Kitabı oku: «Das offene Geheimnis», sayfa 2
Zu diesem Problem hätte es sich zwar angeboten, im nahegelegenen ‚Roma‘, einem italienischen Café, einen der muttersprachlichen Ober zu Rate zu ziehen. Doch da bei Nachfrage all dessen schöne Ober auf den Namen ‚Mario‘ hörten und jungen Mädchen nachpfiffen, zweifelte Giorgio Biasari da Venezia, als innerlich doch eben Deutscher, an deren Solidität.
Schlimmstenfalls, hatte sich da Venezia zurechtgelegt, würde er bei Nachfrage nach seinem Adelsgeschlechte behaupten, sein Name sei der Kunst des Tanzes wegen als Künstlername gewählt. Dieses würde er mit dem Zwinkern eines Auges begleiten. Sodass sein Gegenüber niemals tatsächlich etwas aus dieser Erklärung schließen konnte.
Gehörte sein Gegenüber jedoch der kritischen Bürger-Elite an, würde er mit eben dem gleichen einäugigen Zwinkern – in diesem Falle des anderen Auges – bedeuten, dass er unter ‚Adel‘, selbst wenn er als Prädikat vernehmlich sei, immer doch nur den ‚Adel des Geistes‘ verstehe.
Persönliche Nähe oder gar Kumpanei ließ da Venezia nicht zu.
Um besser agieren zu können, schuf er Beinfreiheit für sich und die Seinen – was sich in einer Tanzschule nachgerade von selbst verstand – gegen alles Banale.
Zu bemerken wäre noch, dass der Begriff ‚Universität‘ nicht ausschließlich auf dem Türschilde prangte. Abgewandelt tauchte er mehrfach in der Werbebroschüre der Tanzschule auf:
Als Kompositum, attributiv angewandt sowie als Adverb. Was der akademischen Fürsorge Boesras von Boesenheim geschuldet war. Der umsichtigen Empfangssekretärin.
Da irrten Begriffe durch den broschierten Text, wie ‚Universitäts-Tanzlehrer‘, ‚universelle Bildung‘ sowie ‚universal garantiert‘. Dies alles wurde vom Besitzer des Institutes mit raumgreifenden Lettern bestätigt:
„Dr. h.c. Giorgio Biasari da Venezia“, was er innerlich mit einem Ausrufungszeichen versah: „!“
Die Tanzteestunde sollte um siebzehn Uhr beginnen. Dorothee war eine halbe Stunde früher gekommen. Tags zuvor hatte sie sich als Journalistin einer Schülerzeitschrift ausgegeben. Sie besuche eine nahegelegene Oberrealschule, hatte sie sich am Telefon vorgestellt. Ihre Schule sei trotz des religiös anklingenden Namens aber nicht konfessionell gebunden. Sie wolle einen Bericht über die Tanzschule schreiben.
„Universitäts-Tanzschule Giorgio Biasari da Venezia! Sie sind mit Boesra Freiin von Boesenheim verbunden!“, hatte die unaussprechliche Vorstellung am vorzimmerlichen Telefon gelautet. Und die Blasiertheit der Empfangsdamenstimme hatte durchblicken lassen, nicht darauf angewiesen zu sein, für Geld arbeiten zu müssen. „Mein Name schreibt sich jedoch mit o-e!“, belehrte die Dame. Da sie Boesra ‚Bosra‘ und Boesenheim ‚Bosenheim‘ auszusprechen wünschte. Doch nur die, die dies verstanden hatten, handelten danach.
All dies war nicht ‚boese‘ gemeint. Boesra von Boesenheim besaß lediglich zu viel Süße in ihrem Sprachfluss. Die das Resultat zu guter Erziehung war.
„Fassen Sie sich kurz! Meine Zeit ist begrenzt! Ebenso wie die des Herrn Doktor!“
‚Ziege‘, hatte Dorothee auch schon verschluckt. Und dachte, mit dieser Art ist sie aber hundert Jahre hinter der Zeit! Sicher hat sie überhaupt keine Bedeutung! Lebt vom Dünkel! Und außerdem fehlt ihr das Genitiv – s – am Ende des Doktors! (Oder eher auch nicht?) Doch dieser ‚Doktor‘, das war er. Genau den wollte Dorothee um ein Interview bitten. „Oh, verzeihen Sie, ich bin wohl versehentlich mit einer Arztpraxis verbunden! Ich dachte, ich hätte die Nummer einer ganz normalen Tanzschule gewählt!“, meinte Dorothee ironisch, was die Dame ihres Standes wegen nicht verstand, denn sie fuhr fort:
„Aber ich bitte Sie, liebes Kind!“
„Ich bin kein Kind!“, korrigierte Dorothee die adelige Stimme.
