Kitabı oku: «Wie man aus Trümmern ein Schloss baut», sayfa 4
Die Party ist zu Ende
Der Augenarzt meiner Wahl hatte seine Praxis am Schulterblatt im Schanzenviertel. Ich hatte ihn aus den Gelben Seiten ausgesucht, weil dort stand, dass er auch eine »Sehschule« hat. Das klang für mich irgendwie alternativ und öko. Bei strahlendem Sonnenschein fuhr ich auf meinem roten Fahrrad durch die Schanzenstraße zu seiner Praxis. Auf dem Weg hatte ich keine Energie für Sorgen, denn der Radweg erforderte meine ganze Aufmerksamkeit. In den letzten Monaten waren meine Augen so blendungsempfindlich geworden, dass ich trotz Sonnenbrille fast nichts sah, wenn mir die Sonne direkt ins Gesicht schien. Sobald ich in den Schlagschatten eines Hauses oder Baumes kam, musste ich meine Sonnenbrille sofort hochschieben, um noch etwas zu sehen. Wenn ich aus einem Hausflur ins Freie ging oder umgekehrt aus der Sonne kam und ein Gebäude betrat, musste ich manchmal minutenlang warten, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Trotz dieser extremen Situationen von plötzlichem Nichtssehen fühlte ich mich nicht sehbehindert. Im Grunde sah ich ja fast normal. Ich brauchte eben nur das richtige Licht und einen direkten Blick auf das, was es zu sehen gab. Dann war alles in Ordnung.
Der Augenarzt am Schulterblatt stellte die gleiche Sehschärfe wie Johannsen junior fest: etwa dreißig Prozent. Ich war zum ersten Mal in dieser Praxis und er hatte daher keine Patientenakte mit früheren Untersuchungen meiner Augen zum Vergleich. Eine Erklärung für meine geringe Sehschärfe hatte er nicht. Der Blick auf meine Netzhaut zeigte ihm aber offenbar ein sonderbares Bild, das er nicht deuten konnte. Dann schien er doch noch eine Idee zu haben und fragte: »Haben Sie vor Kurzem eine Sonnenfinsternis beobachtet?«
»Nein, das habe ich noch nie«, antwortete ich verwirrt.
Er entließ mich ohne weiteren Befund, aber auch ohne mich weiter zu beunruhigen. Irgendetwas war gerade nicht so gut mit meinen Augen, würde aber sicher bald wieder besser werden. Es fühlte sich an wie irgendetwas Unspezifisches, wie eine hartnäckige Erkältung oder lästige Verdauungsprobleme in stressigen Zeiten. Was soll schon sein, wenn die Fachleute auch nichts finden konnten?
Ich hatte außerdem noch Wichtigeres zu regeln. Felix hatte plötzlich mit seinem Examen begonnen. Von jetzt auf gleich saß er nur noch am Schreibtisch, dachte, sprach und tat nichts anderes mehr, als was mit Mathe und Physik zu tun hatte. Wir machten keine gemeinsamen Auftritte mehr und überhaupt schien es in seinem Leben keinen Platz mehr für unsere Liebe zu geben. Ich rebellierte und er trennte sich von mir. »Drama ist im Examen gar nicht gut«, fand er. Wir konnten nicht mehr miteinander, aber ohneeinander konnten wir schon gar nicht. Irgendwie waren wir also nicht mehr zusammen und machten trotzdem einfach weiter wie bisher. »Okay, wird schon wieder«, war ich sicher. Ich steckte all meine Energie in die Vorbereitungen für die Party zu meinem 25. Geburtstag. Ich kannte so viele großartige Leute: Jongleure, Akrobaten, Kleinkünstler und ein paar autonome Aktivisten aus meiner früheren WG am Pferdemarkt. Ich hatte sie alle eingeladen. Im Haus hatte ich den Nachbarn Bescheid gegeben, um Nachsicht wegen der lauten Musik gebeten und sie vorbeugend mit Pralinen besänftigt. All meine Freundinnen und Freunde kamen in Scharen in unsere Altbauwohnung im vierten Stock und brachten mir tolle Geschenke mit. Einige der Akrobaten hatten zusammengelegt und für mich einen großen Lenkdrachen in quietschbunten Farben ausgesucht. Diesen Flugdrachen habe ich immer noch, aber geflogen ist das Ding noch nie.
