Kitabı oku: «Im Stillen klagte ich die Welt an», sayfa 2
Der geheimnisvolle Ausflug
Mama versprach uns – Markus und mir –, man würde im Laufe der Sommerferien eine Reise ins Grüne unternehmen. Wir freuten uns darauf, wunderten uns aber, dass sie diesen Ausflug immer wieder verschob. Auch aus Karl war nichts herauszukriegen.
Dann endlich, am Ende unserer Ferien im August im Jahre 1934, schien ihr der Termin zu passen. Es war ein denkwürdiger Tag, ein Tag, der unserem Leben eine unglaubliche Wende gab.
Mama betrat unser Zimmer und sagte: «Wir machen heute eine Reise ins Oberland. Beeilt euch, zieht die Sonntagskleider an. Wir müssen gleich zur Bahn.»
Schnell machten wir uns reisefertig und standen bald erwartungsvoll bei Mama in der Küche. Karl war auch schon da, er durfte natürlich bei diesem Ausflug nicht fehlen.
Der Zug führte uns über Land, Richtung Süden, den Bergen entgegen. Nach etlichen Stationen wechselten wir auf eine kleinere Bahn, dann wartete schon das Postauto auf uns. In unzähligen Kurven tuckerte das Gefährt einen Hügel empor. Wir durchfuhren einen Tannenwald, bevor das Auto die Kuppe eines langgestreckten Höhenzuges erreichte, von welchem wir eine freie Sicht in Berge und Täler hatten. Noch nie zuvor hatte ich die imposanten Felswände so greifbar nah zu Gesicht bekommen. In gehobener Stimmung verliessen wir das Postauto und bewunderten das Panorama.
Im Osten reichte der Blick bis hin zu den schroffen Wänden des Hohgant. Das Jungfraumassiv liess sich hinter einem bewaldeten Hügelzug leicht erahnen. Der weisse Gipfel des bekannten Berges ragte hinter den dunklen Tannenspitzen empor. Die trotzige Niesenpyramide dominierte am westlichen Horizont.
Diese unbeschwerte Freude sollte aber nicht lange dauern. An der Haltestelle stand eine schwarz gekleidete Frau, die uns ständig beobachtet hatte. Langsam schritt sie auf uns zu und begrüsste Mama und Karl. Das löste in mir ein mulmiges Gefühl aus. Ein Blick auf den Bruder zeigte, dass es ihm ebenso erging.
Nun streckte die Frau auch uns die Hand zum Gruss entgegen. Sie forderte uns alle auf, ihr zu folgen. Ein steiniger Feldweg führte uns abwärts an Blumenwiesen, Kartoffeläckern und Stoppelfeldern vorbei. Die fremde Frau geleitete uns zu einem der verstreut liegenden Bauernhöfe. Bergseits reichte das mächtige Dach bis zum Boden. Den Zugang zum Wohnteil säumten mannshohe Topinamburstauden.
Zögernd betrat ich als Letzte das Bauernhaus. Ich nahm den fremden Geruch einer Bauernküche wahr. Es roch nach Holz, Rauch und Molkerei. Dazu mischte sich der würzig starke Geruch, den die blau-weiss gestreifte Melkerbluse am Haken hinter der Tür ausströmte. Die Bauersfrau führte uns in die gute Stube. Diese hatte einen rohen Boden aus Tannenholz mit erhöhten Astansätzen.
Drinnen herrschte eine gespannte Stille. Ich wünschte, wir würden den Raum so bald wie möglich wieder verlassen. Aber Mama schien keine Eile zu haben. Zögernd stellte sie die schwere Reisetasche, in welcher ich den Imbiss vermutet hatte, neben dem Tisch auf den Boden. Jedermann wartete auf den Gesprächsbeginn des andern.
Endlich unterbrach Mama das Schweigen. Sie wandte sich an Markus und an mich: «Nun, ihr Kinder, hört mal her. – Dies ist jetzt euer neues Zuhause. – Ihr werdet von nun an hier wohnen!»
Ihre Stimme klang seltsam, ihr Tonfall fremd.
Einen Moment lang stockte das Blut in meinen Adern. – Wie konnte Mama so etwas tun! Sie durfte uns doch nicht allein zurücklassen, hier in diesem abgelegenen Hügelland, fern von der Stadt.
Wie versteinert stand ich da und schaute sprachlos meine Mutter an. Ihre Entschiedenheit war unmissverständlich, ich sah es in ihrem Gesicht! Ich begriff, dass künftig nicht mehr meine Mama, sondern diese schwarz gekleidete Frau sich um mich kümmern würde.
