Kitabı oku: «Mich hat niemand gefragt», sayfa 3

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Um zehn Uhr gibt es eine Pause, die für mich mehr Plage als Erholung ist, vor allem im Winter. Wir müssen nämlich bei allem Wetter ins Freie und dazu im Winter, wenn es nass ist oder wenn Schnee liegt, Holzschuhe anziehen. Die sind hart und äusserst unbequem, man muss immer aufpassen, dass man sie nicht verliert, wenn man schnell laufen will. Natürlich geraten die Paare auch immer wieder durcheinander, die ersten greifen sich zwei beliebige Schuhe heraus, und die Nachkommenden müssen sehen, wie sie ein Paar zusammenkriegen. Ich bin immer eine der letzten. Bis ich meine Schuhe gefunden habe, ist jeweils die Viertelstunde schon fast vorbei, und das ist mir gerade recht. Ich kehre lieber rechtzeitig ins Schulzimmer zurück.

Um zwölf läutet die Mittagsglocke. Man kann die Wochentage riechen in Freienstein. Es gibt einen ziemlich festen Essensplan.

Montag: Gerstensuppe, Milchreis mit Apfelstückli, je nach Jahreszeit frische oder gedörrte

Dienstag: Gemüse, Kartoffeln und gekochter Speck

Mittwoch: Griess- oder Maisbrei mit Obst

Donnerstag: Gemüse (wenn kein frisches, dann Sauerkraut, –rüben oder –bohnen, so sauer, dass es einem die Löcher in den Strümpfen zusammenzieht!), Kartoffeln und Siedfleisch

Freitag: Wähe (wenn an diesem Tag Brot gebacken wird)

Samstag: Linsensuppe, Hörnli und Tomatensauce oder Räbenmus mit Kartoffeln

Sonntag: (Dörr-)Bohnen, Kartoffeln und Speck oder anderes Fleisch

Der Montag hat eine gute und eine ganz schreckliche Seite. Die gute Seite ist der Milchreis mit den Apfelstückli. Manchmal ruft die Köchin uns kleine Mädchen kurz vor dem Essen in die Küche, dann dürfen wir die grosse Pfanne auskratzen. Am besten schmeckt das Angebrannte am Pfannenboden. Zu dritt oder viert knien wir um die Pfanne, die die Köchin auf den Boden gestellt hat, und kratzen, dass einem die Ohren weh tun könnten. Oft hat sie uns zu spät gerufen, so dass wir nicht rechtzeitig zum Essen in den Speisesaal kommen. Dann müssen wir uns an die Wand stellen, bis der Vater mit scharfer Stimme sein «Platzzz!» ruft.

Der Schrecken des Montags ist die Gerstensuppe, die dem Milchreis vorausgeht (wenn ich nicht schon in der Küche genascht habe). Die kann ich fast nicht schlucken, etwas im Gaumen macht zu, wenn die dicken Körner kommen. «Högerlisuppe» nenne ich sie voller Abscheu. Es sind dicke Bohnen drin, die schwarze Flecken haben und bitter schmecken. Und dann schwimmen da noch die Knollen von der übriggebliebenen Hafersuppe herum. Am Montag ist Waschtag, da sind die Frauen beschäftigt, und darum füllt der Vater die Suppenteller. Er weiss, wie sehr ich diese Suppe verabscheue – und schöpft mir erst recht eine grosse Kelle voll, möglichst aus der Tiefe des Suppentopfs, wo sich die Klumpen sammeln. Wählerisch sein ist in Freienstein ebenso verpönt wie Eitelkeit. Da sitze ich nun und würge, und jenseits dieses schier unüberwindlichen Tellers lockt der feine Milchreis mit den Apfelstückli. Damit werde ich dann allerdings nicht mehr rechtzeitig fertig.

Nach dem Essen liest der Vater das Kalenderblatt vom Neukirchnerkalender vor. Dann steht er bei der Essaaltüre, und ich muss mit meinem halbvollen Teller an ihm vorbei in den Hof hinaus gehen. Wie ich mich vor diesem Augenblick fürchte! Schon im voraus meine ich, im Rücken sein Knie zu spüren, mit dem er mich, Stoss um Stoss, in den Hof hinaus treibt, das Essen will mir hochkommen dabei, ich schlucke und schlucke. Im Hof stehen muss, wer immer eine Schandtat begangen hat – und es gibt viele Gründe, sich zu schämen in Freienstein. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass irgendwelche Kinder, dem Hohn des Vaters preisgegeben, im Hof am Pranger stehen.