»Schau mal, was ich für dich gestern gepflückt habe«, forderte mich mein ehemaliger Mitbewohner aus der Schanze verschmitzt auf und legte mir ein kleines Päckchen in zerknittertem Geschenkpapier in die Hand. Oh nein, Hartmut schenkte mir einen Mercedes-Stern. Würde er irgendwann noch erwachsen werden? Egal, Leben war jetzt und erwachsen werden konnten wir später. Um Mitternacht sangen alle für mich, küssten und umarmten mich. Wir tranken und tanzten alle zusammen wild auf meinen 25. Geburtstag. Ich war so glücklich!
Nachts um 3 Uhr rief jemand: »Dörte, komm mal an die Wohnungstür. Da sind die Bullen.« Ups, vor mir standen drei junge Polizisten in Uniform. »Hi, wollt ihr mir gratulieren? Ich bin gerade 25 geworden«, begrüßte ich sie lachend. Nein, eigentlich waren sie gekommen, weil es zu viel ausgelassener Tanz für das ältere Ehepaar in der Wohnung unter uns wurde. »Na dann, herzlichen Glückwunsch, alles Gute für dich und feiere nicht mehr so lange«, gratulierten sie mir. Ich versprach ihnen, dass die Party gleich aus sein würde. Dass es für mich schon bald nichts mehr zu feiern geben würde, ahnte ich in dieser Nacht noch nicht.
Ende November hatte ich einen Termin bei Dr. Gröger in Pinneberg. Meinen Augen ging es überhaupt nicht besser. Dr. Gröger war schon in meiner Kindheit mein Arzt gewesen und würde daher anhand seiner Akten einen genauen Überblick über die Entwicklung meiner Sehschärfe haben. Ich war mittlerweile so beunruhigt, dass ich meine Mutter bat, mich zu dem Termin zu begleiten. Ich kam mit der S-Bahn und meine Mutter mit dem Fahrrad nach Pinneberg. Wir trafen uns vor der Praxis. Gemeinsam setzten wir uns ins Wartezimmer. Wie schon vor zwanzig Jahren war das Wartezimmer sehr voll. Viele, meist ältere Menschen besetzten die alten, mit bunten Kunststoffpolstern bezogenen Stühle. Wie früher schon gab es nichts zu lesen als die Mappen vom Lesezirkel mit Illustrierten für Menschen, die dreimal so alt waren wie ich. Das war mir aber egal, denn Lesen fand ich jetzt fast bei jedem Licht zu mühsam. Ich fühlte mich wie damals, als ich als Zweitklässlerin mit meiner Mutter zum ersten Mal in diesem Wartezimmer saß und keine Ahnung hatte, was auf mich zukommen würde.
Nach langer Wartezeit wurde endlich mein Name aufgerufen. Dr. Gröger war immer noch der besonnene, gutmütige Arzt, den ich in Erinnerung hatte. »Du warst ja ganz lange nicht hier. Wie geht es dir? Nein, ich muss wohl jetzt fragen: Wie geht es Ihnen?«
Ich erzählte ihm voller Vertrauen von all meinen rätselhaften Symptomen. Bei ihm war ich in guten Händen. Der Sehtest bestätigte abermals meine geringe Sehschärfe. Weiter als zur vierten Buchstabenzeile kam ich nicht. Dr. Gröger tropfte mir die Pupillen weit, leuchtete mit einer kleinen Lampe in meine Augen und nahm sich viel Zeit, meinen Augenhintergrund von allen Seiten zu betrachten. Er war sehr konzentriert und sprach kaum. Irgendwann erhob er sich von seinem Drehhocker, verließ den Raum und redete vor der Tür kurz mit einer seiner Arzthelferinnen. »Wir können jetzt gleich einen Gesichtsfeldtest machen«, teilte er mir mit, als er wieder ins Zimmer kam.