„Ich besuche eine Oberrealschule, stehe kurz vor dem Abitur und bin als Journalistin für unsere Zeitschrift tätig!“ Das sollte sitzen.
„Also mein Kind!“, blieb die Dame beharrlich.
„Wenn Sie etwas über unser Institut erfahren möchten, – wir sind beileibe keine normale Tanzschule – wenden Sie sich an den Herrn Doktor!“
„Hat dieser Herr einen Namen?“, wollte Dorothee wissen.
„Ganz gewiss, liebes Kind!“, wurde Dorothee noch immer mit Zucker bepudert. „Doch ich muss Sie in Kenntnis setzen, dass unsere Einrichtung sich zum Grundsatz gemacht hat, niemals die Namen ihrer Institutsleiter an Personen weiterzugeben, die nicht in unserem Kreise verkehren!“, fächerte sie ihren Dünkel wie einen Schutzschild gegen die Anruferin auf. Bis alles, was weder adelig klang noch akademischen Anschein trug, durch ein Raster fiel. Und sich im gemeinen Volk wiederfand.
Auch jene, die ihre Güter mit bloßer Hand und nicht durch abwartendes Erben erwarben, fanden vor Boesra von Boesenheim nicht wirklich Gehör. Zwar war die Dame verarmt. Verbittert. Und auch verlassen. Trug aber einen längeren Namen.
Woher sie eigentlich wissen wollte, begehrte Dorothee auf, dass die Anruferin nicht in ihrem Kreise verkehrte? Wenn sie wüsste …!
Dass Flora in diesen Mann total verliebt ist! Sie mehr über ihn weiß, als die Honigstimme je von ihm erfahren würde!
Vielleicht küsst sie ihn eines Tages! In ihrer Fantasie tut sie es längst! Und wenn sie wüsste, dass ich ihn testen werde, ob er das alles auch verdient …, trumpfte Dorothee gegen Boesra Freiin von Boesenheim auf.
Tat dies aber nur in Gedanken.
„Sagen Sie dem Herrn, Dorothea Doro von Sankt Anna möchte ihn am Sonnabend sprechen! Sie wolle ein Interview mit ihm machen!“
Das angeheiratete adelige Blut der Dame aus dem Tanzschulvorzimmer war beeindruckt. Und verriet den Namen des Mannes, der nur gewissen Kreisen zugänglich war.
Dabei hatte Dorothee, was ihren aufwendigen Namen anging, gar nicht gelogen. Offiziell hieß sie Dorothea. Nannte sich aber Dorothee. Als Kind hatte man sie Doro gerufen. Selbst beim adeligen Prädikat ‚von‘ war sie bei der Wahrheit geblieben. Denn die Schule, die sie besuchte, hieß ‚Sankt Anna‘ Oberrealschule. Und schließlich kam sie ‚von‘ dieser Schule. Auch Dorothee war von sich beeindruckt.
Es war halb sechs.
Ein sonnabendlicher Sommertag.
Die Stadt litt träge am feuchtwarmen Wetter.
Die Luft drückte schwül.
Wolken hingen tief im Violett.
Schweres Grau verhieß späte Gewitter.
Dorothee hatte Flora verschwiegen, dass sie just an diesem Tag ihren Geliebten aufsuchen würde. Hatte nichts von dem Plan berichtet, den sie ausgeheckt hatte, um nicht in die Situation zu geraten, linkisch im Tanzunterricht dazustehen. Nicht Herr der Situation zu sein. Und am Ende gar nichts für Flora ausrichten zu können.
Flora hatte, ohne ihr Wissen, Dorothee auf diese Idee gebracht. In wichtigen Lebenssituationen hatte sie oft so gehandelt:
„Wenn ich etwas vor mir habe, das mich beunruhigt, mir Sorge bereitet, dass ich versagen könnte, lasse ich diesen wichtigen Tag nie meine Mutter wissen! Mit meinem Lampenfieber bin ich lieber allein!“ Was bedeuten sollte, Flora hatte stets alle Prüfungsangst mit sich selbst ausgemacht, um dann der bangenden Mutter berichten zu können: „Mama, ich habe die Prüfung bestanden!“
„Aber Flora, die Prüfung ist doch erst in einer Woche! Was redest du da!“
Ebenso verhielt sich nun Dorothee gegenüber Flora. Während Flora noch grübelte, wie die gemeinsame ‚Sache‘ am geschicktesten einzufädeln sei, war Dorothee schon auf dem Weg zum Tanzlehrer.