Ich stehe fast jeden Montag mit meinem Teller dort. «So, mach jetzt fertig!» befiehlt der Vater barsch. Der Milchreis ist inzwischen kalt geworden und schmeckt mir nicht mehr. Irgendwie wird der Teller leer, aber Vater Bürgis Erziehungsabsicht hat jedenfalls keinen Erfolg: Ich bin lebenslang eine wählerische Esserin und kann Gerstensuppe immer noch nicht ausstehen.

Wir Mädchen waschen das Geschirr. Wenn es Fleisch zum Mittagessen gab, sind die Messer zu reinigen, man muss sie nach dem Abtrocknen noch mit einem Korkzapfen abreiben, damit sie nicht rosten. Bis das Geschirr weggeräumt und der Speisesaal in Ordnung gebracht ist, ist die knappe Mittagspause meist schon vorbei, es reicht höchstens dazu, dass man der Freundin das eine oder andere Geheimnis anvertrauen kann.

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Um ein Uhr müssen die Buben im Hof zur Arbeit antreten, stramm der Grösse nach in einer Reihe, und der Vater gibt mit knappen Worten die Anweisungen: Kartoffeln stecken, Gemüsebeete hacken, Runkeln säen, Holz suchen im Wald, je nach Jahreszeit, «… aber marsch!» Der Vater ist Oberst und liebt das Militär.

Wir Mädchen bekommen unsere Aufgaben im Arbeitszimmer von der Mutter angewiesen. Da türmen sich Berge von Flickwäsche. Die kleineren Mädchen müssen Strümpfe «blege» (belegen). Man zieht den Strumpf über einen Holzleist, legt ein zugeschnittenes Stück Stoff auf die durchgescheuerte Sohle und säumt es rundherum an.

Die grösseren Mädchen haben in der Arbeitsschule den Strumpfmaschenstich gelernt, den Wifel und den Patentwifel ebenfalls. Sie erhalten die anspruchsvolleren Aufgaben. Die Geschickteren können auch Flicke auf- oder einsetzen, die ganz komplizierten Sachen wie Hosen blätzen oder Spickel einsetzen macht die Mutter. Es stehen zwei Tretnähmaschinen im Arbeitszimmer. Die Mutter näht auf der «Pfaff», auf der weniger kostbaren, der «Kaiser», dürfen auch die älteren Schülerinnen nähen. Die Handarbeitslehrerin kontrolliert die Arbeiten.

Wir singen viel bei der Arbeit, Singen ist das halbe Leben. Wenn wir einmal schweigen oder schwatzen, fragt die Mutter: «Was ist auch los? Warum singt ihr nicht?»

Manchmal kommt das stumme Annemarieli vom Bauern Gehri und setzt sich zu uns ins Arbeitszimmer. Es kann nur möhnen und ein bisschen summen. Wir verstehen aber, was es damit meint, es möchte, dass wir sein Lieblingslied, «Solang mein Jesus lebt», singen.

Mutter Bürgi weiss, wie wenig ich sehe und dass es nicht zum Nähen reicht. So gibt sie mir andere Arbeiten. Ich muss «rüglen», das heisst, die Stoffresten sortieren, die zusammengehörigen aufeinanderlegen, dicht einrollen und zusammenbinden. Das mache ich gern und gut, die Mutter lobt mich dafür. Ich würde fast alles machen, um von der Mutter gelobt zu werden! Die Baumwollstoffe werden in der einen Kommode versorgt, die Wollstoffe und Wollknäuel in der andern. Die bunten Stoffe, die sich nicht als Flicke für die Kleider eignen, dienen zum «Blege».

Daneben werden wir selbstverständlich für alle Arbeiten, die in Haus und Hof anfallen, herbeigezogen, wobei die Hauseltern darauf achten, dass die Kleinen nicht zu schwere Aufgaben bekommen und dass die Buben und Mädchen säuberlich getrennt bleiben. Wir jüngeren Mädchen müssen etwa die kleinen Kartoffeln für die Rösti aussortieren oder die Bohnen verlesen: Die makellosen werden als Saatgut ausgesondert, die fleckigen werden in der entsetzlichen Gerstensuppe enden, und die schwarzen sind nur als Schweine- und Hühnerfutter zu gebrauchen. In der Remise schälen die kleinen Buben Kartoffeln und werfen sie in ein grosses, ovales, mit Wasser gefülltes Zinnbecken. Darin bleiben sie, bis sie die Köchin am andern Tag für das Mittagessen verwendet.