Wie schon vor mehr als acht Jahren musste ich also einen Perimetertest machen. Das Gerät war neu. Um die gesehenen Punkte anzuzeigen, gab es jetzt einen Schalter. Ich musste nicht mehr mit einem Kugelschreiber auf den Tisch klopfen. Die Perimetristin musste die Ergebnisse auch nicht mehr per Hand eintragen. Das Ergebnis würde das Gerät automatisch als Ausdruck bereitstellen. Anders als beim ersten Mal war diese Perimetristin sehr entspannt und fast so gutmütig wie mein alter Augenarzt. Der Test selbst aber war für mich eine Katastrophe. Ich strengte mich an, konzentrierte mich, so stark ich nur konnte, versuchte mit der ganzen Kraft meines Willens meinen Blick nur auf den Mittelpunkt der Halbkugel zu fixieren. War der Test schon gestartet? Wo blieben die Punkte aus der Peripherie? Endlich sah ich einen und drückte den Schalter, dann lange wieder keinen. Erbarmungslos ging der Test über endlose Minuten weiter. Sosehr ich es auch wollte, ich sah die verdammten Punkte nicht. Ich scheiterte in diesem blöden Perimetertest und trotzdem schimpfte die Arzthelferin kein bisschen mit mir. Ich machte mir Sorgen.
Schließlich saßen meine Mutter und ich wieder im Sprechzimmer. Dr. Gröger saß hinter seinem großen Schreibtisch, meine Untersuchungsergebnisse lagen vor ihm. Er sagte nichts. Ich dachte: »Ja, nun sag mir, was wir machen müssen, wenn ich in deinem Perimetertest versage!« Ich bangte: »Medikamente vielleicht, möglichst ohne Nebenwirkungen natürlich, hoffentlich keine Operation.« Dr. Gröger sagte nichts und er lächelte nicht. Es war eine Stille in diesem kleinen Raum, die ahnen ließ, dass etwas nicht in Ordnung war, eine Stille, die ahnen ließ, dass irgendetwas absolut und ganz und gar nicht mehr in Ordnung war. Endlich räusperte sich Dr. Gröger und fragte sehr sachlich: »Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der schlecht sieht oder sehr schlecht gesehen hat? Ein entfernter Onkel vielleicht?« Meine Mutter und ich verneinten, beide gleichermaßen verunsichert. Was sollte diese Frage? Es ging hier doch um mich.
Die nächste Aussage fiel meinem Augenarzt spürbar schwer. »Es hilft ja auch nicht, um den Brei herumzureden …«, murmelte er. »Es ist Retinitis pigmentosa«, sagte er dann hastig. Häh? Was ist das? Das hatte ich noch nie gehört. Ernst und sehr ruhig erklärte Dr. Gröger uns, dass Retinitis pigmentosa eine sehr seltene degenerative Erkrankung der Netzhaut ist. Sie ist genetisch bedingt, ist fortschreitend und man kann sie nicht heilen. Man kann diese Erkrankung noch nicht einmal behandeln. Man kann gar nichts machen. In meinen Kopf dröhnte das Echo der Wörter: Erbkrankheit … fortschreitend … unheilbar … Ich erstarrte. Nach langen Augenblicken war mein erster klarer Gedanke: »Scheiße, jetzt werde ich blind.« Als Nächstes dachte ich: »So ein Blödsinn! Es gibt doch gar keine Krankheit, die man nicht behandeln kann. Wenn das in Deutschland so ist, dann gibt es ja noch die ganze Welt. Es kann überhaupt nicht sein! Ich bin ja mal die Allerletzte, die eine so beschissene Krankheit bekommt!«
Meine Mutter und ich verließen die Praxis mit einem Rezept für ein Vitaminpräparat und einer Überweisung in die Uniklinik zur weiteren Abklärung. Ich fasste in diesem Moment einen Plan: Ich werde nicht blind! Ich würde den Augenärzten zeigen, dass man doch was machen kann! Ich hatte auch einen Plan B: Wenn ich blind werde, dann nehme ich mir das Leben.
Meine Mutter und ich standen uns im dunklen Novembernieselregen gegenüber. Sie weinte und sagte voller Zärtlichkeit: »Dörte, komm mit zu uns.« Ich schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, Mama, ich will zu Felix.«
Ich tappte zurück zum Pinneberger Bahnhof. In nur zwanzig Minuten war ich in der Hamburger City, bald darauf in meiner WG in Eimsbüttel. Meine Mitbewohnerin Laura und ihr Freund Nick empfingen mich. Sie setzten sich mit mir in die Küche und hörten zu. Nick bot uns Zigaretten an. Wir rauchten. Ich hatte lange keine Zigarette geraucht, aber das war jetzt alles egal. Verena, unsere strenge Hauptmieterin, kam kurz danach in die Wohnung. »Seid ihr jetzt von allen guten Geistern verlassen«, begann sie wegen des Zigarettenrauchs in der Wohnung laut zu zetern. Dann sah sie uns bedröppelt um den Küchentisch sitzen und verstummte. Sie blickte fragend in mein Gesicht. »Ich werde blind«, sagte ich tonlos und sie nahm mich in den Arm.
