Kitabı oku: «Der Bruch», sayfa 3

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5

Tyler saß auf dem Beifahrersitz, Barry folgte der im Audi vorausfahrenden Kelly, beide mit etwa fünfzig, vor Temposchwellen bremsend und an Ampeln haltend. Tyler hätte am liebsten geschrien. Er spürte, wie die Frau ihn vom Boden aus anstarrte, ihr Blick leer. Während Barry fuhr, nahm Tyler das Telefon der Frau heraus. Es war nicht gesperrt. Er ging in die Einstellungen, deaktivierte die Ortungsfunktion, schaltete es dann aus. Sie befanden sich jetzt in Cameron Toll, womit das der letzte rückverfolgbare Ort war, bis es wieder aktiviert wurde. Sie fuhren Richtung Craigmillar, vorbei an der Abfahrt nach Niddrie, waren auf dem Weg zu Wee Sams Werkstatt in Pinkie, direkt hinter Musselburgh.

»Ein echtes Prachtstück«, meinte Barry und deutete mit einem Kopfnicken auf das vor ihnen fahrende Auto. »Der bringt uns ein pralles Sümmchen.«

»Scheiße, Barry.«

Barrys Hände umklammerten das Lenkrad fester. Er biss die Zähne zusammen und schluckte schwer. Er fuhr schweigend weiter, bis sie am Fort vor einer roten Ampel halten mussten. Er zog den Schalthebel in Leerlaufstellung, betätigte die Handbremse und packte Tyler am Hals, stieß ihn gegen die Sicherheitsgurthalterung und würgte ihn. Tyler zerrte mit den Fingern an Barrys Hand, versuchte, den Hals frei zu bekommen, fand aber keinen richtigen Ansatzpunkt. Seine Luftröhre war blockiert, er röchelte, versuchte verzweifelt, Luft einzusaugen.

»Vorhin in dem Haus ist absolut null passiert«, zischte Barry leise. »Hast du mich verstanden?«

Tyler versuchte zu sprechen, bekam aber nur ein Keuchen heraus.

Barry beugte sich ganz dicht zu ihm vor, ließ Tylers Hals immer noch nicht los. »Und? Hast du?«

Tyler war schwindelig, das Licht am Rande seines Blickfelds flackerte. Er versuchte zu schlucken, konnte aber nicht. Aus seiner Nase löste sich ein Geräusch, ein Würgereflex in seinem Hals. Er nickte, soweit das möglich war mit Barrys Fingern, die sich unter seiner Kinnlade in den Hals gruben.

Hinter ihnen hupte ein Auto. Barry lockerte den Griff, ließ aber noch nicht los. Tyler schnappte nach Luft. Barry drehte sich um, sah nach hinten. Ein Kerl in einem Toyota zeigte an ihnen vorbei auf die Ampel, die inzwischen auf Grün umgesprungen war. Kelly hatte die Kreuzung bereits überquert.

Barry starrte den Mann in dem Auto hinter sich einen langen Herzschlag an, dann ließ er Tylers Hals los. Tyler japste und riss die Hände hoch, berührte die Haut an seinem Hals, während Barry einen Gang einlegte und losfuhr. Er entschuldigte sich bei dem anderen Kerl mit einer erhobenen Hand und beschleunigte, um zu Kelly aufzuholen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel zu dem Auto hinter sich.

»Schwanzlutscher«, schimpfte er leise.

Tyler blinzelte benommen, versuchte, die Lichtpunkte loszuwerden, die vor seinen Augen tanzten. Er starrte nach vorn auf das Nummernschild des Audis, MH 100. Ein personalisiertes Nummernschild an einem Oberklasse-Audi, das noble Haus, die Frau auf dem Boden. Eine Schublade voller iPhones und Designeruhren, eine abgesägte Schrotflinte unter dem Bett. Nichts davon verhieß Gutes.


