Kitabı oku: «Lenin dada»

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Über dieses Buch

Waren Lenin und seine Freunde das «Balalaika-Orchester», das am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire «entzückende russische Volkslieder und Tänze» gespielt hatte? Sass Lenin im Publikum und rief da! da! (ja! ja!)?

Dominique Noguez geht genau dieser Frage nach und zeigt, dass Lenin schon ein Dadaist war, bevor Dada da war, dass er an den Soireen im Cabaret Voltaire teilnahm und gar ein dadaistisches Gedicht verfasste. Doch damit nicht genug: «Es ist vor allem in der Politik, wo Lenin dada ist.» Und so landet das sinnfreie und absurde Treiben der Dadaisten plötzlich in der Realpolitik. Die Tatsache, dass zwei der wichtigsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts in unmittelbarer Nachbarschaft ihren Anfang nahmen, war also alles andere als ein Zufall und Lenins Revolution ein grosses dadaistisches Unterfangen in den Fussstapfen von Père Ubu.


Dominique Noguez, geboren 1942, studierte Philosophie und war Dozent an der Sorbonne Paris für Film- und Literatur-Ästhetik. Er schrieb zahlreiche Arbeiten über Experimental- und Avantgarde-Filme, Essays, Romane und wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix Femina. 2012 wurde er mit den höchsten Ehren des Collège de Pataphysique – der Ernennung zum Satrapen – ausgezeichnet.


Jan Morgenthaler, geboren 1956 in Zürich. Studium der Medizin an der Universität Zürich, seit 1980 publizistische Tätigkeit sowie Arbeiten als Autor / Kurator im Bereich Theater, Film, Bildende Künste in Zürich und in Esfahan / Iran. Projekte u. a. «Transit 1999, Reisende Denkmäler – ein flüchtiger Sommer in Zürich» oder «Swiss Transit Esfahan – visual» (als Initiant und Organisator einer Ausstellung mit 10 Künstler/innen im Museum für zeitgenössische Kunst in Esfahan / Iran), zuletzt «Zürich Transit Maritim».

Dominique Noguez

Lenin Dada

Essay

Herausgegeben und – in Zusammenarbeit mit Patrick Straumann – aus dem Französischen übersetzt von Jan Morgenthaler

Limmat Verlag

Zürich

Zum Geleit

Dada hat eine kleine Nase nach russischem Aussehen.

Francis Picabia1

Dadaist sein kann unter Umständen heissen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein.

Richard Huelsenbeck2

Ja, gewisse Reflexionen Lenins haben tatsächlich alle Züge dessen, was man «Pluralismus» (…) genannt hat.

Louis Althusser3

Lenin (…) dachte in anderen Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere.

Bertolt Brecht4

I
Eine brisante Offenbarung

Die aussergewöhnliche Tatsache, dass Lenin und die ersten Dadaisten 1916 in Zürich während mehrerer Monate wie zufällig nebeneinander lebten und wirkten, ist lange Zeit ganz und gar unbeachtet geblieben. Vonseiten Lenins oder seiner Nächsten kein Wort. Nichts in der publizierten Korrespondenz.5 Seine Lebensgefährtin Nadeschda Krupskaja, die in ihren Erinnerungen an Lenin nicht mit präzisen Einzelheiten ihres Wohnortes an der Spiegelgasse und ihrer Umgebung geizt, scheint überhaupt nicht zu wissen, dass in ebendieser «kleinen engen Gasse»,6 nur wenige Meter entfernt, das Cabaret Voltaire untergebracht war. Nichts auch bei den wichtigsten Biografen.7 Wir müssen auf die Studie des Historikers Willi Gautschi (Lenin als Emigrant in der Schweiz) und die romanhafte Rekonstruktion von Alexander Solschenizyn (Lenin in Zürich) warten, um – mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ereignis – auch nur die schlichte Erwähnung des Cabarets im Zusammenhang mit dem berühmten Mann zu finden:

Etwas weiter entfernt, an der Münstergasse, liegt die «Meierei», wo sich das Cabaret Voltaire befand, in dem Anfang Februar 1916 der Dadaismus seine Geburtsstunde erlebte.8

– und überdies, im zweiten Fall, ohne Dada überhaupt zu erwähnen:

Auf eben dieser Strasse begleitet Willi [Münzenberg] seinen Lehrer [Lenin] in die Richtung, wo das Cabaret «Voltaire» ist, in dem die jungen Bohemiens ihre Nächte durch toben …9


Abb. 1: Münstergasse in Zürich. Rechts die Spiegelgasse mit Eckhaus Nr. 1, wo das Cabaret Voltaire eröffnet wurde (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich.

Die Dadaisten sind kaum gesprächiger. Im Tagebuch von Hugo Ball, publiziert 1927, finden wir die früheste Erwähnung dieser Nachbarschaft, allerdings als Eintrag vom 7. Juni 1917, das heisst erst mehrere Monate nach der Abreise Lenins. Der Eintrag liest sich weniger als direktes Zeugnis denn als eine nachträgliche Entdeckung:

Mogadino, 7. VI. [1917]

Seltsame Begebnisse: während wir in Zürich, Spiegelgasse 1, das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse, Nr. 6, wenn ich nicht irre,* Herr Ulianow-Lenin. Er musste jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiss nicht, ob mit Lust und Gewinn. Und während wir in der Bahnhofstrasse die Galerie eröffneten, reisten die Russen nach Petersburg, um die Revolution auf die Beine zu stellen.10

* Er irrt sich: Es war die Nr. 14 (siehe folgende die zwei Anmerkungen).


Spiegelgasse Nr. 14, in welchem Lenin wohnte, was auch durch die Schrifttafel zwischen erstem und zweitem Stockwerk angezeigt wird (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv Zürich).

Ebenso einfach stellt das Georges Hugnet und später Hans Richter fest. Georges Hugnet, der kein direkter Zeuge war, ist auch der entschiedenste in seinem Urteil:

Das Cabaret befand sich an der Spiegelgasse 1. Lenin wohnte zusammen mit seiner Frau Krupskaja im Haus Nr. 12 derselben Strasse.* Lenin pflegte im Café Terrasse Schach zu spielen, einige Dadaisten ebenfalls. Sie ignorierten sich aufs herzlichste.11

* Auch er irrte sich (siehe folgende Anmerkung).

Lesen wir aber bei Richter nach, so ist dies dennoch ganz ungewiss. Wenn auch er, der Maler, sich in der Adresse von Lenin irrt, so war er damals immerhin in Zürich und hat ihn gesehen:

Das Cabaret Voltaire spielte und radaute in der Spiegelgasse Nr. 1. Schräg gegenüber, in der Spiegelgasse Nr. 12, in demselben Engpasse also, in dem das Kabarett nächtlich seine Gesangs-, Gedichts- und Tanzorgien aufführte wohnte Lenin.* – Radek, Lenin, Sinowjew durften frei herumlaufen. Ich habe Lenin in der Bibliothek mehrmals gesehen und ihn auch einmal in Bern in einer Versammlung sprechen hören. Er sprach gut Deutsch.12

* Tatsächlich wohnte Lenin im Haus Nr. 14. In einem Brief (Brief Nr. 257, Werke Bd. 37) gibt Lenin als Adresse zwar die Spiegelgasse 12 an, doch sehr bald korrigiert er sich: Spiegelgasse 14II (Briefe Nr. 259, 260, 261), später kurz und bündig: Spiegelgasse 14 (Briefe Nr. 262, 263 in Bd. 37). In seinem Lenin als Emigrant in der Schweiz, Tafel XXVIII, zeigt auch Willi Gautschi die Fassade des Hauses «Spiegelgasse 14». Jedenfalls können Neugierige diese Tatsache heute noch verifizieren anhand der Schrifttafel, die die Zürcher Behörden unter dem Fenster des von Lenin und Krupskaja bewohnten Zimmers angebracht haben.

