu sprechen, was schwer war, da er wegen der Musik laut reden musste, doch er war ein miserabler Schauspieler. Es kam ihm vor, als läge seine wahre Absicht Peter offen zutage. „Kennst du das Mädchen dahinten?“

Peter schaute ungefähr in die Richtung, in die Martins Hand deutete. „Häh!?“

„Kennst du das Mädchen?“, brüllte Martin fast. Es war ihm unangenehm, diese Worte, die er gerne für sich behalten hätte, herauszuschreien. Am liebsten wäre er in der Erde versunken, auch wenn ihn außer Peter wohl kaum jemand verstanden hatte.

„Die hab ich noch nie gesehen“, antwortete Peter und schien nicht besonders unglücklich darüber. „Lass uns auf Deine erste Nacht im Keller anstoßen.“

Er hob sein Glas und prostete seinem Freund entgegen.

„Du meinst doch die Blonde da?“

„Nein, nein, die mit den dunklen Haaren. Neben ihr.“

„Ah, die, drittes Semester. Kann sein, dass sie Petra heißt.“

Petra! Ab sofort geisterte dieser Name durch Martins Kopf. Er gefiel ihm gut. Vorsichtig warf er ihr einen weiteren Blick zu. Sie war wieder in ihre Unterhaltung vertieft. Der junge Mann hatte seit einiger Zeit das Reden übernommen und erzählte mit großen Gesten, die Martin auf die Nerven gingen, eine Geschichte, die ihm endlos vorkam. Trotz des Lärms der Musik schien er sich verständlich machen zu können, denn ab und an schaute die Studentin auf und lachte ihn an, woraufhin der Begleiter sich bestätigt fühlte und mit noch größerer Begeisterung fortfuhr. Warum interessierte sie dieser Quatsch?

Wer war der andere Typ? Ihr Freund? Wahrscheinlich nicht, da die beiden viel zu sehr von ihren Geschichten beeindruckt waren. Dachte sie noch an ihn? Ganz offensichtlich war er aus ihren Gedanken verschwunden, denn nur selten schweifte ihr Blick in die Weiten des Kellers und machte sich irgendwo fest, nur leider nicht mehr bei ihm.

Kurz darauf war Petra oder wie auch immer sie hieß verschwunden.

Ihr Nachbar wandte sich der Blondine zu und erzählte ihr wahrscheinlich die gleichen schlechten Geschichten, die er der schönen Studentin bereits erzählt hatte, und von denen er mehr denn je überzeugt zu sein schien, dass sie schrecklich unterhaltsam waren.

So eifrig sich Martin auch umschaute, Petra tauchte nicht mehr auf. Sie musste sich irgendwo in den Menschenmassen an ihm vorbeigeschlängelt haben, denn der einzig mögliche Weg vom Podest hin zur Tür des Kellers verlief zwangsläufig dort, wo Peter und er selbst jetzt standen. Es ärgerte ihn, dass er sie aus den Augen gelassen hatte und die Chance verpasst hatte, ihr für einen kurzen Moment ganz nah zu sein.

„Ich gehe tanzen“, sagte er schließlich zu Peter, als der Keller sich bereits deutlich geleert hatte und klar war, dass er die schöne Studentin in dieser Nacht nicht mehr sehen würde. Irgendwie musste er die Energie, die sich in ihm aufgeladen hatte, loswerden.

„Häh!?“

„Ich gehe tanzen.“

„Mach das nur“, meinte Peter und blickte in sein leeres Weizenbierglas. „Ich bin an der Theke.“

Es dauerte nicht lange, bis Martin vollständig in der Musik verschwunden war. Erst gegen vier Uhr morgens kam er wieder zu sich. Als er seinen Freund suchte, ihn aber nicht fand, fiel ihm auf, dass er zum ersten Mal länger auf einer Feier gewesen war als Peter.

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