Mama und Karl schickten sich an, mit den Bauern ins Gespräch zu kommen. Indessen entspannte ich mich ein wenig. Ängstlich, doch neugierig schaute ich mich im Raum um. Da stand ein Kinderbett neben dem Ofen. Ich wollte wissen, wer denn darin schlafen würde.
«Du, Katharina, wirst darin schlafen», belehrte mich die Bäuerin.
Geschockt von der Antwort und weil sie mich Katharina genannt hatte, war ich der Verzweiflung nahe. Trotzdem deutete ich verschüchtert auf das grosse Bett neben der Tür. Ich wollte wissen, ob vielleicht mein Bruder hier schlafen würde.
«Nein», war die Antwort, «der wird nicht hier wohnen, er kommt zu einem Bauern in der Nachbarschaft.»
Dieser niederschmetternde Bescheid brachte mich aus der Fassung. Ich brach in Tränen aus und wollte wieder nach Hause mitgenommen werden. Damit kam ich aber schlecht an. Mama hielt mir vor: «Jetzt musst nicht noch heulen, da doch sonst alles so glatt gelaufen ist.»
Mamas Antwort traf mich schmerzlich. Ich war doch erst sieben Jahre alt! Aufgebracht riss ich die Türe auf und stürzte ins Freie. Ich wollte fort, weg von diesen Leuten … Aber wohin? Markus lief mir gleich hinterher. Aber niemand folgte uns, um uns zu trösten. Wir wurden mit unserer Angst, der Trauer und der grenzenlosen Enttäuschung allein gelassen. Wir Kinder sollten auch noch voneinander getrennt werden. So nebensächlich wie möglich wurde uns dieser Umstand beigebracht. Vor kaum einer Stunde sagte Mama «ihr», also wir beide sollten nun hier wohnen!
Langsam trippelte ich das Bord hinauf, liess mich auf die Knie und dann auf den Boden fallen. Dann liess ich den Tränen freien Lauf. Markus konnte mich nicht trösten. Er musste selbst mit der neuen Situation fertig werden.
Nach geraumer Zeit versiegten meine Tränen. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Ich fühlte mich in eine neue Welt verpflanzt. Vorsichtig drehte ich mich um und rollte das Bord hinunter – im Sonntagskleid, aber das war nun auch egal.
Unten am Abhang hätte ich beinah ein Huhn überrollt. Flatternd und gackernd lief es davon. Ich erhob mich und strich mir das Kleid glatt. Darauf stieg ich wieder nach oben und rollte gleich noch ein weiteres Mal hinunter.
Da öffnete sich im Bauernhaus die Tür, durch die man gleich in die Küche gelangte. Die Bäuerin stand da und winkte uns herbei. «Ihr dürft die Hühner nicht so erschrecken, sonst legen sie keine Eier mehr», erklärte sie uns. Diese Belehrung ist mir mein Lebtag in Erinnerung geblieben wie alles an jenem ereignisreichen Tag.
Die Bäuerin rief uns ins Haus, die Mutter wolle sich verabschieden.
Mit gemischten Gefühlen betrat ich die Stube, stellte mich vor Mama hin und sagte: «Da du uns nicht mehr zurücknehmen willst, musst eben allein nach Hause gehen!»
Es war ein Notschrei aus meinem aufgewühlten Innern. Das Verhältnis zu meiner Mutter sah ich plötzlich aus einer ganz neuen Perspektive. Wir hatten schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen, dass Mama nicht mehr uns gehörte und wir fühlten, dass wir ihr lästig waren.
Nachdem sie dann noch Markus «abgeliefert» hatten, hakte sich Mama bei Karl ein und flüsterte ihm zu: «Nun haben wirs geschafft, jetzt sind wir frei.» Markus stand zum Lebewohl winken gleich hinter ihnen und musste diese Worte mit anhören.
Bis zur letzten Minute hatte ich gehofft, Mama würde sich erbarmen und uns wieder mit nach Hause nehmen. Als sie aber gegen den Zufahrtsweg geschritten war, schwand jegliche Hoffnung dahin.
Wie angewurzelt blieb ich auf dem steinigen Vorplatz stehen. Im Geiste sah ich mein Zuhause, die Stadt mit den Laubenbogen, den Zytglogge und Papas Gartenhäuschen; ich hörte das singende Tram … Dies alles sollte ich für lange Zeit nicht mehr wiedersehn. Ich durfte nicht mehr an Mamas Hand über die Kornhausbrücke trippeln.