Zu zweit werden wir geheissen, in der Runkelgrube Lehm zu holen. Mit den Fingern kratzen wir ihn vom Bord und füllen ihn in einen alten Blechteller. Im Winter hasse ich diese Arbeit. Der Lehm ist hart, die Finger werden ganz steif und blau vor Kälte und schmerzen, und ich bekomme kleine rote Bibeli, die elend brennen. Den «Hecker» nennen wir das. Inzwischen haben die grossen Mädchen die Esstische und die Bänke zum Brunnen hinaus getragen. Wir scheuern sie mit dem Lehm. Zufrieden streiche ich über die glatte, helle Fläche, sie sehen wieder sehr schön aus, fast wie neu gehobelt.

Oft schickt mich die Mutter mit dem Futter zu den Hühnern. Eine schmale Treppe führt zum Hühnerhof hinauf, der über der Waschküche gelegen ist. Am Morgen bekommen sie gekochte Kartoffeln, am Nachmittag Mais oder eben die schwarzen Bohnen. Ist das ein Gerenne und Gegacker, sie flattern mir um den Kopf, wenn ich mit dem vollen Kochtopf ankomme! Ich fürchte mich vor ihnen, muss jedesmal tapfer meinen Mut zusammennehmen. Der Hahn ist auch so ein wilder Kerl, manchmal weist er die Hühner zurecht, aber es kommt auch vor, dass er mich angreifen will. Einmal beobachte ich ihn, wie er auf dem Misthaufen einem Huhn nachläuft, sich darüberwirft und es in den Mist drückt. Der freche Kerl, den will ich lehren! Mit einem Stecken will ich ihn verscheuchen.

«Nid, nid, nid!» ruft da die Mutter, «was machst du da?»

«Der Güggel will das Huhn plagen!»

«Nein, nein, lass ihn nur, er plagt es nicht. Weisst du», fügt sie hinzu, «sonst gibt es keine Eier.»

Das mit den Eiern verstehe ich erst später und kläre dann die kleinen Mädchen auf, die ihrerseits den Hahn daran hindern wollen, die Hühner zu «plagen».

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Um halb vier läutet es zur Pause. Ich werde oft mit dem Tischdecken betraut. Die Erwachsenen bekommen Tassen mit Untertassen und Dessertteller und wir einfach ein Chacheli für den Milchkaffee und einen Blechlöffel. Das Tischdecken ist auch so eine Arbeit, die ich trotz meiner Behinderung gut tun kann, ich habe in den ganzen acht Jahren nur einen einzigen Teller zerbrochen. Das Rösi Grunder hat einmal eine ganze Tellerbeige fallen lassen. Das Geschirr musste es vom eigenen Geld ersetzen. Als ich in die Anstalt eintrete, haben wir Kinder noch Blechgeschirr, später schenkt uns Anna Bachofner, die Magd, von ihrem mageren Lohn auf Weihnachten Steingutteller. Nur uns Mädchen. Das passt dem Vater gar nicht, das ist gegen seinen Gerechtigkeitssinn. Er achtet genau darauf, dass die Buben nicht hintan stehen müssen, in der umgekehrten Richtung fallen ihm Ungleichheiten viel weniger auf. Jedenfalls bekommen die Buben bald nach den Mädchen auch Steingutteller.

Im Sommer gibt es nach dem Zvieri noch einmal Feldarbeit, im Winter haben wir von halb fünf bis halb sieben Abendschule: Naturkunde, Schweizergeschichte, Geometrie. Dann ist es Zeit für das Abendessen, Suppe, Milchkaffee, Brot. Die Bettnässer bekommen nichts Flüssiges, zum Brot erhalten sie gedörrte Apfelstückli.

Zweimal am Tag haben wir eine Andacht. Nach dem Frühstück lesen wir reihum einen Vers aus dem Neuen Testament, am Abend liest oder erzählt der Vater aus dem Alten Testament. Er ist ein wunderbarer Erzähler. Als ich nach Freienstein komme, ist gerade die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern dran. Anschliessend wird ein Gebet gesprochen. Die Andacht dauert insgesamt etwa eine Viertelstunde.

Während die Mädchen abwaschen und abtrocknen, bringen die Buben das Schulzimmer in Ordnung. Irgendwann müssen noch die Hausaufgaben gemacht werden, es ist gar nicht so einfach, die Zeit dafür zu finden, besonders für mich, die ich sehr viel Zeit brauche, um einen Text zu entziffern oder zu schreiben.

Die Kleineren gehen bald nach dem Abendessen ins Bett, für die Grösseren läutet die Glocke um Viertel nach acht. Da muss man alles stehen und liegen lassen und oben im Gang Vater und Mutter gute Nacht wünschen. Wer von der ewig laufenden Nase wunde Haut und aufgesprungene Lippen hat, bekommt von der Mutter ein bisschen Lanolinsalbe auf den Finger, die man sich selbst auftragen kann. Das lindert den Wundschmerz. Dann holen wir uns die Säckchen mit den Kirschensteinen im Ofenrohr und huschen in den kalten Schlafsaal, schlüpfen ins Bett und vergraben unsere Füsse in der wohligen Wärme des Steinsäckchens.