Um einen Mann zu testen, der doppelt so alt wie sie selbst war! Ob er gut genug für Flora sei! Würdig für ihr großes Gefühl!
Das war aber keineswegs wirklich der Wunsch Floras gewesen! Die doch gewiss war, dass der Mann, in den sie so verliebt war, niemals ein Taugenichts sein konnte! Weder ein Blender noch ein Frauenheld sein würde!
Doch Dorothee vertraute diesem Urteil nicht. Sie würde hart mit diesem Leander Wolffeck ins Gericht gehen! Gleichgültig, wie schön er war! Gleichgültig, was Flora sich vormachen wollte!
Sie war überzeugt, Flora war in die typische Mädchenfalle gegangen!
Sie vermisste den Vater, der in einem anderen Landesteil tätig war! Vermisste Horst und Sylvester, die Brüder, die im Ausland lebten!
Deswegen fühlt sie sich von einem ‚älteren‘ Mann angezogen! Deswegen sucht sie den Beschützer! Die gefährlichste Falle, in die ein Mädchen geraten kann!
Sicherlich ist er onkelhaft und betulich! Ein Pudel, den man zum Salonlöwen frisiert hat! Und seine ältlichen Tanten haben ihn auch noch zum Schoßhund dressiert!
Will Mädchen zum Anstand erziehen! In Tanzknickse sollen sie vor ihm fallen! Im Kreis lässt er sie im wahrsten Sinne des Wortes antanzen! Er in der Mitte als Hahn, weil es zum Pfau nicht gereicht hat, steigerte sich Dorothee immer weiter in ihre Abneigung gegen den Tanzlehrer hinein und fuhr innerlich fort:
Und diese Gänseblümchen sind alle in ihn verliebt! Im Schafspelz mit künstlichen Locken kommt er daher! Und die Gänschen und Blümchen finden das auch noch toll!
Immer vernascht er die Schönste von ihnen!
Manchmal auch die Zweitschönste nur!
Das bereitet ihm besonderes Vergnügen!
Denn die Zweitschönste war ihm auch noch dankbar dafür, dass er sie fraß, ließ Dorothee ihrer Empörung freien Lauf.
Wütend auf einen Mann, den sie nicht kannte. Wütend, dass sie sich auf diese unehrliche Geschichte eingelassen hatte. Wütend, da sie in Wahrheit fürchtete, diesem Mann und der Situation, in die sie sich gebracht hatte, nicht gewachsen zu sein.
Flora darf nichts geschehen! Ich gehe diesen Weg nur, um sie vor dem Wolf zu schützen, den er doch schon im Namen trägt!
Flora bestach durch ihr argloses Wesen.
War ohne falsche Zier. Ohne gesponnenen Zucker. Ungeniert gab sie sich, wie sie hieß: ‚Flora‘, ‚Die Welt der Pflanzen‘.
Wie der frische Duft einer Wiese war sie. Mit hellgrünem Wind am Morgen. Mit tiefgrüner Kühle bei Nacht. Dann wieder ernst wie die Stille des Waldes. Sich dessen nicht bewusst, dies aber ahnend, hatte sich Flora als zweiten Namen ‚Silva‘ gewählt. Oder war es die Nähe zum Bruder ‚Sylvester‘, gewesen, die sie ausdrücken wollte?
Als zartgrüne Pflanze hatte sie ihr Herz an einen ungewöhnlichen Mann verloren. Unbekümmert wie die Blume sich am Schmetterling erfreut, dem sie ganz natürlich zugetan ist, war sie bald unsäglich verliebt. Und kostete ihre Verliebtheit in diesen außergewöhnlichen Schmetterling aus:
Verlor sich in Tagträumen, die sie romantisch ausspann. Verkehrte die Rollen, in denen er der eigentlich Verliebte war. Führte Zwiegespräche, in denen sie die Überlegene war. Ließ ihren Schmetterling nach Laune fliegen oder fing ihn nach Gutdünken bald wieder ein …
So hatte Flora zu Beginn ihrer Verliebtheit Vergnügen daran, auf ihre Weise verliebt zu sein. Bis dieses harmlose Vergnügen ihr nicht mehr genügte. Und sie Lust auf mehr Vergnügen bekam. Da dieses aber keine Erfüllung fand, verfiel sie in Melancholie.
Er hüstelt sicher verlegen, wenn ihm ein Mädchen gefällt! Doch heimlich leckt er sich die Finger! Denn sie gefallen ihm alle! Aber für Flora ist er – auch wenn er noch so unwiderstehlich sein sollte – zu alt, genoss Dorothee ihre Empörung über den Tanzlehrer weiter, den sie kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Und malte ihn sich immer abstoßender aus.