Gewiss, Hans Richter gelangte wahrscheinlich frühestens Ende Juni 1916 in die Schweiz und kam nach eigener Aussage13 erst am 15. September 1916 in Kontakt mit dem, was sich bereits «Dada» nannte. Halten wir aber noch einmal fest, dass Richter in diesem Augenzeugenbericht zugibt, Lenin gekannt und gehört zu haben, und sei es nur von weitem.

Richard Huelsenbeck, der am 26. Februar zum Cabaret Voltaire stösst,* gibt uns 1972 eine kostbare Information, wenn auch in zweifelhafter Form:

* Dies bestätigen sowohl Hugo Ball bereits am 15. Mai 1916 im Vorwort zur Sammlung Cabaret Voltaire (faksimiliert in: Hans Richter, Dada – Kunst und Anti-Kunst, a. a. O., S. 13) als auch Tristan Tzara in seiner «Chronique zurichoise 1915–1919» im Dada Almanach (a. a. O., S. 11). Es wurden jedoch noch zwei weitere Ankunftsdaten vorgeschlagen. Nämlich der 11. Februar 1916, ebenfalls von Ball, aber diesmal in seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit (a. a. O., S. 72), das erst elf Jahre später publiziert wurde («Huelsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, dass man den Rhythmus verstärkt …»). Unter «Huelsenbeck» taucht im «Personenregister» am Ende des Bandes Briefe (1911–1927) von Hugo Ball sogar das Datum des 8. Februar auf; möglicherweise verdanken wir dies Annemarie Schütt-Hennings (Einsiedeln, Zürich, Köln, Benziger Verlag, 1957, S. 310): «Kam auf Aufforderung von Hugo Ball am 8. Februar 1916 nach Zürich, kurz nach der Gründung des ‹Cabaret’s [sic] Voltaire› …»

Von Lenin hörten wir sehr wenig – sie sagten, er sei einmal ins Cabaret gekommen –, ich sah ihn nie. Ich weiss nicht einmal, wie er aussieht.14

Diese Information wird vom Kunstkritiker Hans J. Kleinschmidt bestätigt. In seinem Vorwort zu Huelsenbecks Memoirs of a Dada Drummer entschlüpft ihm jedoch noch eine andere Information, deren Bedeutung uns schon bald im umfassenden Sinn klar werden wird:

Arp, Ball und Huelsenbeck sind Lenin nie begegnet, wohingegen Tzara später gegenüber Freunden in Paris erzählte, er habe mit ihm «Ideen ausgetauscht» …15

Der Schweizer Historiker Sergius Golowin unterstreicht 1966 also durchaus zu Recht die Tatsache, dass sich «zumindest rein geografisch» der Dadaismus und der Bolschewismus «berührten».16 Aber es kommt noch besser. Es gibt ein anderes Zeugnis, wie jenes von Richter aus erster Hand, doch darüber hinaus von jemandem, der vor Richter, ja selbst noch vor Huelsenbeck, nämlich seit dem 5. Februar 1916, dem Tag der Eröffnung, im Cabaret Voltaire anwesend war: Es ist jenes des rumänischen Malers Marcel Janco. Wir wundern uns nur, dass es unbemerkt geblieben sein soll, verloren in einem 1957 publizierten Gemeinschaftswerk, und dass noch niemand die ausserordentliche Information, die es in seinem zehnten Paragrafen birgt, enthüllt hat:

[Das Cabaret Voltaire] war der Treffpunkt der Künste. Hier trafen sich Maler, Studenten, Revolutionäre, Touristen, internationale Betrüger, Psychiater, die Halbwelt, Bildhauer und nette Spione auf der Suche nach Informationen. Im dichten Rauch, inmitten von Rezitationen oder Volksliedern erschien plötzlich das eindrucksvolle mongolische Gesicht Lenins, umgeben von seiner Gruppe, oder Laban, der grosse Tänzer mit dem assyrischen Bart.17