Wir Mädchen schlafen alle in einem einzigen Schlafsaal, die Älteren sind im hinteren Teil untergebracht, abgetrennt durch einen dicken Vorhang. Tagsüber ist dieser Vorhang offen, nachts wird er gezogen, damit wir nicht sehen können, was die Grossen für Geheimnisse haben. Unmittelbar vor dem Vorhang stehen drei Betten, das mittlere ist meins. Die Magd und die Köchin schlafen, abgetrennt nur durch eine dünne Holzwand, die nicht einmal bis zur Decke reicht, ebenfalls bei uns.

An jenem Abend, als der Vater die Geschichte von Joseph und dem Pharao erzählt, kann ich nicht schlafen. Verkauft, verraten, gefangen: Mit dem erniedrigten Joseph kann ich mich gut identifizieren, derlei Erfahrungen habe ich zur Genüge gemacht. Aber nun ist Joseph vom Pharao zum Landesvater gemacht worden, geehrt und hoch geachtet, und ist einer der wichtigsten Männer im Land, und das alles, weil Gott mit ihm war, das hat der Vater ganz deutlich gesagt. Wie ein Refrain zieht sich dieses «Gott war mit ihm» durch die Josephsgeschichte. «Seht ihr, wenn ihr dem lieben Gott folgt und euch im Glauben zu ihm haltet, dann ist Gott mit euch, wie er mit Joseph war» – so ungefähr hat der Vater es gesagt.

Joseph hatte es gut, Gott war mit ihm, aber mit mir? Kenne ich ihn überhaupt? Und kennt er mich? Ich weiss ja nichts von ihm. Ich möchte auch, dass Gott mit mir ist. Gott? Bei Buchers habe ich nichts von ihm gemerkt. Ob die Bucherin das Hedi wieder geschlagen hat? Das tote Kätzchen mit dem ausgestochenen Äuglein sucht mich wieder heim. Und dann fällt mir ein, wie mich meine Mutter hier zurückgelassen hat, ohne adieu zu sagen, und ich fühle mich verraten, preisgegeben und von aller Welt verlassen in diesem Raum voller schlafender Mädchen. Wenn doch Gott mit mir wäre! Die Tränen steigen mir hoch und überfliessen, hier im Dunkeln muss ich mich nicht mehr zusammennehmen, ich schluchze hemmungslos in mein Kissen.

Da höre ich, wie der Vorhang beiseite geschoben wird und Schritte von nackten Füssen sich nähern. «Trudi, was hast du?» flüstert eine Stimme, und: «Warum weinst du?» eine zweite. Es sind Anneli Trachsel, mein Mütterchen, und Rosa Harlacher, eine von den Konfirmandinnen.

«Der Joseph», schluchze ich, «Gott war mit Joseph, aber ich weiss ja nicht, ob er mit mir ist? Der Vater hat gesagt, wir sollen ihm folgen und an ihn glauben, aber ich weiss ja gar nichts von ihm, er sagt ja nichts zu mir …»

Es dauert eine Weile, bis die beiden aus meinem Gestammel klug werden.

«Rede du», sagt Anneli verlegen zu Rosa, «ich rede nicht gern von solchen Sachen.» Rosa setzt sich zu mir aufs Bett und beginnt:

«Weisst du, der Heiland hat dich auch gern, er hat uns alle gern. Du musst nur an ihn glauben.»

«Bist du ganz sicher?» frage ich Rosa.

«Ich friere», unterbricht Anneli, «ich gehe wieder ins Bett», und huscht zurück hinter den Vorhang.

«Ganz sicher.»

«Und er sieht mich jetzt hier im Bett und weiss alles von mir?»

«Ja, er weiss alles von dir und hat dich lieb.»

Rosa sagt das so ruhig und bestimmt, ich muss es ihr glauben. Sie beantwortet noch viele meiner Fragen. Langsam beruhige ich mich. Bevor sie mir gute Nacht sagt, betet sie mit mir:

«Lieber Gott, du bist auch mit dem Trudi und willst aus ihm ein liebes Gotteskind machen. Amen.» Dann geht auch sie leise in ihr Bett zurück.

Am Morgen beim Aufwachen fällt mir sofort wieder ein, was in der Nacht geschehen ist, und eine unbändige Freude packt mich. Ich hüpfe aus dem Bett und rufe: «Juhui, der liebe Gott ist mit mir!»