Fühlte in Wahrheit immer mehr Unbehagen. Unbehagen vor der falschen Rolle, die sie gleich spielen würde. Unbehagen, dabei zu versagen.
Womit hatte dieser Mann Flora verzaubert? Sie, die aus der ‚Welt der Pflanzen‘ mit ihren Wurzeln fest auf dem Boden stand? Sie, die die Bodenständige, die Vernünftigere war?
Immer war es Flora, die Dorothee auslachte, wenn diese etwas Alltägliches nicht zustande bekam. Sei es ein Kleid zu kürzen. Einen Nagel so in die Wand zu schlagen, dass das Bild daran gerade oder überhaupt erst hing. Immer ging Flora die Dinge mit praktischem Verstand an. Nahm Maß. Nahm einen Dübel zur Hand. Und war erfolgreich.
Während Dorothee auf der höheren Schule Dinge erfuhr, von denen Flora nichts wissen wollte, widmete Dorothee sich diesen Dingen, die auch sie nicht wirklich wissen wollte. Die sie doch aber stolz machten, ein gewisses Wissen um sie zu besitzen.
So quälte sie Flora mit umständlichen Formeln aus der organischen Chemie. Dann wieder führte sie ihr das untere Hinterbein der gemeinen Stubenfliege, der ‚musca domestica’, vor. Der über die ganze Erde verbreiteten Art der Vollfliege. Hörte Dorothee trotz des Widerstandes Floras nicht auf, ihr ihr Wissen aufdrängen zu wollen, bewarf Flora sie als Antwort mit einem Kissen.
Als Dorothee eines Tages über einen Dichter sprechen wollte, im Überschwang drängend wurde, um Flora in ihre Begeisterung mitzureißen, oder sie gar zur Begeisterung zu zwingen, meinte diese:
„Das ist ja alles ganz schön! Aber Bilder muss immer ich dir aufhängen! Säume von Kleidern muss ich dir umnähen! Und kochen kannst du auch nicht die Bohne! Besonders gescheit scheint es nicht zu sein, was du da lernst! Ich kann nichts damit anfangen! Im Übrigen interessiert es mich auch nicht!“
„Aber Flora! Du kannst doch nicht schon wissen, dass dich etwas nicht interessiert, wenn du es gar nicht kennst!
Nimm diesen Dichter, über den wir im FranzösischUnterricht gesprochen haben. Hör dir sein Gedicht ‚Der Albatros‘ einfach mal an:
Mit wenigen Worten erzählt er eine Geschichte. Und schon zieht er dich mitten hinein. Denn du weißt nichts über den Albatros. Weißt nicht, was in früheren Zeiten die Seeleute mit ihm trieben.
Von diesem Vogel sagt der Dichter, er habe riesige Schwingen.
Er nennt ihn den ‚König des Azurs‘. Den ‚Prinzen der Wolken‘.
Der Albatros ist ein Segler.
Der Dichter klagt, dass er einem Albatros gleich sei. Dass ihn die Menschen in ihre Welt zwingen wollen, die doch niemals die seine sein kann.
Er klagt, so wie die Menschen diesen Vogel der Freiheit berauben, die er nur im freien Flug besitzt, rauben sie ihm, dem Dichter, die Freiheit! Die Freiheit, schreiben zu dürfen, was er fühlt, was er denkt.
Dazu musst du wissen, dass ‚Baudelaire‘, so lautet sein Name, wegen Beleidigung der öffentlichen Moral sogar vor Gericht gestellt wurde! Natürlich nicht wegen dieses Gedichtes, du unwissendes Wesen!
Also, ist der Albatros erst auf ein Schiff geschleift, wird er linkisch! Erbärmlich!
Zieht seine riesigen Flügel wie sperrige Holzruder neben sich her!
Er, der in den Lüften herrlich, elegant und hochmütig war!
Und die Schiffsleute lachen sich tot über das komische Tier!
Ebenso gedemütigt fühlt sich der Dichter, wenn er seiner Verse wegen verlacht wird! Verlacht von Menschen, die ihn nicht verstehen! Die aber die Macht besitzen, ihm verbieten zu können, zu schreiben, was ihn bewegt!
So ähnlich muss man das deuten.
‚Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers, …‘ beginnt das Gedicht in französischer Sprache.“ Flora schwieg.
Ein Knabe öffnete Dorothee die Tür.
Dorothee war erleichtert.
Atmete erlöst auf.
Ihr blieb eine Frist.