Verbittert und traurig blieb ich im Hof und starrte auf die Topinamburstauden, hinter denen meine Angehörigen verschwunden waren. Ich fühlte mich verlassen; allein unter fremden Leuten auf diesem Bauerngut.
Vom Hause her näherte sich meine neue Betreuerin, Frau Burri. Sie nahm mich an der Hand und sagte: «Komm, wir gehen jetzt auf den Hohbüehl.»
Stumm schritt ich neben der fremden Frau einher. Sie führte mich über einen Graben und auf Waldwegen einer Anhöhe zu. Wir näherten uns einem Haus, von dem vorerst lediglich das mächtige, steile Dach erkennbar war. Dort, wo der Brunnen plätscherte, schlüpften wir unter das Riesendach.
Der Hohbüehl war Frau Burris Elternhof. Dort wurde ich ausführlich begutachtet: «Jawohl, da hast du nun es gäbigs Meetscheli, das kann dir Kommissionen machen oder dir in der Küche zur Hand gehen», meinte die Hohbüehl-Bäuerin zu ihrer Tochter, meiner Betreuerin. Vor dem Kommissionenmachen graute mir schon jetzt. Ich fürchtete die vielen grossen Hofhunde, die einsamen Wege und den dunklen Wald, den wir durchquert hatten.
Die Leute auf dem Hohbüehl mochten mich. Der Hohbüehl war ein grosser, alter Hof. Die Küche sehr geräumig und rabenschwarz, eine typische Rauchküche. Erst konnte ich rein nichts sehen in dieser Dunkelheit, dann musste ich immer die Augen zukneifen, weil mich der Rauch brannte. Als die Vorführ-Visite zu Ende war, mussten wir beinah im Laufschritt zurück auf die Lischenmatte, auf den Bauernhof, der künftig mein neues Zuhause sein sollte.
Dort beschäftigte sich die Bäuerin gleich am Holzherd. Indessen schaute ich mir noch einmal meine neue Schlafstätte an: ein Holzbett mit Sprossenwänden, auf der Vorderseite eine etwas niedrigere, um bequem einsteigen zu können. Dies alles nahm ich durch einen Schleier von Tränen wahr, gegen die ich dauernd ankämpfen musste.
Dicht neben diesem Bett befand sich eine Tür, die in die hintere Stube führte. Überrascht starrte ich in diesen Raum. Dort lagen auf einem Bett alle meine Kleider! Alles war da, auch Winterkleider. Demnach musste ich längere Zeit hier verbringen. Eine Bestätigung mehr, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause zu vergraben.
Mama hatte wirklich alles planmässig vorbereitet. Ohne dass wir etwas ahnten, hatte sie unser Hab und Gut, Puppen und etliches Spielzeug inbegriffen, schon Tage zuvor in diese abgelegene Gegend befördert. Natürlich mit Hilfe ihres Freundes Karl.
Uns fiel bei diesem Zusammenpacken nichts Besonderes auf. Mama hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin den ganzen Hausrat in Kisten verstaut. Sie war im Begriff, in eine neue Wohnung im Sulgenbach-Quartier umzusiedeln. Beiläufig teilte sie uns mit, künftig werde auch Karl in diesem Haushalt leben! Für uns Kinder jedoch hatte das neue Paar offenbar keinen Platz vorgesehen.
Als Angenommene
Nun lebte ich also gezwungenermassen bei diesem Ehepaar auf der Lischenmatte. Kürzlich hatten sie ihren dreijährigen Sohn verloren. An was er starb, habe ich nie herausgefunden.
Der Bauer war eher klein, breitschultrig und hatte einen schleppenden Gang. Dies zeigte sich besonders, wenn er mit dem Melkerkessel über die Bretter der Güllengrube schlarpte. Die Frau war schlank, was ihre schwarze Kleidung noch betonte. Sie hatte ein frisches Gesicht und stets rote Wangen. Ich glaubte, sie hätte sie angemalt, wie etliche Stadtfrauen es taten.
Die beleidigte Bäuerin entgegnete empört: «Was stellst du dir eigentlich vor? Das haben wir doch nicht nötig. Für einen solchen Blödsinn hätten wir ohnehin weder Geld noch Zeit. Wir sehen nicht aus wie gebleichte Leintücher; unsere Farbe ist echt.»
Ich lernte sehr bald, dass Stadt und Land verschiedene «Gesichter» hatten. Ein Städter war unter der Landbevölkerung leicht zu erkennen und galt als Fremdling. Umgekehrt fühlte sich ein Bauer in der Stadt deplatziert.