Das war meine Zuwendung zu Gott, und das habe ich behalten. Ich habe diese Geschichte durch mein ganzes Leben, mein armseliges und manchmal bitteres Leben mitgenommen.

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Die religiöse Erziehung hat ein sehr grosses Gewicht in Freienstein. Zwei Andachten täglich, dazu Morgen-, Abend- und Tischgebete. Wir müssen sehr viel auswendig lernen, Kirchenlieder, Psalmen, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, die Bergpredigt … Mir fällt das nicht so schwer, vor allem die Lieder gehen mir gut ein, ich lerne im Laufe meiner Freiensteiner Zeit etwa deren neunzig. Man mag heute den Kopf schütteln darüber, aber für mich ist das Auswendiggelernte ein grosser Schatz, von dem ich später gezehrt habe, wenn ich so viel arbeiten musste, dass ich zum Bibellesen keine Zeit hatte, und der mir auch bei nachlassender Sehfähigkeit geblieben ist.

Natürlich haben wir in der Schule auch Unterricht in Biblischer Geschichte, der vom jeweiligen Lehrer und von Vater Bürgi erteilt wird. Ihm höre ich besonders gern zu, ich hänge ihm regelrecht an den Lippen. Wenn er uns die alten Geschichten erzählt und erklärt, kommt er mir selbst vor wie einer der Erzväter oder Propheten oder am ehesten wie Mose, der Mann Gottes, der mit Strenge und sicherer Hand sein starrköpfiges Volk – das sind wir Kinder – durch die Wüste führt. Es ist aber eine strenge Frömmigkeit, die der Vater lehrt, er duldet keinerlei Allotria, und wenn jemand schwatzt während der Andacht, blickt er scharf über den Zwickerrand in die Richtung des Störenfrieds.

Abendandacht. Der Vater hat die Geschichte fertig erzählt, wir stehen zum Gebet auf. Neben mir steht Ideli Wegmann. Es ist etwas älter als ich, aber noch kleiner. Ich halte meinen Blick gesenkt und sehe da, wie Idelis Fuss näher zu mir rutscht, es spreizt die Beine immer weiter auseinander und wird kleiner und kleiner, es ist kaum auszudenken, dass ein Mensch die Beine so weit auseinanderspreizen kann. Verwundert schaue ich Ideli ins Gesicht – und da sitzt so ein Schalk in den Augen, dass wir beide losprusten.

Nach dem Amen fragt der Vater in scharfem Ton:

«Wer hat da gelacht?»

Schüchtern strecken wir beide die Hände in die Höhe.

«Kommt nachher zu mir ins Büro hinauf!»

Das kann nichts Gutes bedeuten. Gedrückt schleichen wir die Treppe hoch. Gut, dass wir wenigstens zu zweit sind. Klopfenden Herzens stehen wir vor dem Vater.

«Warum habt ihr gelacht beim Beten?»

«Das Ideli hat so komisch ausgesehen, wie es so breitbeinig dastand …»

Vaters «Tatzen» (Schläge mit dem Haselstecken auf die offene Hand) sind bekannt dafür, dass sie beissen, vier davon bekommen wir jedes für unsere Untat. Heulend ziehen wir von dannen und wissen es für unser ganzes Leben: Beim Beten lacht man nicht.

Das Büro ist ein ungemütlicher Ort. Hier finden die Verhöre statt und werden die Strafen vollzogen. Hier gibt es irgendwo im hinteren Schrank den Haselstecken, den der Vater im Wäldchen oben sorgfältig auszuwählen und zuzuschneiden pflegt, die Rute und für die schlimmste aller Strafen den unheimlichen Hagenschwanz. Ich habe ihn nie richtig gesehen, es muss eine Art Peitsche gewesen sein. Die Ausreisser haben ihn zu spüren bekommen, drei grosse Buben, die abgehauen sind und nicht mehr zurückkommen wollten. Sie wurden von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht. Sie mussten mitten im Hof stehen wie alle, die etwas Dummes gemacht haben, und auf das Verhör beim Vater warten. Wenn der Hof von all der Angst und Scham erzählen könnte, die in ihm ausgestanden wurde … Die drei wurden einer nach dem andern zum Vater ins Büro gerufen, um ihre Strafe zu empfangen. Die Mutter stand bei der Tür und rief: «Jetzt ist genug!», wenn ihr das Mass voll schien. Es soll eine Abmachung zwischen ihr und dem Vater gegeben haben, dass er es ihr zuvor sagen musste, wenn er ein Kind zu strafen gedachte. Dann passte sie auf, dass er es nicht übertrieb.