Der Škoda stand vor einer Reihe niedriger Betongaragen, die Tore geschlossen. Licht sickerte unter dem Wellblech hervor. Verblasste Beschriftung über den Toren, die Tyler nicht lesen konnte. Es gab keine Straßenbeleuchtung, und zum ersten Mal an diesem Abend bemerkte Tyler den Mond, verschwommen hinter Wolkenstreifen. Der Geruch von Motoröl hing in der Luft. Kelly trat breit grinsend aus einem der Tore. Barry drehte den Kopf zu Tyler.

»Platztausch.«

Tyler verließ den Beifahrersitz und kletterte in den Fond, während sich Kelly nach vorn setzte.

»Fünfzehnhundert«, sagte sie und wedelte mit einem Bündel Zwanziger.

Barry lächelte. »Ich scheiß mich ein!«

Sie fuhren zurück durch Musselburgh und Fisherrow, dann westlich vorbei an Newcraighall. Tyler warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Fünfunddreißig Minuten, seit sie das Haus in der St. Margaret’s Road verlassen hatten. Er stellte sich den Ausdruck auf ihrem Gesicht vor, das dunkle Rot des Bluts, viel dunkler, als er jemals erwartet hätte, dunkler als das Zeugs, das man für Halloween kaufen konnte. Er stellte sich vor, das alles wäre nur ein ausgeklügelter Streich, Barry und Kelly hätten ihn reingelegt, würden sich jetzt jeden Moment zu ihm umdrehen und »Reingelegt!« brüllen, ihm die versteckten Kameras zeigen. Du glaubst, wir hätten jemanden umgebracht, aber das war alles nur ein Jux und sie war mit von der Partie.

Wie sonst ließ sich ihr Verhalten da vorn erklären? Kelly bereitete auf ihren Knien neue Lines vor, Barry summte mit, als ein Blues-Typ im Radio davon sang, in die Kirche zu gehen. Als ob das noch irgendwer machte. Kelly sah von ihrem Koks auf und lächelte Barry an, streckte eine Hand aus und streichelte seinen Nacken.

Tyler sah aus dem Fenster. Vorbei an der Abzweigung auf The Wisp und dem Jack Kane Centre, dann waren sie auf der Greendykes Road und wieder in heimischem Revier. Vor Greendykes House hielten sie an, und Tyler dachte an Bean, die oben schlief und träumte.

Sie saßen im Schatten des Hochhauses, der Motor im Leerlauf.

»Wir ziehen noch um die Häuser«, sagte Barry. Damit meinte er das Casino am Ocean Way in Leith, wo sie bis morgens um sechs saufen und so viel wie irgend möglich von dem Geld verprassen konnten.

Barry deutete mit dem Kopf auf das gestohlene Zeug auf dem Rücksitz neben Tyler. »Hast du auch Bares?«

Tyler erinnerte sich an die Geldklammer. Er wühlte in dem Kissenbezug und gab sie ihm, dachte dabei an die Scheine, die er in der Hose versteckt hatte.

Barry warf einen Blick auf die Klammer und pfiff. »Die Fotze hatte echt Schotter, hä?«

Tyler zuckte mit den Achseln.

»Nimm den Rest mit nach oben«, sagte Barry. »Wir gehen morgen alles durch und bringen’s dann rüber zu Fluff.«

Tyler blieb noch einen Moment sitzen.

»Mach hinne, Arschloch, schwirr ab.«

Tyler stieg aus und schleifte seine Beute hinter sich her.

Barry rief ihm nach: »Schlaf schön, Alter.«

Tyler warf die Tür zu und wartete noch ab, während Barry den Motor auf Touren brachte und dann mit quietschenden Reifen abdüste.

Er sah zum Greendykes House hinüber, ganz schwindelig angesichts der Höhe aus dieser kurzen Entfernung. Er stellte sich vor, bis ganz hinauf fliegen zu können, mit der Thermik aufzusteigen und dann aufs Dach hinabzuschießen.

Er zog das Handy der Frau aus der Tasche. Bei deaktivierten Ortungsdiensten waren die Teile nur lokalisierbar, wenn sie eingeschaltet waren, das wusste Tyler nach all den Telefonen, die sie bei ihren Brüchen eingesackt hatten.