Felix war an diesem Abend wie jeden Donnerstag beim Tischtennistraining. Einmal in der Woche Tischtennis und hinterher ein Bier war gerade noch vereinbar mit seinem Mathe- und Physikexamen. Ich versuchte, ihn überall zu erreichen. Handys gab es ja noch nicht. Der Wirt der Kneipe neben der Sporthalle informierte Felix schließlich, dass ich ihn brauchte. Er wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und dass es dringend war. Es war so gut, dass er kam, denn in seinen Armen fühlte ich mich geborgen und konnte endlich weinen.
Auch Felix weinte und sagte: »Wir machen eine Weltreise. Dann kannst du alles noch anschauen.«
»Und dein Examen?«, schniefte ich.
»Das mache ich danach fertig.«
Seine Reaktion war wunderbar. Nur wenige Stunden zuvor hätte ich alles stehen und liegen lassen, um mit ihm auf Weltreise zu gehen. Aber was für eine unendlich traurige Weltreise würde das sein? Ich würde alles mit dem Gedanken anschauen, dass ich es nie wieder sehen könnte. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte kämpfen!
Medizin, Mythen und Magie
»Ihre Kinder werden es nicht bekommen«, mit dieser Nachricht begrüßte mich der Professor für Augenheilkunde der Hamburger Uniklinik schwungvoll und fast freudig zum Abschlussgespräch. Wovon redete er? Ich hatte keine Kinder und plante aktuell auch keine. Ganz abgesehen davon, dass es Felix war, der mich zu diesem Termin begleitete und unsere Beziehung keine mehr war, die uns zu gemeinsamen Eltern werden lassen würde. Was sollte das: Hier ging es doch allein um meine Augen, um meine! Hatte der Professor die falsche Patientenakte?
Nein, es war aus Sicht des Professors alles richtig. Seine Aussage über die Unwahrscheinlichkeit einer Vererbung war die einzig positive Nachricht, die er für mich hatte.
Alle anderen Informationen waren niederschmetternd: Seine Ergebnisse bestätigten die Diagnose von Dr. Gröger. Er führte aus, dass Retinitis pigmentosa eine erbliche Augenerkrankung ist, die eine Zerstörung der Retina, des sehfähigen Gewebes am Augenhintergrund, zur Folge hat.
Diese noch unheilbare Krankheit ist eine der häufigsten Ursachen des Sehverlusts im mittleren Erwachsenenalter und betrifft etwa einen unter 5000 Menschen. Da in meiner gesamten Familie weit und breit kein Fall einer solchen Erkrankung bekannt war, ging er von einem autosomal-rezessiven Erbgang aus. Die Kinder von Betroffenen mit einer rezessiv vererbten Retinitis pigmentosa werden – vorausgesetzt, der Partner ist nicht verwandt und augengesund – selbst keine Retinitis pigmentosa ausbilden.
»Der spinnt doch. Ich habe eine unheilbare Krankheit. Was interessieren mich da irgendwelche ungeborenen Kinder, über die ich bisher noch nicht einmal nachgedacht hatte?«, wüteten die Gedanken in mir.
Zur weiteren Abklärung fuhr Felix mit meinen Eltern und mir im forstgrünen Benz-Diesel meines Vaters nach Tübingen. An der dortigen Augenklinik mit einem Schwerpunkt für Netzhauterkrankungen wurde bei meinen Eltern nichts gefunden und mein Befund noch ein weiteres Mal bestätigt. Der Gentest unserer Blutproben ergab weder bei meinen Eltern noch bei mir einen Befund. Das war nicht ungewöhnlich, denn der einer Retinitis pigmentosa zugrunde liegende Gendefekt kann auf zig verschiedenen Genen liegen, von denen auch heute noch bei Weitem nicht alle bekannt sind.