In dieser Landwirtschaftsgegend hatte die Schule noch nicht begonnen; die Kinder genossen zwölf Wochen Sommerferien. Erstaunlicherweise fand ich auch meinen alten Schulsack in der hinteren Stube.
Wo immer es ging, musste ich bei der Arbeit mithelfen. So etwa Kleeblümchen abzupfen, die bestimmt waren für den Samen im folgenden Jahr, Hühner füttern, Holz herbeitragen, Geschirr trocknen und abends den Hühnerstall schliessen. Die Arbeit, die ich nicht mochte und mir Mühe machte, war die Mithilfe bei der Kartoffelernte. Ich kniete neben dem Kratten und sortierte die so genannten «Säuer» von den Speisekartoffeln aus. Die Gefässe wollten und wollten sich nicht füllen. «Wenn du so weitermachst, gibt es keinen Ankebock zum zʼVieri», warnten sie mich.
Von Heimweh geplagt und in Gedanken versunken, zerdrückte ich in meiner Hand eine harte Erdknolle, schaute zu, wie der Sand zwischen den Fingern auf die Erde rieselte, dann sagte ich im Flüsterton: «Ich mag gar keinen Ankebock; viel lieber möchte ich wieder nach Hause gehen.»
Die Bauersleute antworteten nicht. Sie kehrten mir wieder den Rücken zu, schlugen den Karst in die Ackerfurchen und beförderten ganze Nester von neuen Kartoffeln ans Tageslicht. Als ich dann zur Imbisszeit die Küche betrat, richtete ich doch zuerst den Blick auf meinen Platz am Tisch. Beruhigt stellte ich fest, dass sie mir trotzdem ein Butterbrot hingelegt hatten.
Tage und Wochen vergingen, da eröffnete mir eines Morgens Frau Burri, sie möchten noch ein weiteres Kind annehmen. Einen Buben, dreijährig. Nach diesem überraschenden Bericht wurde mir sehr bange. Ich fühlte, dass ein Neuzuzüger unweigerlich erhebliche Veränderungen in meinen nun schon gewohnten Tagesablauf bringen würde.
Es war jedoch schon längst beschlossene Sache. Dieser Knabe, Walter mit Name, war ziemlich verwahrlost, hatte kaum Kleider und konnte nicht sprechen. Zudem hatte er einen Ausschlag auf dem Kopf. Die ganze Kopfhaut war mit Krusten bedeckt. Während des Essens sass der Kleine neben dem Bauern. Der hatte dann nichts Besseres zu tun, als dem Kind die Krusten abzukratzen. Das ging einige Tage so, bis doch die Bäuerin ihn aufforderte, diese Kratzerei am Tische zu unterlassen.
Mein Bett neben dem Ofen wurde Walti zugewiesen. Ich konnte eine Schlafstätte in der hinteren Stube beziehen. Der gewohnte Tagesablauf hatte sich geändert. Mir wurde eine neue Aufgabe zugeteilt. Ich musste dieses Kind hüten.
Erst versuchte ich, dem Buben einige Wörter beizubringen. Vor allem seinen Namen «Walti». Es dauerte einige Zeit, bis er wenigstens «Alti» aussprechen konnte. Auch Milch und Kaffee sollte er sagen können, verlangte Frau Burri. Aber er verwechselte oft die Buchstaben und sprach Maffee oder Filch. Das ärgerte die Bäuerin, tagelang musste er ihr Wörter nachsprechen, die sie ihm vorsagte. Was man an ihm in drei Jahren an Erziehung und Fürsorge unterlassen hatte, wollte sie ihm in zehn Tagen einpauken. So sagte er eben aus lauter Angst und völlig verwirrt immer wieder Maffee oder Filch. Als er statt seines Namens noch Malti sagte, flippte die Bäuerin aus und versetzte dem dreijährigen Buben eine Ohrfeige.
Ich erschrak ebenso wie der Kleine. Wenn die für so etwas dreinschlägt, muss auch ich mich ganz schön in Acht nehmen, warnte ich mich selbst.
Meine ganze Familie war nun komplett auseinander gerissen worden. Geschwister, Vater, Mutter – und was mich besonders schmerzte, war die weite Distanz zu meiner geliebten Stadt.
Meine Schwester Elsbeth lebte schon eine gewisse Zeit im Heim nördlich von Bern. Irgend jemand hatte nun die Idee, dieses Kind auch hierher zu einem Bauern zu bringen.