Bis der Tanzlehrer kam, würde es dauern. Sie würde ihrer Aufregung Herr werden. Und so lässig erscheinen, als sei es alltäglich, was sie vorhatte zu tun. Außerdem konnte sie vielleicht noch etwas über den Geliebten Floras erfahren.
„Ich möchte nur auf jemanden warten!“, meinte sie zu dem grüßenden jungen Mann.
„Aber gern! Wie Sie möchten!“, erwiderte er. Kaum älter als sie, schien der aushelfende Tanzschüler sich hier ein Taschengeld zu verdienen. Gewandt wies er Dorothee zu einem Sessel.
Hörbar holte sie Atem. Stieß ebenso hörbar den Atem wieder aus. Und hatte sich leidlich gefangen: „Sagen Sie, ich sage es auch nicht weiter! Ist er wirklich so schrecklich?“, wandte sie sich glucksend an den jungen Mann.
„Wen meinen Sie genau?“, fragte er leicht irritiert. „Na den, auf den ich hier warte! Diesen komischen Tanzlehrer! Ich muss gleich ein Interview mit ihm machen!“
„Ach so, auf den warten Sie!“, lachte er auf. Und schien jetzt zu verstehen, wen Dorothee meinte.
„Wieso den? Gibt es denn mehrere?“
„Natürlich! Es gibt deren drei!“
„Drei?“, fragte Dorothee erschrocken. Und wurde leicht blass.
„Oh Gott! Hoffentlich ist es auch der Richtige, auf den ich warte!“
„In welcher Beziehung der ‚Richtige‘?“, fragte der junge Mann nach.
„Na, der, der so betulich ist! Onkelhaft, bisschen affig! Sie wissen schon …! Und irgendwie auch zu alt!“, winkte sie ab. „Der, der bei den Mädchen den Herzensbrecher spielt!“, wollte sich Dorothee noch weiter in ihre gewohnte Empörung gegen den Tanzlehrer hineinsteigern. Ließ es doch aber sein. „Aber das bleibt unter uns!“, bat sie sich aus, erschrocken über ihre Mitteilsamkeit.
„Darauf können Sie sich verlassen! Sie scheinen ihn aber doch schon ganz gut zu kennen, so wie Sie ihn beschreiben, diesen Tanzlehrer! Betulich, onkelhaft, ein bisschen affig! Das trifft auch ganz gut das Klischee eines Tanzlehrers! Nur, seine Rolle als Herzensbrecher ist mir nicht so ganz klar! Herzensbrecher habe ich mir bis jetzt immer irgendwie anders vorgestellt! Gar nicht betulich! Überhaupt nicht affig! Und schon gar nicht onkelhaft!“, musste er auflachen.
„Aber, das ist es doch gerade! Ich habe ihn ja noch nicht einmal gesehen!“
„Na, dann bin ich ja beruhigt!“
Wieso beruhigt?, fragte sich Dorothee. Und dachte, sie könnten sich eigentlich duzen, so offen und ehrlich und jung wie er war.
„Jetzt habe ich Sie, ohne darüber nachzudenken, zu meinem Komplizen gemacht! Das war ja wohl für eine Journalistin ein Kardinalfehler! Na gut! Vergessen Sie, was ich gesagt habe! Ich habe ja eigentlich auch gar keine Ahnung! Ich bin nur wütend auf diesen Mann! Und auch aufgeregt! Darüber bin ich auch wütend. Aber das ist eine andere Geschichte!“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Jetzt wird es aber spannend! Was ist denn das für eine Geschichte?“
„Also, mein Lieber! Jetzt hab‘ ich schon was gelernt! Das behält eine Journalistin natürlich für sich!“, sah sie ihn herausfordernd an.
„Aber wenn es Sie beruhigt! So einen komischen Vogel, wie Sie ihn gern hätten, haben wir gar nicht vorrätig!“
„Da bin ich aber gar nicht so sicher! Denn aus Ihrer Sicht beurteilen Sie die Sache natürlich nicht richtig!“
„Sie trauen mir nicht?“
„Natürlich nicht! Als männliches Wesen haben Sie doch wenig Ahnung, was Frauen an Männern nicht ausstehen können!“
„Na, darüber würde ich jetzt aber gern mehr von Ihnen erfahren!“, sagte der Knabe. Zog einen Sessel zu Dorothee und nahm ihr gegenüber Platz.