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Die Mutter ist eine gütige Frau, vor ihr habe ich eine hohe Achtung, ihr möchte ich gefallen, ich hüte mich, Dinge zu tun, die sie nicht gutheisst. Aber da gibt es noch das gestrenge Fräulein Reber, die Handarbeitslehrerin. Sie ist eng befreundet mit Fräulein Margrit, einer Bürgi-Tochter, und dadurch gerate ich in einen Loyalitätskonflikt. Fräulein Margrit ist nämlich meine erklärte Freundin und Vertraute, und muss die Freundin meiner Freundin nicht auch meine Freundin sein? Wenn ich aber ganz ehrlich bin – kann ich es mir leisten, ehrlich zu sein? –, mag ich Fräulein Reber nicht. Sie ist streng und eckig und selbstgerecht, mischt sich in Dinge, die sie nichts angehen, und zeichnet sich aus durch die phantasievollen, bissigen Strafen, die sie verhängt.

Wir gehen zu dritt in unsere Gärtchen, das Ideli und ich und die etwas ältere Frieda. Wir haben jedes unser kleines Gartenbeet hinter dem Turnplatz, nur kaum je die Zeit, es zu pflegen. In meinem Beet wachsen ein Feuerbusch und Tulpen, die gedeihen auch ohne mein Dazutun. Ganz zuhinterst bei diesen Gartenbeeten entdecken wir einen Stachelbeerstrauch voller Beeren.

«Die gehören uns, die sind im Mädchengarten», findet Frieda.

Wir probieren die Früchte.

«Die kann man nicht essen, sie sind noch nicht reif, ganz sauer, wäää», erkläre ich.

Aber das stört Ideli gar nicht. Es füllt die Tasche seiner bunt karierten Baumwollschürze prall mit den harten Beeren. Zusammen gehen wir über den Turnplatz zurück, da sieht uns Fräulein Reber und ruft:

«Wo seid ihr gewesen?»

«Im Gärtchen unten», antworten wir unschuldig.

«Und was sollen die Stachelbeeren auf dem Turnplatz?»

Wir schauen uns um und erschrecken. Du liebe Zeit, das kann bös enden! Quer über den Turnplatz zieht sich eine Spur von grünen Kügelchen, als hätte der Hänsel aus dem Märchen seinen Heimweg markieren wollen.

«Ich», stottert das Ideli, «ich habe halt ein paar im Sack.»

«Soso, zeig einmal.» Fräulein Reber leert die Tasche – unsere Schürzen haben tiefe Taschen! – und entdeckt zuunterst ein Loch. Das ist uns zum Verhängnis geworden.

«Wer hat euch erlaubt, von den Beeren zu essen?»

«Die Frieda hat gesagt …», versucht sich Ideli herauszuziehen.

«Ich habe euch doch gesagt, sie sind noch zu sauer», rede ich mich heraus.

Es nützt mir nichts, mitgegangen – mitgehangen. Fräulein Reber schneidet sich einen Stecken und verabreicht jeder von uns vier «Tatzen» von der scharfen Sorte.

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Ein andermal streite ich mich ein bisschen mit Ideli, es behauptet steif und fest, dass Katzen dreissig Jahre alt werden könnten, es wisse von einer, die erst mit 31 gestorben sei. Ich weiss doch genau, dass das nicht stimmen kann. Fräulein Reber kommt dazu:

«Streitet ihr euch?»

«Oh, nichts Wichtiges!» beschwichtigen wir sie.

Aber Fräulein Reber hat den Eindruck, uns erziehen zu müssen. Sie heisst uns die Jacken anziehen, gibt uns die Holzerhandschuhe, verbindet uns den Mund und befiehlt uns, am Sältenbach unten Brennesseln zu schneiden. Ideli und ich sind wieder ein Herz und eine Seele, noch bevor wir die Jacken angezogen haben, aber wir müssen trotzdem eine ganze Zaine voll Brennesseln schneiden und den Hühnern bringen.

Streiten muss etwas ganz Schlimmes sein. Am Morgen beim Aufstehen verstricken sich drei oder vier in einen Wortwechsel, ich versuche zu schlichten. «Du hast uns gar nichts zu sagen!» Und schon bin ich selbst mitten drin. Fräulein Reber hört es und hat gleich ihre Strafe zur Hand. Wir fünf sollen gemeinsam aus einem Teller frühstücken. So stellen wir uns mitten in den Essaal und löffeln gemeinsam unsere Suppe. Wir haben uns längst versöhnt und kichern miteinander. Gemeinsam sind wir stark, da können uns nicht einmal die spöttischen Sprüche von Vater Bürgi etwas anhaben.