Nach Verhandlungen mit Burris waren diese einverstanden, Elisabeth, wie sie mit vollem Namen hiess, auch anzunehmen. Gegen Kostgeld natürlich, um das ging es ja in erster Linie. Darauf wurde meine Schwester aus dem Kinderheim, in welchem sie sich schon gut angepasst hatte, herausgeholt und auf die Lischenmatte gebracht.
Damit hatte die junge Frau innert kürzester Zeit gleich drei fremde Kinder ins Haus bekommen. Drei-, sieben- und achtjährig waren wir. Dieser Situation war die Bäuerin keineswegs gewachsen. Von Einfühlungsvermögen und Verständnis uns gegenüber war sie weit entfernt. Dazu kam, dass sie den Verlust ihres eigenen Kindes noch nicht verarbeitet hatte. Es musste sterben und Walti, der Angenommene, durfte leben. Oft schaute sie in die Schublade, wo die Sachen des Verstorbenen lagen, nahm etwas heraus, versorgte es aber gleich wieder mit den Worten: «Nein, diese Kleider kann ich dem Walti nicht anziehen, die gehörten meinem Robertli.» Sie arbeitete sich zwanghaft in eine Neidsituation hinein.
Wir waren so genannte Angenommene, Fremdlinge, nicht Bauernkinder. Wir stammten aus einem anderen Umfeld. Wir fühlten, dass wir nicht dazu gehörten. Nicht aus Liebe oder Berufung wurden wir gehalten, es war reine Berechnung. Pflegekinder waren bei gewissen Bauern gesuchte Objekte. Bargeld war damals rar. Solches gab es nur bei der Milchzahlung. Die Bauern lebten hauptsächlich vom Ertrag aus Feld, Stall und Garten. Und die Ernte kam ja auch nicht von allein ins Haus. Also schauten sie sich nach solchen Kindern um. Dabei hatten sie gleich zwei Fliegen auf einen Schlag. Sie kassierten Bargeld und verfügten zugleich über eine Arbeitskraft.
Die Burris boten uns nicht an, sie als Vater und Mutter anzusprechen. Daher nannten wir sie wie am ersten Tag Herr und Frau Burri. Sie korrigierten uns nie.
Herr Burri nannte seine Frau selten beim Namen. Daher war ich recht ergriffen, als er einmal in meiner Anwesenheit seine Frau Rosi rief. Diese starre, in Trauer gehüllte Frau hatte einen Vornamen. Sie war auch einmal ein Mädchen, ein Kind. Aus dieser plötzlichen Überlegung heraus erhoffte ich mir mehr Nähe zu ihr. Aber die Distanz blieb. Wenn Frau Rosi, wie ich sie heimlich nannte, ihren Gatten mit Fritz ansprach, musste schon ein Sonderfall vorliegen.
Werktags durften auf dem Bauernhof keine Spielsachen herumliegen. Das fiel uns leicht, denn wir hatten kaum solche. Was Mama uns mitgegeben hatte, ergab nicht ein halbes Dutzend. Nach Feierabend oder an Sonntagen spielte ich mit einer ausrangierten Mausefalle. Sie bestand aus einem ausgehöhlten Baumstammstück. Meine Fantasie hatte sie zu einem Puppenhaus umfunktioniert.
Wir wurden schon bald zu allen möglichen Arbeiten herangezogen. Meiner Schwester zeigte Frau Rosi, wie sie den Küchenboden schrubben und aufwischen solle. Ihr trockne der Boden gleich hinter dem Lappen her, prahlte sie. Mit ihren kräftigen Händen konnte sie den Lappen mühelos ausdrücken. Bei Elsbeths Aufwaschen blieb der Boden längere Zeit nass. Deswegen wurde sie heftig an den Haaren geschüttelt und als Nichtsnutz hingestellt.
Arbeit und Schule
Am Morgen musste ich mit dem Bauern und dem Graskarren aufs Feld. Offensichtlich wollte man mich mit den Arbeiten «draussen» vertraut machen. Meine Schwester war als Hilfe in der Küche vorgesehen. Den kleinen Walti konnten sie noch nicht einspannen, also musste ich mich damit abfinden und Feldarbeiten verrichten.
Erst schritt ich in einigem Abstand hinter dem Bauern her, der breitspurig Fuss um Fuss vorsetzte und dabei weit ausholend die Sense schwang. Das taunasse Gras fiel dabei in gleichmässigem Rhythmus zu Boden. Mich faszinierte, wie das blanke Metall durch die üppige Wiese zischte. Gleichzeitig lösten sich bei jedem Schnitt die silberglänzenden Wasserperlen. Tausend Tropfen sprangen von den Halmen. Mit Wohlbehagen atmete ich den aromatisch würzigen Duft von frisch geschnittenem Gras ein. Dieses Gefühl von klarer, reiner Natur ist seitdem nie mehr aus meiner Erinnerung gewichen.