„Sie sind ja ganz schön mutig! Haben Sie denn gar keine Angst, dass Ihr Chef in Anführungszeichen“, bedeutete sie mit zwei beugenden Zeigefingern, „plötzlich hereinschneit? Ich meine natürlich hereintanzt!“, prustete Dorothee. „Er tänzelt doch sicher so durch die Tür!“, vollführte sie alberne Tanzschritte. Und beide lachten darüber. „Aber meinetwegen, okay. Wir können ja, wenn der Typ wieder weg ist, darüber reden!“
„Aber warum denn so kompliziert! Warum die Dinge unnütz verschieben? Wenn wir doch gerade so angeregt darüber sprechen! Ich habe Zeit und höre Ihnen gern zu! Denn von Ihnen kann man wirklich etwas lernen! Noch dazu, da Sie doch Journalistin sind!“
„Seien Sie doch nicht albern! Natürlich bin ich nicht wirklich Journalistin! Ich möchte nur für unsere Schülerzeitung ein Interview mit diesem komischen Vogel machen. Obwohl Sie ja gar keinen hier haben! Also kann ich eigentlich gar kein Interview mit ihm machen! Das ist ja beinah absurd!“, kicherte sie über sich selbst.
„Aber Sie tun es doch bereits!“
„Ich meine doch nicht Sie!“, lachte ihn Dorothee aus. „Das wissen Sie genau!“
„Und wenn doch?“, kostete er seine Rolle aus und lehnte sich entspannt in seinen Sessel zurück.
Dorothees Herz setzte einen Schlag aus. Um sich darauf zu überschlagen. Aber das durfte nicht sein, hoffte sie kläglich.
Ihr Gesicht indes überzog sich langsam aber stetig mit schamvollem Rot.
Der Knabe, mit dem sie soeben noch herumgealbert hatte, glich jetzt, da er ernst wurde, einem Mann.
„Sie? Sie sind Tanzlehrer? Aber Sie sind doch … “, viel zu jung, wollte sie sagen.
„Ich sagte doch, diesen komischen Vogel, den Sie beschrieben, haben wir nicht vorrätig!“
„Aber ich meine doch nicht Sie! Einen der anderen beiden! Einen richtigen Tanzlehrer meine ich!“, wurde Dorothees Blick flehend.
„Wenn Sie nichts einzuwenden haben! Leander Wolffeck, richtiger Tanzlehrer!“, hatte sich Leander Wolffeck erhoben und artig verbeugt.
Dorothee trieb es noch tiefer die Röte der Scham ins Gesicht.
‚Leander Wolffeck‘, den hatte sie doch zu sprechen gewünscht! So hieß er! Das hatte ihr Flora doch tausend Mal gesagt! Sie hatte ihn auch als sehr jung aussehend beschrieben! Das hätte sie warnen müssen! Aber Dorothee hatte ihren Worten nie Glauben geschenkt! Hatte sie doch Flora die Gewissheit voraus, dass dieser Tanzlehrer schrecklich sein müsse!
„Machen Sie sich nichts daraus! Ich muss mich entschuldigen! Die wenigsten halten mich für den, der ich bin! Und ich mache mir gern ein Spiel daraus! Ich habe Sie in die Falle gelockt! Es tut mir leid! Ich bitte um Entschuldigung!“
Ein Knabe!
In einen Knaben hatte sich Flora verliebt! Nicht in einen Mann!
Sein Haar glich nicht der aufbegehrenden Mähne des Revolutionärs! Nicht dem des widerspenstigen Löwen! Und schon gar nicht dem des ältlichen Mädchenfängers! Es war das in weichen Wellen fallende Haar des Künstlers!
Wenn er ernst wurde, hatte er verträumt melancholische Züge. Wie man sie auf alten Gemälden fand, als Maler solch ein Gesicht ‚Bildnis eines schönen Jünglings‘ nannten.
Und mit einem Mal hatte Dorothee Flora verstanden. Verstanden, weshalb Flora so verliebt in diesen Mann war.
„Sie wollen ein Interview mit mir machen? Das schmeichelt mir! Fangen wir doch einfach an! Was wollen Sie von mir wissen?“, zeigte er ein gewollt unschuldiges Jungenlächeln und glich wieder dem Knaben, den Dorothee soeben noch in ihm gesehen hatte.
Das ist die strafende Gerechtigkeit, die sich jetzt an mir rächt! Ich will einen Mann entlarven, von dem ich kaum etwas weiß! Und der, um den es sich handelt, ertappt mich! Beschämt mich! Erweist sich sogar als liebenswürdig! Oh Gott, was habe ich in meinem Hochmut angerichtet, war Dorothee erschrocken bewusst geworden.
Um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu fangen, schlug Leander Wolffeck vor:
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Dann plaudert es sich leichter!“
Die durch Heirat geadelte Vorzimmerdame brachte zwei Tassen Kaffee auf einem Silbertablett. Ihr ehemals schwarzes Haar trug müde den Staub der Jahre. Als sei sie vor langer Zeit enttäuscht, gekränkt und vergessen worden, wirkte ihr blasses Gesicht.