Lenin, und umgeben von einer Gruppe! Welch wundervolle Offenbarung mit unabsehbaren Folgen! Also begnügt sich der zukünftige Führer der sowjetischen Revolution nicht damit, Nachbar des Cabaret Voltaire zu sein, er betritt es! Auch gibt er sich nicht damit zufrieden, zu Hause die undeutlichen Geräusche der DadaSoireen zu hören: Es zieht ihn hinein! Mehr noch – und es sei uns die starke Wirkung einer solchen Feststellung verziehen –, er macht mit! Dies wenigstens ist die Schlussfolgerung, die, wie auch wir, alle Gutgläubigen zwingend ziehen müssen, sofern sie bereit sind, das Bündel Tatsachen, das wir im Folgenden zur Sprache bringen werden, mit Geduld und Sachlichkeit zu prüfen.

II
Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret

Eine Bemerkung zunächst: Was Janco wie beiläufig offenbart hat, dürfte diejenigen, die mit der Lebensgeschichte Lenins vertraut sind, nicht überraschen. Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret hat ihren Ursprung nicht erst im Jahr 1916. Die durchaus verständliche Verschwiegenheit von Historikern oder Zeugen desselben politischen Lagers, wie auch jene des Betroffenen selbst in seiner Korrespondenz, konnte nicht verhindern, dass einige präzise Hinweise durchgesickert sind. Krupskaja verrät uns schon viel, wenn wir sie nur richtig zu lesen wissen. Die 1901 bis 1902 in München verbrachte Zeit etwa blieb dem revolutionären Paar, wie sie schreibt, «stets in angenehmer Erinnerung». Schamhaft versucht sie, «die harmlose Fröhlichkeit zu erklären, mit der wir uns auf dem Karneval amüsierten, und jene übermütige Laune, die allerseits (…) herrschte».18 Ein wenig später, in London, treibt sein Gefallen an der Arbeiterklasse Wladimir Iljitsch gar so weit, sich überall dorthin zu begeben, «wo er die Massen traf: ins Freie, (…) in die Trinkhallen …».19 Zudem verrät sie uns an anderer Stelle, dass Lenin den Gesang liebt:

In Paris begeisterten wir uns, wie ich mich erinnere, eine Zeit lang für das französische revolutionäre Chanson. Wladimir Iljitsch schloss Bekanntschaft mit Montéhus, einem ausserordentlich talentierten Verfasser und Sänger revolutionärer Lieder.20

Das Ehepaar geht an die entlegensten Orte, um den Sänger zu hören. Aline, ein Zeitzeuge, schildert die erste Begegnung:

Nach der Vorstellung von Montéhus verschwand Lenin. Wir suchten ihn im Saal, aber er war nicht mehr da. Wir erfuhren, dass er hinter den Kulissen Bekanntschaft mit dem Chansonnier geschlossen hatte. Im Laufe ihrer Unterhaltung begeisterten sie sich derart füreinander, dass sie, ohne es zu merken, bis vier Uhr morgens blieben.21

Diese «Begeisterung», die uns einen nachtschwärmerischen Lenin offenbart, führte sogar zu einer Einladung: «Montéhus», schreibt Krupskaja, «kam einmal an einer unserer russischen Soireen singen.»22 (Man merke sich den Ausdruck.) Fahren wir fort: In Brüssel fand im Juli / August 1903 der zweite Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands statt. Krupskaja berichtet:

Die Delegierten schlugen im «Goldenen Hahn» ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew [Delegierter der Don-Region] sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied «Nicht in der Kirche sind wir getraut».23

Bei seinem Biografen Jean Jacoby lesen wir, dass sich der berühmte Mann nicht damit begnügte, zuzuhören:

… während der Kongress-Arbeiten isolierte sich die Gruppe von Lenin; abends versammelte man sich in einem Kaffeehaus, wo die lärmende Bande mit ihrem Heisshunger, ihrem Lachen und ihren Gesängen die Stammgäste in Staunen versetzte. Der Russe ist Musiker aus Instinkt; er hat das Bedürfnis, seine Empfindungen lyrisch auszudrücken. Es brauchte sich nur eine Melodie zu erheben, ein Motiv, und sei es kaum hörbar, von weit entfernt, die Diskussionen verstummten, die Gesichter veränderten ihren Ausdruck je nach Laune der Musik. Und so sang man im Chor …24

Ein weniger schönfärberisches, dafür ernsthafteres Bild zeichnet sein Bruder Dmitri, wenn er uns dessen Freude am Singen – allein oder in der Gruppe – bestätigt. Sie kam wahrscheinlich von der Mutter, denn sie «liebte das Klavierspiel sehr. Sie musizierte und sang viele alte Lieder und Romanzen.»25 «In den Jahren 1888 bis 1890», präzisiert Dmitri Uljanow, «sang Wladimir Iljitsch oft mit Olga [seiner Schwester] zum Klavier»; und er fährt fort, Lenins Lieblingslieder – darunter das berühmte Kriegslied von Valentin aus dem Faust von Gounod – aufzuzählen.26 Ebenso berichtet uns Krupskaja, wie sie und Lenin einige Jahre später während des Exils in Sibirien, wo sie ihn wirklich kennenlernt, mit einigen Freunden zusammen heitere Lieder in «Russisch, dann (…) auf Polnisch» anstimmen.27 Und in Paris, so erzählen André Beucler und Grégoire Alexinsky, habe der für Montéhus schwärmende Lenin keine Gelegenheit verpasst, «in den Refrain des Saales einzustimmen».28

Wie hätte dieser in Gesang und herzliches Beisammensein vernarrte Mann sich denn auch um den Genuss von häufigen Cabaret-Besuchen bringen können, zumal in einer Stadt wie Paris, wo solche in Hülle und Fülle vorhanden sind? Jean Fréville hat sich wie viele Historiker oder Geschichtsschreiber, die der Kommunistischen Partei nahestehen, Mühe gegeben, uns in seinem Lénine à Paris davon zu überzeugen, dass Wladimir Iljitsch die literarische und künstlerische Boheme des Montparnasse gemieden hätte und dass bei ihm im Allgemeinen «die Zerstreuungen, wo andere sich zu vergessen suchen», kaum Anklang fanden.29 Ärgerlich ist nur, dass eine Reihe zeitgenössischer Schilderungen genau das Gegenteil belegen. Es sind da zuerst die eingeschobenen Bemerkungen von Lise de K. zu erwähnen, die Lenin von 1905 bis 1914 kannte – und, so scheint es, sehr intim –, Bemerkungen, die von Beucler und Alexinsky gesammelt und kommentiert worden sind. Mit der Zeit, so erfahren wir da, habe Lenin

die Bibliothèque nationale immer seltener besucht und es stattdessen vorgezogen, in Gesellschaft Kamenews, Sinowjews und anderer oder, falls es Pariser waren, mit Rykow und Schuljatikow, dem Säufer der Bande, Bier trinken zu gehen. (…) Er hätte Museen und Konzerte besuchen und in künstlerischen Kreisen verkehren können, aber er bevorzugte Fabriken, Kaffeehäuser und die Vorstädte.30

Vor allem aber gibt es diese «Nacht im Rabelais», von der Franz Toussaint in einem Kapitel seines Lénine inconnu so mitreissend berichtet, aufgrund von Notizen, die er sich, wie er sagt, unmittelbar nach dem Ereignis gemacht hat. Ereignis in der Tat für den Erzähler, der Lenin (er wohnte damals – im Sommer 1911 – in Longjumeau) völlig überraschend in einem Pariser Etablissement begegnet ist:

Lenin im Rabelais, diesem grossen Nachtlokal, dessen Champagner so miserabel ist wie die zwei Orchester! Vabre [der gemeinsame Freund, der den Autor eingeladen hat] hätte mich wahrscheinlich weniger ins Staunen versetzt, wenn er mir mitgeteilt hätte, der Erzbischof von Paris wäre im Tabarin und der Präsident der Republik ginge kommenden Sonntag in Lourdes zum Abendmahl. (…) Lenin, in einer dieser Spelunken, wo Greise, ein Papphut auf dem Kopf, mit Papierschlagen um sich werfen und satten Affen gleich rülpsen! Lenin, betäubt von amerikanischen Trompeten, angeekelt von argentinischen Tangos, angerempelt von Tänzern und umworben von Mädchen!31

Ein Wunsch trieb den zukünftigen Chef der sowjetischen Revolution an diesen so besonderen Ort, er wollte einen Georgier wiedersehen, den er zur Zeit seiner Gefangenschaft in Samara gekannt und der ihm damals Dienste erwiesen hatte. Dank diesem Georgier, den das Schicksal nach Paris verschlagen hatte, wo er als Kellermeister eine Anstellung fand – und heimlich die Etiketten wechselt –, konnten Lenin und seine Freunde «Mumm extra-sec» zum Preis eines gewöhnlichen Fusels trinken. Die drei Gäste entkorken eben ihre vierte Flasche und kommen auf jenen Schriftsteller zu sprechen, dessen Name dem Cabaret als Aushängeschild dient – eine Art Hommage, wie sie Hugo Ball in Zürich, 1916, spontan wiederfinden wird! –, da antwortete Lenin auf die Frage, ob er Rabelais liebt, welch Zufall (oder welch Vorahnung!), mit folgenden Worten:

Ja und nein. Aber eher ja. (…) Er hat Voltaire den Weg bereitet. Rabelais und Voltaire sind eure besten «Jahrgänge»!32

Apropos Wein, hier sei noch geschildert, wie der Abend – immer gemäss den Notizen von Franz Toussaint – zu Ende gegangen ist:

Wir sind um fünf Uhr morgens gegangen. Der Georgier hatte nicht wiederkommen wollen, trotz der Ermahnungen des Oberkellners. Vabre folgerte daraus, dass es eine Geschichte gegeben hatte wegen der Flaschen.33

Lenin im Cabaret! Fréville kann es nicht glauben. In einer Anmerkung seines Buches qualifiziert er das Zeugnis von Toussaint als «absurde Hirngespinste», «Dummheiten» und «Unwahrscheinlichkeiten» ab.34 Wie peinlich für ihn, dass es der Betroffene selber in seinen Briefen bestätigt. Am 2. Januar 1910 etwa schreibt er seiner Schwester Manjascha, die nach Russland zurückgekehrt ist:

Überhaupt haben wir an den Feiertagen «gebummelt» (…). Auch heute habe ich vor, in ein Vergnügungslokal zu gehen, wo «Sänger» (ungeschickte Übersetzung von chansonniers) goguettes révolutionnaires* singen.35

* revolutionäre Liedchen, Couplets (Hervorhebung vom Autor)

Gut, könnte man sagen. Aber es ist nicht das Gleiche, ob einer manchmal ein Cabaret betritt oder ob ihm das auch noch gefällt, er sein Wort an Nachbarn richtet und fröhlich lärmt, das heisst: ob er wirklich teilnimmt! Wohlan denn, darüber besteht kein Zweifel: Lenin hat teilgenommen! Hören wir Lise de K.:

Lenin hatte sich für diese Gelegenheit mit einem hellgrauen Anzug gekleidet, der auf wundersame Weise von sämtlichen Flecken gereinigt worden war, und er trug seinen steifen Hut schief auf dem Kopf, wie es einige Pariser taten, die ich mit ihm in den Cabarets des Boulevard de Clichy und in den Kaffeehäusern der Place de la République gesehen hatte.36

Dann der Genosse Aline (es handelt sich um einen Abend am Neujahrstag im Keller eines Kaffeehauses nahe der Porte d’Orléans):

Alle amüsierten sich. Wir sangen. Lenin sang aus vollem Herzen mit, als wir «Stienka Rasin» anstimmten. Er versuchte, den Bariton zu intonieren, aber es gelang ihm nicht, und so fuhr er fort, so gut er konnte, und schlenkerte dabei verzweifelt mit den Armen. Gegen vier Uhr spazierten wir angeheitert auf dem verlassenen Boulevard. Die Frau von N. A. Semaschko und Ilja Safir (Moissejew) begannen einen russischen Tanz. Aber Polizisten auf Fahrrädern verlangten höflich, dem Lärm ein Ende zu bereiten.37

Offensichtlich sind Frau Semaschko und Moissejew nicht die einzigen, die liebend gerne tanzen. Krupskaja zum Beispiel erzählt, dass sich Wladimir Iljitsch und sie im Sommer 1916 während sechs Wochen in den Flumserbergen im Erholungsheim Tschudiwiese, unweit von Zürich, aufgehalten haben: «Abends spielte der Sohn der Wirtin auf seiner Harmonika, und die Gäste traten zum Tanz an …»38 Und wie schaffte es Lenin, gut zu tanzen? So wie er alles tat: mit einem ungewöhnlichen Eifer. Denn wenn er ruhigere Zeiten verbrachte, erklärt uns Nicolas Valentinov, der ihn gut kannte,

war dies nur von kurzer, manchmal minimaler Dauer. Der Normalzustand wich einer Leidenschaftlichkeit; dann veränderte Lenin sich psychisch. Dieser neue Zustand zeichnete sich durch Masslosigkeit und ein Element immenser Begeisterung aus, was Krupskaja mit einer «Raserei» verglichen hat. Dieser Persönlichkeitswandel kam im Laufe seines Lebens in Sibirien plötzlich zum Vorschein: Nachdem er sich Schlittschuhe gekauft hatte, begann Lenin von morgens früh bis abends spät auf dem Fluss eiszulaufen und, wie Krupskaja erzählt, «die Bewohner durch seine Riesenschritte und seine spanischen Sprünge in Erstaunen zu setzen».39

Dieses erstaunlich farbige und bewegte Lenin-Bild, ein wenig Don Quichotte und Monsieur Fenouillard, gewinnt in der Tat noch an Glaubwürdigkeit, wenn uns seine Gefährtin selbst beschreibt, wie er in Sibirien jagte:

Wladimir Iljitsch war ein leidenschaftlicher Jäger, er schaffte sich Lederhosen an und stapfte durch alle Sümpfe.40

Für einen Augenblick ist zu unserem grössten Vergnügen dieser Lenin dem Flaubert von Bouvard et Pécuchet und dem Daudet von Tartarin sehr ähnlich.

Zum Schluss legt uns ein anderer Schriftsteller nahe, dass diese kabarettistische Lebenskraft sich noch andere Ventile als den Tanz zu finden wusste. Es ist dies – wer hätte das geglaubt? – der liebenswürdige und fromme Julien Green, der am 5. Februar 1932 in seinem Tagebuch notiert:

Ein Maler erzählt mir von Lenin, den er 1912 im Quartier Latin kennengelernt hat. «Wir teilten unsere Mädchen. Lenin war sehr lustig, sehr gut und, in der Liebe, sehr schamlos.»41


«Ein Element immenser Begeisterung ...» Lenin, rechts, 1908 in Capri, zusammen mit Alexander Bogdanow, links, und Maxim Gorki (Foto: Editions Robert Laffont SA, Paris).

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