Während ich den Mähvorgang bestaunte, hatte der Bauer die erste Mahd geschnitten. Er drehte sich um, zog den Wetzstein aus dem Fass und begann die aufgestellte Sense zu wetzen. Zugleich deutete er mit dem Kopf gegen den Wagen hin und sagte: «Dort ist eine kleine Gabel. Du kannst damit Gras zusammenstossen und auf den Wagen laden.»
Ich behändigte das ungewohnte Werkzeug, schob den Graswalm vor mir her, bis genug auf der Gabel lag, dann warf ich die Ladung auf den hohen Wagen. Etwas davon landete auf dem Gefährt, der Rest in meinen Haaren und wieder auf dem Boden.
Zum Frühstück, wie auch sehr oft zum Abendessen, gab es jeweils die schmackhafte Kartoffelrösti. Die beiden Bauersleute assen sie gleich mit dem Suppenlöffel aus der Platte. Uns Kindern schöpften sie eine Portion in die Teller.
Wenn Frau Burri diese Speise abends zubereitete, beobachtete ich, wie sie kurz vor dem Anrichten einen Schuss Brunnenwasser – Gätzischmutz – dazugoss. Damit gab sie dem Gericht die nötige Flüssigkeit zurück, die sich während der Bratzeit verflüchtigt hatte. Darauf stürzte sie diese goldgelbe Kartoffelspeise auf die traditionelle Röstiplatte.
Ich war für die Gschwellten zuständig und damit verantwortlich dafür, dass immer genug gekochte Kartoffeln vorhanden waren. Im kleinen Brunnentrog traktierte ich die rohen Kartoffeln so lange mit dem Besen, bis sie einigermassen sauber waren. Dann holte ich die Knollen aus dem kalten Wasser und liess sie in einem Drahtkorb abtropfen. Aber anscheinend zu wenig lange. Ich schleppte das Gefäss in die Küche. Der schwere Korb, den ich kaum zu heben vermochte, hinterliess vom Brunnen bis zum Kochherd eine nasse Schleifspur.
Weil Rosi Burri allergisch auf nasse Küchenböden war, quittierte sie meine Arbeit mit einer Strublete. Sie schüttelte mich heftig am Haarbusch, den sie mir mit einer Schleife zusammengebunden hatte. Völlig verschüchtert stand ich da. Ich hatte eher ein Lob erwartet, weil ich mich so beeilt hatte mit der Herrichtung der Kartoffeln. Aber bald lernte ich, dass Angenommene nichts zu erwarten hatten. Eher hätte ich mich noch für die Strublete bedanken sollen, für die so genannte gute Erziehung, die sie uns allzu oft angedeihen liess.
Die Bauern verlangten, dass wir uns stets überall und für alles bedankten. Sie liessen uns bei Tisch das Gebet sprechen. Jeden Morgen und jeden Abend las der Bauer aus der Bibel vor, die er mit einem Handgriff von einem Tablar über sich herunter holte. Im «Neukirchener Kalender» war angegeben, welchen Text er am jeweiligen Tag lesen musste. «Bete und arbeite» war die oberste Devise.
Alles drehte sich um die Kartoffel. Sie galt als Hauptnahrungsmittel, nebst dem Brot. Selbst die Schweine erhielten ihre «Säuer»-Ration. In einem eigens dafür bestimmten Gerät wurden die gesottenen Kartoffeln für sie zerkleinert und gemahlen. Während ich diese Drehmühle bediente, konnte ich den Betrieb im Hof eingehend beobachten.
Der Schweinestall befand sich im hinteren Hofteil. Der Weg dorthin führte über die Güllengrube. Sobald nun Rosi Burri im stampfenden Schritt mit dem gefüllten «Säuhafen» die ersten Güllenlatten betreten hatte, ging im Schweinestall ein ohrenbetäubendes Geschrei und Grunzen los. Die Tiere wussten genau, dass sie nun gefüttert würden. Noch bevor etwas im Trog lag, steckten die Schweine ihre Köpfe hinein. Sie besetzten die Plätze, um als Erste ans Futter heranzukommen. Die Bäuerin goss ihnen kurzerhand die ganze Suppe mit Kartoffeln, Speiseresten und was auch immer sich darin befand, über die Köpfe. Dann ging das Schnalzen und Schmatzen los. Die Frau klappte den Trogdeckel wieder zu. Wie sich dann die Sauen die übergossenen Gringe säuberten, blieb ihnen selbst überlassen.