»Vielleicht sehen Sie noch ein paar Jahre, vielleicht sogar noch zehn Jahre, und wer weiß, was in zehn Jahren ist. Die Forschung kommt voran«, meinte Professor Zrenner, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Retinitis pigmentosa. Ein weiteres Mal wurde ich ohne Therapie, nur mit ein paar Broschüren und guten Wünschen entlassen.
»Die sagen dir, dass du eine total seltene, unheilbare Erbkrankheit hast, die leider ihr Gentest nicht bestätigen kann. Dann sagen sie dir, dass sie überhaupt keine Therapie haben und nicht wissen, wann genau du ganz blind bist!«, fasste ich voller Zorn das Ergebnis zusammen. Nie hätte ich gedacht, dass es so einen beschissenen Schlamassel überhaupt gibt und noch viel weniger hätte ich für möglich gehalten, dass ich so eine unglaubliche Scheiße erlebe. Ich hätte den ganzen erbärmlichen Augenklinikladen in die Luft sprengen können!
Es gab eine Diagnose, aber keine Therapie. Es gab eine Prognose, aber keine Begleitung. Es entstand ein großes Vakuum und mit meiner ganzen Wut füllte ich dieses Vakuum aus. Koste es, was es wolle. Ich würde es den armseligen Augenärzten schon zeigen!
In meinem unbändigen Zorn zweifelte ich alles an, was die Ärzte mir gesagt hatten. Verunsichert und orientierungslos machte ich mich auf die Suche. Hätte es damals das Internet gegeben, hätte ich mich in wochenlanger Recherche völlig im undurchdringlichen Dschungel der alternativen Heilmethoden verloren. Doch dafür brauchte es gar kein Internet. Ich schrieb all meine Freunde und Bekannten an und schilderte meine verzweifelte Situation. Ich bat sie darum, mir Hinweise zu geben, wer oder was mir helfen könnte. Bald schon hatte ich einen ganzen Ordner voller Adressen und Broschüren.
Jetzt gab es viel zu tun: endlose Anamnesen, Testverfahren von Irisdiagnostik bis Energiestrommessungen, Ernährung umstellen, Gifte ausleiten, Heilmittel aller Art einkaufen und einnehmen. Ein Augenarzt in Bayern verschrieb mir so viel verschiedene Kügelchen, Pulver, Tinkturen und Ampullen, dass sie einen ganzen Umzugskarton füllten. »Viel hilft viel«, schien sein Motto zu sein und ich vertraute ihm. Ich vertraute und ich hoffte. Wer hofft, will nichts außer dieser Hoffnung bestätigt wissen. Immer aufs Neue fand ich Ärzte und Heilpraktiker, die mir diesen Gefallen gern taten. Niemand schaute genau auf die Diagnose, alle schauten auf »den ganzen Menschen«. Wer verzweifelt ist, fragt nicht nach objektiven Studien und ignoriert großzügig Ungereimtheiten. Mir brauchte niemand ein explizites Heilversprechen zu geben, ich hörte es in der kleinsten Andeutung. »Ich behandle Sie gern«, hieß in meiner Sprache: »Ich kann Ihnen helfen. Sie werden nicht blind.«
Heilpraktiker und Ärzte verdienten gut an mir, doch ich begegnete keinem wirklichen Halsabschneider. Sie waren selbst ehrlich von ihren Methoden und deren Wirksamkeit überzeugt. Wie vermutlich viele andere Patienten auch kam ich so lange in eine Praxis, wie ich Hoffnung in eine Methode setzte oder sogar subjektiv Erfolge wahrnehmen konnte. War das nicht mehr der Fall, blieb ich einfach weg.
Damals wie heute war es populär, in Krankheiten tiefere Bedeutungen zu sehen. In vielen Büchern war zu lesen, dass Augenerkrankungen bedeuten, dass der betroffene Mensch vor etwas die Augen verschließt oder etwas nicht sehen will. Wenn man nun den inneren Konflikt löst, verschwindet auch das Augenleiden, so die These. Konnte da etwas dran sein? Sicher hatte ich ebenso wie fast jeder Mensch in meinem Leben etwas, was ich nicht sehen mochte. Wenn ich aber zu erblinden drohte, dann müssten es grauenhafte, düstere Wahrheiten sein, vor denen ich die Augen verschloss. Ich war bereit, alles anzusehen. Zunächst war es hilfreich, ein paar Dinge zu klären, aber schnell fing ich an, Gespenster zu sehen und nach Abgründen zu suchen, die es nie gab.