„Süß und mit Sahne?“, fragte sie gezuckert. Und meinte doch alles nur liebenswürdig.
Dorothee wollte beides. Keines von beiden. Und doch alles zugleich.
Noch immer schämte sie sich.
„Ich möchte meinen Fehler wieder gutmachen! Trinken wir dazu den ersten Schluck gemeinsam! Im Übrigen beiße ich nicht! Oder nur selten!“
Wieder war da das unschuldige Lächeln. Das, auf dem ‚Bildnis eines schönen Jünglings‘, der wusste, wie schön er war.
Gemeinsam setzten sie ihre Tasse ab.
„Also, an die Arbeit! Seien Sie professionell! Tun Sie, als sei nichts gewesen! Spielen Sie Theater!“
Dorothee räusperte sich. Begann ihre unehrliche Rolle. Und fühlte sich elend. Denn jetzt, dachte sie, sie betrüge Leander Wolffeck doppelt.
Als er in ihrer Vorstellung der undurchsichtige Mädchenverführer war, hatte sie nur Sorge vor Entdeckung. Denn es geschah einem wie ihm ja recht, dass man ihn mit diesem Theater betrog. Aber jetzt, so wie die Situation sich ergeben hatte, und dieser Mann sich wie ein Gentleman benahm, verhielt sie sich schäbig.
Aber ich tue es doch für Flora, versuchte sie sich selbst loszusprechen.
Der Rat des Tanzlehrers, professionell zu sein, zu tun, als sei nichts gewesen, half Dorothee über ihre Verwirrung hinweg. Und sie spielte tatsächlich Theater:
„Also gut! Fangen wir an! Ich bin im Auftrag meiner Schülerzeitschrift hier! Abgesandte Ihrer Tanzschule kommen zwei Mal jährlich in unsere Schule – eine Mädchenschule – um Reklame für Ihr Institut zu machen!
Offen gesagt, machen wir uns darüber immer ein bisschen lustig! Eigentlich sind wir aber darüber empört! Wir haben nämlich den Eindruck, wenn Sie junge Männer zu uns schicken, die dafür werben, mit ihnen zu tanzen, dass es sich um einen Markt handelt, auf dem wir uns präsentieren sollen! Im weitesten Sinne verschachert werden sollen! Diese jungen Männer sprechen immer nur mit dem Direktor der Schule! Mit dem wollen sie aber gar nicht tanzen!
Wir sind gleichberechtigt! So etwas wollen wir nicht!“, sprach Dorothee forscher als ihr zu Mute war. „Wir werden sozusagen hinter unserem Rücken ‚verhandelt‘!“
Sie hatte Punkte wettgemacht. Er wird sich herausreden müssen! Wird seine Tanzschule verteidigen müssen! Was sollte er auch auf solch einen Vorwurf antworten?
„Wenn ich das so ausgedrückt höre, muss ich eingestehen, dass wir, das Tanzinstitut, uns das zu wenig überlegt haben! Wenn Sie, das heißt, die jungen Mädchen, sich bildlich gesprochen wie Ware vorkommen, sollten wir unbedingt eine andere Lösung finden! Was würden Sie vorschlagen?“
Schlau ist er auch noch, ging es Dorothee durch den Sinn. Jetzt spielt er den Ball an mich zurück! Aber sie hatte sich vorbereitet.
„Die abgesandten jungen Männer gehen jeweils zum Direktor und bitten sozusagen um ‚Material‘. Das ist doch neunzehntes Jahrhundert! Das finden wir nicht angemessen! Die jungen Männer sollten den Mut haben, sich uns in den Klassen persönlich vorzustellen! Sollten etwas über ihre Tanzschule und sich berichten! Sollten vor allem mit uns sprechen!
Wir wollen erfahren, mit wem wir tanzen sollen und dann entscheiden, ob wir das überhaupt wollen!
Sie stattdessen, und Ihre Tanzschule, gehen auf Nummer sicher, wenn ich das so sagen darf! Sie gehen davon aus, dass Sie in einer höheren Schule ein gewisses Niveau bei den Mädchen voraussetzen können! Was wissen wir denn von Ihren Jungs? Wer sie sind? Was sie treiben?“
„Ich werde Ihre Kritik mit dem Besitzer der Tanzschule besprechen! Gehen Sie davon aus, dass wir unser Verhalten ändern werden! Ich möchte sogar so weit gehen, Ihnen für diese Kritik zu danken!“
Dorothee fiel nichts darauf ein. Auf Verständnis war sie nicht gefasst. Ihr Geschlechterkampf, auf den sie sich vorbereitet hatte, war ins Leere gelaufen.