In Burris Stall hauste ein grosses Mutterschwein. Dieses sollte man einmal ins Freie lassen, fanden die Bauersleute. Also führte man dieses massige Tier aus dem Stall in den Obstgarten. Mir gaben sie einen Stock in die Hand. Ich sollte das Schwein hüten. In der hinteren Baumreihe stellte ich mich auf, um das Tier aufzuhalten, falls es ins Wiesland wollte. Wir alle aber hatten die Kalkulation ohne das Grunzschwein gemacht.
Sobald dieses frische Luft und Freiheit gerochen hatte, rannte es laut grunzend im Zickzackkurs durch den Obstgarten. Mit einen Sprung hinter einen Apfelbaum konnte ich mich vor ihm retten, sonst hätte es mich zweifellos überrannt.
Der Bauer sah, dass sie mir mit diesem Hütedienst doch zu viel zugemutet hatten. Er kam angerannt, entriss mir den Stock und eilte dem Schwein nach. Es nahm Kurs Richtung Schulhaus. Auf halbem Wege holte er es ein und klemmte es sich zwischen die Beine. Rittlings musste er noch eine Strecke mitlaufen. Dabei packte er das Borstenvieh an den Ohren.
Wir hatten uns indessen auch der Szene genähert. Die Bäuerin schrie ihrem Mann zu: «Pass auf, pass auf, du reisst ihm das Ohr aus.»
Tatsächlich klaffte am Ohransatz ein grosser Riss. Es war ein richtiger Kampf, bis der Bauer das kräftige Tier wieder unter Kontrolle hatte. Mit Fusstritten und Stockhieben beförderte er das übermütige Schwein zurück in den Stall. Von einem neuerlichen Weidegang wurde in Zukunft abgesehen.
Auf den Feldern und überall in der Luft roch es nach verbrannten Kartoffelstauden. Das war ein untrügliches Zeichen, dass der Herbst eingekehrt war. Und mit dem Herbst kam auch wieder der Schulbeginn. Das war Neuland für uns Mädchen.
Der Bauer brachte uns zum Schulhaus. Das Gebäude enthielt nur zwei Schulzimmer, die sich rechts und links von einem langen Flur befanden. An dessen Ende führte eine Treppe ins Obergeschoss. Dort befand sich die Lehrerwohnung, die von einem Ehepaar bewohnt wurde, welches zusammen die neun Klassen unterrichtete.
Die Schüler von der ersten bis zur vierten Klasse wurden von Frau Schaer betreut, während in der Oberschule bis zum neunten Schuljahr ihr Mann das Zepter führte.
Herr Burri liess uns unten an der Treppe warten, während er bei der Lehrerin vorsprach. Da standen wir nun, wir Neulinge, und schauten dem Betrieb zu. Ununterbrochen öffnete sich die Gangtüre. Einzeln oder in Grüppchen kamen die Kinder herein. Die Grossen verschwanden nach links, die Kleinen nach rechts in die Schulstuben. Nicht aber ohne uns von oben bis unten gemustert zu haben, als wären wir Exoten. Kein Wunder, alle Mädchen vom Land trugen damals mehr oder weniger lange, meist rötlichblonde Zöpfe. Wir hatten Pagenschnitt, dunkle Haare und trugen kurze Röcke.
Von irgendwoher ertönte eine Glocke. Gleich darauf kamen die Lehrersleute und der Bauer die Treppe herunter. Die Lehrerin begrüsste uns und öffnete die Tür zum Raume rechts. Wie aufs Kommando drehten sich etwa vierzig Schüler um und ebenso viele Augenpaare blickten uns entgegen.
Ich wurde zu den Kleinen der ersten Klasse gesetzt, während meiner Schwester einen Platz in der zweiten Klasse zugewiesen wurde. Schulbänke im üblichen Sinn gab es nicht. Es waren Vierer- und Fünferbänke, wie zu Ankers Zeiten, und ebensolche Pulte davor, die aus einer einzigen langen Latte bestanden. Zum Aufstehen musste man immer diese Latte zurücklegen.
In einer längeren Zeremonie wurden wir unseren Mitschülern vorgestellt. Viele Kinder hatten den selben Nachnamen. Entweder waren sie Geschwister oder sonstwie untereinander verwandt. Ich atmete entspannt auf, als die Lehrerin an ihrem Pult sass und zur Tagesordnung überging.