Irgendwann hatte ich genug von der Theorie, dass jeder Krankheit eine tiefere seelische Ursache zugrunde liegt, und obwohl ich die Nase gestrichen voll hatte, bekam ich trotzdem keinen megadicken Schnupfen.
Ich drohte zu ertrinken und griff in meiner Verzweiflung nach Strohhalmen, über die ich sonst nur gelächelt hätte. Schließlich konnte mir nur noch ein Wunder helfen. Ich staunte, wie viele sogenannte Geistheiler genau solche Wunder anboten: ganze Kataloge voll. Als Erstes besuchte ich einen Heiler in Berlin, der auch Arzt war. Das klang seriös. Außerhalb der Sprechzeiten seiner kassenärztlichen Praxis legten mir er und seine Helferin für zehn Minuten ihre Hände über meine Augen, während sie munter weiterplauderten. Es kostete hundert Mark und half nichts. Nur wenig günstiger war sein ebenfalls in Berlin ansässiger Kollege unbestimmter Profession. Der Mann aus Rumänien hatte laut Katalog bereits andere Augenerkrankungen wie Grauen und Grünen Star geheilt, ein Spezialist also. Mit wenigen Brocken Deutsch wies er mich an, auf einem Hocker Platz zu nehmen. Der Boden war mit einem großen schwarz-weißen Schachbrettmuster gefliest, auf dem drei weiße, schwarz getupfte Dalmatiner bellend rumsprangen. Während der bleiche, schwarzhaarige Mann mit seinen Händen um mich herumwirbelte, stieß er ständig auf und roch dabei nicht gut. Eine bizarre Szenerie in Schwarz-Weiß.
Auf einem abgelegenen Bauernhof in einem norddeutschen Dorf war ich mit einem philippinischen Heiler verabredet. Eine ganze Reihe Heilsuchender wartete in einem düsteren Schlafzimmer in Eiche rustikal. Plattdeutsche Landwirte saßen neben punkigen Mädchen aus Hamburg. Die umtriebige Bäuerin unterhielt uns alle mit Anekdoten: »Gestern war eine Familie mit einem Sohn hier. Der hat einen Hirntumor. Dem konnte er auch nicht helfen. Die haben sehr geweint.« Die Behandlung fand in der guten Stube auf einer Liege statt. Der Heiler bat mich, meine Augen zu schließen und mich zu entspannen. Wie er erklärte, nahm er dann mittels Geistchirurgie meine Augen aus ihren Höhlen, reinigte sie gründlich und setzte sie wieder ein. Fertig.
So viele Menschen kannten jemanden, der jemanden kannte, der von einem Wunderheiler geheilt wurde, und ich war für jeden Tipp dankbar. Gibt es nicht viel mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können? Jemand erzählte mir von einem spanischen Professor für Parapsychologie. Ich flog nach Barcelona und verbrachte ein entspanntes Wochenende mit viel Meditation und Gebet gemeinsam mit seinen Studenten in einem schönen Haus mit einem Garten voller Blumen. Das war angenehm, aber heilte meine Augen nicht. Schließlich war ich einige Male bei einem Heiler oben in Schleswig-Holstein. Der ehemalige Briefträger nahm überhaupt kein Geld oder sonstige Gegenleistungen für seine Sitzungen von mir an. Er stellte bei mir Störungen durch Amalgamfüllungen fest. Davon ließ er sich auch dann nicht abbringen, als ich mehrfach versicherte, dass ich bereits vor Jahren alle Amalgamfüllungen habe entfernen lassen. Ich konsultierte daraufhin einen bekannten Professor für Toxikologie, der eine repräsentative Praxis in der Münchner Innenstadt hatte. »Ach, ich sehe ja heute kaum etwas, diese fürchterliche Migräne«, stöhnte er, als er das Panoramaröntgenbild meines Gebisses anschaute. Dann blickte er mich kurz an und sagte: »Sie sehen aus wie nach einem schweren Autounfall«, und senkte gleich darauf wieder seinen Blick auf das Bild meiner Zähne. Obwohl seine Aussage keinen Sinn für mich ergab, sagte ich nichts. »Die Dreier müssen als Erstes alle raus. Das sind die Augenzähne«, murmelte er. Ich war verwirrt, meine vier Dreier waren alle total gesund, hatten alle keine Füllung. Daraufhin meinte er, dass ich überhaupt alle Zähne entfernen lassen müsse und den Kieferknochen dann abschleifen lassen sollte, da alles total verseucht wäre. Täte ich das nicht, stünden mir in den nächsten Jahren zahlreiche schlimme Krankheiten bis hin zu Krebs bevor. Das Ganze müsse eine Praxis in München machen, denn nur die könne das. Er erzählte dann von einer Patientin, die das entgegen seines dringenden Rates in Hamburg hatte machen lassen: »Das ist natürlich völlig schiefgegangen und nun nimmt sie sich sicher das Leben.«
Diese Begegnung war so gruselig und verstörend, dass ich auf dem Rückweg alle Unterlagen, die mir mitgegeben wurden, spontan in der Toilette des ICE versenkte. Dem Zahnthema ging ich zur Sicherheit dennoch weiter nach und fand einen wunderbaren Zahnarzt in Hamburg, der sich mit Amalgamsanierung auskannte. Unter meinen wenigen Füllungen fand er zu seinem Erstaunen tatsächlich Reste von Amalgam. Ordentlich sanierte Zähne und Amalgamentgiftung taten mir gut, machten aber meine Augen nicht gesund.