Ich habe Fräulein Reber später, als sie pensioniert und ich selbst schon über fünfzig war, in der Lenzerheide besucht. Sie hatte einen Umgangston, als wären wir immer noch in Freienstein und ich ein unmündiges Kind. Sie nahm nicht wahr, dass ich eine Frau geworden war, viel älter als sie damals in Freienstein, und dass ich in meinem Leben hart kämpfen musste.

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Über dem Dorf Freienstein und direkt über der Anstalt erhebt sich auf einem Hügel die Ruine Freienstein. Von dieser Burg gibt es eine unheimliche Geschichte. Es soll ein Junker dort gewohnt haben, der über die Dörfer Teufen, Freienstein und Rorbas regierte. Der war ein wüster Kerl, ein Leuteschinder. Er wollte seine Burg vergrössern, und die Bauern mussten ihm Frondienst leisten: grosse Steine aufeinanderschichten und die Ritzen mit Gras ausstopfen. Das schlimmste war, dass der Junker die Leute mitten im Sommer aufbot, wenn sie auf den Feldern alle Hände voll zu tun hatten. So blieb vieles liegen, und im Winter wurde das Essen knapp, der Junker forderte aber seine Zinsen erbarmungslos ein.

Wieder einmal befahl er die Bauern mitten im Heuet zur Arbeit. Ein Bauernknecht wagte es, sich zu widersetzen. Sein Meister sei krank, er wolle erst das Heu einfahren, sonst verderbe es. Das liess sich der Junker nicht gefallen. Er liess den Knecht holen und ins tiefste Verlies seiner Burg werfen.

Die Bauern entsetzten sich über diese Härte und beschlossen, sich zu wehren. Als der Junker eines Tages fortritt – er wurde vom Grafen von Kyburg, dem er unterstellt war, wegen seiner Raubritterzüge vorgeladen –, steckten sie seine Burg in Brand. Das Schreckliche an der Geschichte: Sie vergassen den armen Kerl in seinem Verlies, und er verbrannte jämmerlich.

Am Sonntag steigen wir manchmal auf den Burghügel hinauf. Zu meiner Zeit ist die Ruine verfallen und verwunschen, es wächst gar ein Baum oben auf der Mauer. Später ist sie renoviert worden und hat dabei viel von ihrer Romantik eingebüsst. Ich bin überzeugt, dass sie so verfallen ist, weil die Bauern sie angezündet haben, und das geschah dem Junker ganz recht. Manchmal meine ich in ihrem Innern den Brandgeruch wahrzunehmen. Der arme, verbrannte Bauernknecht! Wie bewundere ich ihn für seinen Mut, und wie ärgere ich mich über seine dummen Kumpane, dass sie ihn so fahrlässig umkommen liessen!

Neben der Burg ist zur Waldecke hin ein offener Platz mit ein paar roh gezimmerten Bänken, den wir «Rittersaal» nennen, vermutlich zu Recht. Die Burg bietet eine phantastische Kulisse für unsere Spiele, wir sind «Ritterfamilie» und «Edelfräuleins», und manchmal kommt ein wilder Raubritter und verschleppt so ein Fräulein in die Burg. Das gibt ein Geschrei!

Natürlich ist der Raubritter auch ein Mädchen, es ist uns nie erlaubt, mit den Buben zu spielen! Wir sitzen zwar im gleichen Essaal und Schulzimmer, aber immer an getrennten Tischen, und es wird streng darauf geachtet, dass wir einander nicht zu nahe kommen. Viel später hat mir der Heiri Wegmann an einem Ehemaligentreffen offenbart: «Hast du nicht gewusst, dass du mein Schulschatz warst?» Ja, wenn ich das gewusst hätte!

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Viel Zeit zum Spielen bleibt uns allerdings nicht. Im Sommer geben die Landwirtschaft und der grosse Gemüsegarten sehr viel Arbeit, vor allem für die Buben. Auch die Sommerferien sind nicht etwa zum Nichtstun und Spielen da, denn es ist Erntezeit. Trotzdem geniessen wir es natürlich, schulfrei zu haben.

Es ist ein heisser Sommertag Anfang Juli. Wir haben keine Schule, denn das Heu muss eingebracht werden. Morgen soll das Wetter umschlagen. Die Buben sind schon um fünf Uhr früh aufgestanden, um zu mähen. Später, beim Heuwenden und Rechen, sind auch die Mädchen dabei, natürlich nicht gleichzeitig auf derselben Wiese wie die Buben. Wer die Heugabel noch nicht zu heben vermag, kann wenigstens einen Rechen ziehen.