Die Kinder waren nett, ich fühlte mich von ihnen akzeptiert. Besonders als sie merkten, dass wir ihnen in den Grundschul-Fächern mindestens ebenbürtig waren.
Mittlerweile hatte Papa herausgefunden, wohin man uns gebracht hatte. Da stand er nun an einem schönen Sonntag, kurz nach Mittag, auf Burris Hof. Der Bauer, der noch am Mittagstisch neben dem Fenster sass, hob ein wenig das karierte Vorhänglein und sagte gelassen: «Was sucht denn dieser lange Kerl hier?»
«Der hat sich wohl verlaufen», entgegnete die Bäuerin.
Erst jetzt wurden Elsbeth und ich auf den Mann da draussen aufmerksam. Ein Blick durchs Fenster genügte. Wir sprangen von den Bänken und zur Türe hinaus in die Arme unseres Vaters. Nun begriffen auch die Burris, wen sie vor sich hatten.
Neben unserem Vater erschienen sie wie Kinder. Er überragte den Bauern um eine ganze Haupteslänge. Es tat mir in der Seele gut, zu sehen, wie der Bauer einmal zu jemandem emporschauen musste. Er sagte danach, Papa würde nicht hierher passen. Der müsse ja jedesmal den Gring einziehen, wenn er durch die Tür gehe; und den Dielenbalken müsste er ein gutes Stück abhobeln, damit er untendurch käme!
Wir begleiteten Papa auf den Riedboden. Er wollte auch Markus sehen und seine Pflegefamilie kennen lernen.
Mama hatte die Bauersleute angewiesen, uns nicht aus den Augen zu lassen, falls der Vater auftauche. Der sei im Stande und nehme uns bei günstiger Gelegenheit gleich mit. Aus diesem Grunde wurden wir auf beiden Höfen mit Argusaugen bewacht.
Es war eine paradoxe Situation. Die Mutter verfügte über uns, wollte uns aber nicht bei sich haben, der Vater jedoch bemühte sich vergeblich, um uns nach Hause zu holen. Ausgerechnet vor diesem Manne, der es gut mit uns meinte, sollten uns die Betreuer schützen! Aber zu dieser Zeit waren die Mütter immer am längeren Hebel und erhielten das Sorgerecht fast automatisch. Eine Frau, die das Sorgerecht nicht erhielt, verlor fast das Gesicht. So liess Mama, als Papa sie gedrängt hatte, ihm das Sorgerecht zu überlassen, uns drei Kinder umgehend bevormunden. Damit verschaffte sie sich behördliche Rückendeckung und schob Papas Bemühungen einen Riegel.
Nun kannten die Burris unsere beiden Elternteile. Mit der Mutter und mit ihrem Begleiter freundeten sie sich an, den Vater aber fürchteten sie in gewisser Hinsicht.
Bei einer einzigen Gelegenheit bloss hatten wir noch Kontakt zur Stadt Bern. Halbjährlich wurden wir in die städtische Schulzahnklinik beordert. Die Reise nach Bern unternahmen Elsbeth und ich ohne Begleitung. Markus war leider nie dabei, er wurde zu einem andern Zeitpunkt aufgeboten. Die zuständigen Behörden, mit welchen sich unsere Mutter absprach, konnten es nicht einrichten, uns alle drei gemeinsam in die Stadt fahren zu lassen. Ein längeres Zusammentreffen wurde uns Geschwistern somit vergönnt. Auch war es uns untersagt, einen Elternteil am Bahnhof zu treffen. Schon gar nicht den Vater. Vom Bahnhofplatz holte uns jeweils eine Jugendbeamtin ab und begleitete uns zur Zahnklinik, die kaum einen Flintenschuss vom Bahnhof entfernt lag. Später brachte sie uns zurück zum Zug, der uns unweigerlich wieder unserem Zwangsaufenthaltsort zuführte.
Zu den wenigen Spielzeugen, die uns Mama mitgegeben hatte, gehörte auch das Springseil. Auf der Lischenmatte fand sich kein geeigneter Platz, deshalb beschlossen wir, das Seil mit in die Schule zu nehmen. In der Pause hüpften wir einige Male auf dem Schulhausplatz herum und machten damit Furore bei den Kindern. Vom Seilspringen hatten sie keine blasse Ahnung. Die Mädchen wollten das Spiel auch lernen. Eine Mitschülerin brachte sogar ein Kälberseil mit, das sie offenbar dem Vater aus der Tenne abgestaubt hatte.
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