»Es gibt kein Unheilbar«, war der Satz auf einem Flyer, der mich in einen Vortrag über die Lehren eines verstorbenen Wunderheilers aus der Nachkriegszeit lockte. An einem Sonntagmittag kam ich in einen mit mannshohen Blumengestecken geschmückten Saal, in dem die 50er-Jahre noch ganz lebendig zu sein schienen. Auf den zur Bühne hin ausgerichteten Stühlen saßen artig etwa fünfzig Menschen. Die meisten waren deutlich älter als ich oder waren zumindest so gekleidet. Auf der Bühne stand eine adrette Dame neben einer Art Altar, auf dem ein großes Schwarz-Weiß-Foto eines düster ins Publikum blickenden Mannes stand. Wir erfuhren von der Dame, wie man sich auf den sogenannten »Heilstrom« einstellt: aufrecht hinsetzen, dabei auf keinen Fall Arme oder Beine verschränken und die geöffneten Hände auf die Oberschenkel legen. Es wurde uns erläutert, dass durch den »Heilstrom« alles geheilt werden könne: Verstopfung, Depressionen, Krebs … Mir war nicht bewusst, dass dieser sogenannte »Freundeskreis« von Sektenbeauftragten als sektenähnliche Gruppierung eingestuft wurde. Solange man keine Heilung erfahren hat, sollte man mit niemanden über diesen »Freundeskreis« sprechen. Daran hielt ich mich und so konnte mich auch niemand warnen.
Zu Hause »stellte« ich mich regelmäßig morgens und abends auf den »Heilstrom« ein, hörte mir stundenlang Kassetten mit Berichten von Heilungen an, ging zu den monatlichen Treffen, sang dort Volkslieder und tanzte Volkstänze. Der Lehre brav folgend, bereute ich längst vergangene Fehltritte, Verirrungen und kleine Missetaten, verzichtete konsequent auf jegliches Liebesleben, Alkohol und Rockmusik. Ich schwor allem »Bösen« ab. Ich war zu allem bereit: Für ein besseres Sehvermögen hätte ich am Ende auch noch ein sittsames Dirndl statt meiner geliebten schwarzen Lederhose angezogen. Ich wollte es wirklich wissen. Unter meinen kränkelnden Gummibaum legte ich ein Foto des verstorbenen Wunderheilers, das zuverlässig Wunder bei allen Lebewesen bewirken sollte. Das Bäumchen zeigte keine Reaktion, warf trotzig ein Blatt nach dem anderen auf meine Fensterbank. Als das letzte Blatt fiel, musste ich einsehen: Der bedauernswerten Topfpflanze würde keine Heilung mehr zuteilwerden. Wenn aber noch nicht mal mein tugendhafter, unschuldiger Gummibaum gerettet wurde, was sollte dann aus so einem ungezogenem Menschenkind wie mir werden?