Wenn er doch wenigstens eine Phrase gedroschen hätte! Ihre Kritik weggeredet hätte! Seine alberne Tanzschule mit platten Argumenten verteidigt hätte! Oder wenigstens einem männlichen Klischee entsprochen hätte! Er ihr ein typisches Männerkompliment gemacht hätte:
‚Um so etwas sollten Sie sich doch nicht ihr Köpfchen zerbrechen! Dazu sind Sie doch viel zu hübsch!‘ Aber nein! Nichts dergleichen hatte er gesagt! Dorothee blieb nur, ärgerlich auf sich selbst zu sein. Fand kein Argument, um sich über Leander Wolffeck zu empören.
Stattdessen hörte dieser Mann zu. War kritikfähig. War gescheit. Offen.
Dorothees Gewissen wurde zusehends schlechter. Als sie das Interview nach fünfzehn Minuten beendet hatte, fragte ihr Gegenüber:
„Und mit wem hatte ich das Vergnügen, verehrtes Fräulein?“, setzte er ein wenig ironisch hinzu.
Sie hatte sich in ihrer Verwirrung nicht vorgestellt!
Ein zweiter unverzeihlicher Fehler war Dorothee unterlaufen!
Erneut schämte sie sich:
Über ihr unehrliches Spiel. Das sie zudem verloren hatte.
Über die klägliche Rolle, die sie darin spielte.
Über ihre Überheblichkeit, die sie sich in Gedanken erlaubt hatte.
Und errötete erneut.
Die schwüle Luft hatte sie beeinträchtigt!
Die im Violett hängenden Wolken trugen die Schuld!
Die gewittrige Stimmung hatte sie beeinflusst!
Darum war alles schiefgelaufen!
Dorothee wusste, dass sie sich belog.
Sie entschied, Flora nichts über ihren Besuch bei Leander Wolffeck zu berichten. Sie mochte sie nicht in die unrühmliche Geschichte, in die sie sich verstrickt hatte, hineinziehen. Nicht ihr schlechtes Gewissen, das sie sich selbst zuzuschreiben hatte, auch Flora aufbürden.
Flora sollte sich so unbefangen oder befangen gegenüber dem Geliebten verhalten, wie sie es immer getan hatte. Sich geben können, wie ihr zumute war.
Nie sollte sie erfahren, dass Dorothee versucht hatte, Leander Wolffeck unter einem anderen Vorwand als dem, der ausgemacht war, zu ‚testen‘. Dass sie nicht gekommen war, um ihm während des Tanzens zuzusehen. Oder während eines Tanzes arglos mit ihm zu plaudern.
Dass sie unter einer vorgegebenen Begründung versucht hatte, ihn kennenzulernen, sollte ihr Geheimnis bleiben.
Dorothee musste nur noch eine Geschichte erfinden, weshalb sie dennoch vieles über den Geliebten der Freundin zu sagen wusste.
Die Geschichte würde kompliziert werden. Denn sie musste bei allem Erfindungsgeist glaubwürdig klingen.
So schlug Dorothee Flora vor, sie einmal von der Tanzschule abzuholen, um nach Ende des Tanzunterrichts einen Blick auf ihren Geliebten werfen zu können.
„Dann könnte ich immerhin schon etwas über ihn sagen! Vielleicht ergibt sich ja auch eine Situation, in der ich ihn unbemerkt beobachten kann!“
Als Begründung, dass Leander Wolffeck Dorothee auf keinen Fall sehen dürfe, dass sie ihm keinesfalls vorgestellt werden wolle, sollte die Erklärung dienen, dass Leander Wolffeck niemals eine Verbindung zwischen den Freundinnen herstellen können dürfe:
„Schließlich kann man nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln! Wer weiß? Vielleicht soll ich dir eines Tages unerkannt einen Dienst erweisen? Darum darf er uns beide nie in Verbindung bringen!“
Mit solchen und ähnlich ausgedachten Argumenten konnte Dorothee Flora überzeugen.
Als Dorothee eines Abends Flora vom Tanzunterricht abholte, in der unscheinbaren Gasse, die von der Maximilianstraße abzweigte, flunkerte sie, sie sei bereits in der Pause da gewesen und habe den ‚Heißgeliebten‘ – wie sie ihn Flora gegenüber gern spöttisch nannte – beim Auf- und Abgehen vor der Tanzschule beobachten können. Er habe sich dort mit einem jungen Mann unterhalten. So habe sie sogar seine Stimme gehört.
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