Wagen um Wagen wird hoch aufgetürmt und eingefahren. Elsi Waldvogel und ich strolchen müde über den Hof, um die Mutter zu suchen und sie nach der nächsten Arbeit zu fragen. Da kommt uns der Vater entgegen.

«Was macht denn ihr hier, ihr habt wohl nichts zu tun?» fragt er barsch, und ohne eine Antwort abzuwarten: «Ab mit euch auf den Heustock, helft abladen!»

So klettern wir die schwankende Leiter hinauf. Der Knecht steht auf dem Heuwagen und wirft Gabel um Gabel herauf. Der äusserste Rand des Heustocks ist frei, hier muss man das Heu entgegennehmen und nach hinten verfrachten. Hinter uns türmt es sich hoch, zuhinterst reicht es schon fast bis zu den Dachbalken hinauf. Vom Heustockrand ist der Tennboden kirchturmweit in der Tiefe.

«Trudi!» höre ich die Mutter rufen, «wo ist das Trudi?»

«Hier!» antworte ich von oben und will ihr entgegenlaufen.

«Um Gottes willen, Kind, bleib stehn!» schreit sie. Noch einen oder zwei Schritte weiter, und ich wäre in die Tiefe gestürzt, ich kann ja nicht sehen, wo der Heuboden aufhört und der Abgrund beginnt.

«Elsi, du führst jetzt das Trudi hinunter, du gehst voraus, und Trudi folgt dir.» Aus ihrem scharfen Ton höre ich, dass sie Angst hat. Mit zitternden Knien steige ich hinter Elsi die Leiter hinunter, sie will und will kein Ende nehmen. Wie ein Schiffbrüchiger, der das rettende Ufer erreicht hat, stehe ich endlich auf dem Tennboden.

«Wer hat dich geheissen, da hinauf zu gehen?» fragt die Mutter streng.

«Der Vater», antworte ich unschuldig.

«Dass du mir nie mehr da hinauf gehst, verstanden?»

Der Vater, der eben zum Abladen auf den Wagen steigen wollte, ist dazugetreten, und es kommt zu einem kleinen Wortwechsel zwischen den beiden. Heimlich freue ich mich, dass es die Mutter dem Vater gezeigt hat. Wir haben nämlich nicht getrödelt, das Elsi und ich. Und überhaupt, es tut so gut, dass die Mutter sich um mich sorgt und daran denkt, dass ich nicht alles kann. Sie ist lieb, alles würde ich tun für sie, alles.

Als am Abend die übrigen Wagen abgeladen werden, will mich die Mutter nicht dabei haben. Sie schickt mich zu Anna ins Waschhaus. Anna Bachofner ist seit vielen Jahren Magd in Freienstein, schwerhörig, spricht selbst undeutlich nuschelnd und ist nicht gerade die Hellste. Ich soll ihr Holz bringen und helfen, den Waschhafen zu heizen. Das tue ich mit so viel Eifer, dass Anna ruft:

«Musst nicht so viel Holz unterlegen, musst! Sonst kocht mir das Wasser über, kocht.»

Sie hat so eine Art, immer ein Wort noch einmal ans Ende des Satzes zu hängen. Lineli Honegger, meine Schulfreundin, zwei Jahre jünger als ich, kann sie vorzüglich nachahmen, wir lachen oft deswegen. Aber wir mögen die knurrige Anna sehr gern, sie ist, was man eine gute Seele nennt, ist sie!

Elf Fuder Heu haben wir an jenem Tag eingefahren. Das war wohl zuviel, in der darauffolgenden Nacht muss alles wieder heruntergerissen und hinausgetragen werden, denn der Stock hat sich erwärmt, und es hat nicht viel gefehlt, so hätte er sich entzündet. Auch das gönne ich dem Vater.

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Im Sommer essen wir häufig draussen in der Halle. Sie schliesst sich ans Backhäuschen an, hat je eine Bretterwand nach Norden zum Berg und nach Westen hin und trägt ein grosses Dach. Gegen Süden ist sie offen. Unter den Tischen und Bänken picken die Hühner auf, was wir fallen lassen, und über unseren Köpfen fliegen die Vögel. Auf dem Längsbalken an der Südseite nisten jedes Jahr die Rotkehlchen, manchmal bis zu zehn Paare gleichzeitig. Wir sehen ihnen zu, wie die Männchen die brütenden Weibchen mit Würmern versorgen, wie sie später, wenn die Jungen geschlüpft sind, gemeinsam die hungrigen Schnäbel stopfen. Manchmal vergessen wir darüber unsern eigenen Hunger, bis der Vater mit energischer Stimme über die Köpfe hin ruft: «Ihr tätet jetzt besser essen statt schwatzen!»

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