Ich analysierte die Berichte über angebliche Heilungen genau. Kein Blinder konnte wieder sehen, kein Lahmer wieder gehen. Stattdessen gab es viele Berichte über Heilungen bei vagen Symptomen: Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen. Schließlich wurde der Bericht über die Heilung einer an Multiple Sklerose erkrankten zweifachen Mutter im internen Schulungsbrief veröffentlicht. Ich hatte die junge Frau mehrfach getroffen und beobachtet, dass ihr verzweifelter Ehemann außerordentlich engagiert für die Hamburger Gruppe arbeitete. Er schien die Hoffnung zu haben, auf diese Weise seiner Frau helfen zu können. Bei einem der nächsten Treffen saß sie unverändert schwerkrank in ihrem Rollstuhl neben mir. Hinter vorgehaltener Hand erzählte mir jemand, dass sie sich zu dem Bericht gedrängt gefühlt hatte. Kommentare wie: »Na, was ist denn bei Ihnen los? Langsam müsste doch Ihre Heilung mal vorangehen«, hatten die Familie unter Druck gesetzt und die Frau dazu gebracht, einen Bericht zu verfassen, der ganz offensichtlich nicht der Realität entsprach.
Als mir schließlich klar war, dass ein toter Quacksalber und seine Anhänger mir nicht helfen würden, ging ich nicht wieder zu den Treffen. Das war’s, niemand versuchte mich zurückzuholen. Vielleicht das einzig Gute an dieser Sekte.
Als verzweifelte Patientin, für die Ärzte gar nichts tun konnten, passte ich genau ins Raster. Als Mensch war ich hier jedoch falsch. Personenkult war mir immer suspekt. Freies, kritisches Denken war mir wichtig und die 50er-Jahre fand ich noch nie spannend. Das war mein Glück, denn sonst hätte ich mehr Schaden nehmen können. Ein paar Kratzer bekam ich dennoch ab – eine Art Hokuspokus-Vergiftung: plagende, völlig unnütze Schuldgefühle und später die Scham, mich auf mittelalterliche Versprechen eingelassen zu haben.
Die Menschen, denen ich in dieser Sekte begegnete, waren eigentlich nette, unauffällige Menschen – ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Es waren eine Hebamme, eine Tanzpädagogin, eine Physikerin und ein Arzt dabei. Vielleicht hatten einige von ihnen im richtigen Leben eher Außenseiterrollen. Wer ein bisschen zaudernd am Rand stand, wer Unsicherheit oder Ungewissheit nicht ertragen konnte, bekam hier Antworten: weiß oder schwarz, gesund oder krank, gut oder böse. Die böse Welt da draußen stärkte die Gemeinschaft. So einfach war das.
Das Verlockende an Sekten ist ihr scheinbar Gutes: Sie geben Hoffnung, Orientierung, Zugehörigkeit und erfüllen damit Bedürfnisse, die wir als Menschen alle haben. Dabei locken Sekten nicht allein die Schwachen an, sie wollen auch die Besten, um deren Potenzial für ihre Arbeit zu nutzen. Schade ist es, dass diese wohlmeinenden Menschen dadurch an anderer Stelle, an der ehrenamtliches Engagement sinnvoll und dringend notwendig ist, fehlen. Als wirklich gefährlich aber habe ich die Verquickung von vermeintlichen Fehlern und daraus resultierendem Leid in esoterischen Lehren erlebt. Bleibt die erbetene Heilung aus, ist der Grund dafür nach ihrer Auffassung ausschließlich im kranken Menschen selbst zu suchen. Selber schuld also. Ein hilfesuchender Mensch, der auf diese Lehren vertraut, läuft Gefahr, sein gesamtes bisheriges Leben und damit auch sich selbst zu entwerten, denn sein bisheriges Sein hat ihn nach dieser Auffassung schließlich in die unwillkommene Situation gebracht. So eine Lehre ist unbarmherzig und lieblos, weil sie den Menschen zusätzlich schwächt, statt ihn zu stärken.
Bei vielen meiner Therapieversuche frage ich mich heute selbst: »Wie kann man nur so dumm sein?« Zugleich weiß ich, dass man so dumm sein kann, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Nahezu jeder könnte so dumm sein und aus Angst vor dem Ertrinken nach letzten, noch so sinnlosen Strohhalmen greifen.
Verzweiflung ist kein guter Ratgeber. Doch ohne die Gewissheit, wirklich alles versucht zu haben, hätte ich mich möglicherweise immer wieder gefragt, ob nicht vielleicht doch etwas zu machen gewesen wäre.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.