Er verstaute das ganze gestohlene Zeug hinter den Mülltonnen und entfernte sich langsam von dem Hochhaus, ging zehn Minuten durch den Park dahinter und über die Fußballplätze, bis er auf der Rückseite der Eiscremefabrik am The Wisp war. Hier gab es keine Videoüberwachung. Er schaltete das Telefon ein und wählte die 999.

»Krankenwagen, bitte.«

Er wartete. Fragte sich, ob es wohl schon zu spät war.

»Ja, da ist so eine Frau mit einer lebensgefährlichen Messerverletzung. Sie liegt in Nummer vier St. Margaret’s Road. Hausnummer vier, okay?«

Er beendete den Anruf und schaltete das Telefon aus, dann trottete er zurück nach Hause.

6

Er hörte den Fernseher, sobald er die Wohnungstür öffnete. Sein erster Gedanke war Bean, aber als er das Wohnzimmer betrat, war da nur seine Mum allein in der Dunkelheit, während das Licht des Bildschirms über ihr Gesicht flimmerte. Sie hatte auf einen bescheuerten Shoppingkanal geschaltet, wo gerade Pullover mit Darstellungen von Wölfen angeboten wurden.

Er ließ die Beute ihrer Einbrüche fallen und nahm die Fernbedienung, um den Fernseher leiser zu stellen.

»Mum, du weckst noch Bean.«

Angela lag auf dem Sofa, hatte den Kopf abgewinkelt. Ihre Augen waren fast zugefallen, aber noch nicht ganz, zwischen den Fingern ihrer rechten Hand glimmte ein Joint. Auf dem Boden neben ihr stand eine Flasche Wodka mit einem Rest von zwei, drei Zentimetern, daneben ein Löffel mit einem benutzten Wattebausch, einem Feuerzeug und einer Spritze. Der Gürtel lag locker um ihren Oberarm.

»Scheiße«, sagte Tyler und hob ihr Heroin-Besteck auf. »Du kannst das hier nicht einfach so rumliegen lassen.«

Träge drehte Angela den Kopf vom Bildschirm zu ihm.

»Schmeiß das nicht weg.« Ihre Stimme klang rau und belegt. »Ist meine letzte Nadel.«

Ihre Haare waren fettig, blond an den Spitzen, graue Strähnen an den dunkleren Stellen an ihrem Schädel. Sie war klein und ausgemergelt, Gliedmaßen wie Zweige, die Arme übersät mit vernarbten Einstichen. Sie trug ein schmuddeliges One-Shoulder-Top mit dem Aufdruck Pineapple!, keinen BH darunter, die Leggings überzogen mit der Asche des Joints und anderen Flecken.

Tyler stellte sich vor, wie er sie packte und schüttelte, ihr ins Gesicht brüllte, sich endlich zusammenzureißen und ihren Scheiß auf die Reihe zu bekommen.

Sie drehte sich wieder zum Fernseher, hob eine Hand an den Mund und nahm einen Zug vom Joint.

»Sieh dir die Scheiße an«, murmelte sie und wedelte mit einem Finger Richtung Bildschirm. Eine viel zu stark geschminkte Frau redete über eine Tagesdecke mit einer Bärenfamilie darauf.

Tyler brachte die Spritze und den Rest in Angelas Schlafzimmer, legte alles in die Schublade neben ihrem Bett, kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Er holte eine Decke von dem Stuhl vor dem Fenster, schlug sie auf und deckte sie zu. Er achtete darauf, dass der Stoff nicht zu nahe an ihrer Hand mit dem Joint war, fand einen alten Teebecher und stellte ihn als Aschenbecher auf den Boden. Sie seufzte dankbar.

Er griff in seine Hose und nahm das Geld heraus, zog einen Zwanziger ab und steckte den Rest wieder ein.

»Hier«, sagte er und hielt ihr den Schein hin.

Sie drehte sich zu ihm, sah das Geld, lächelte und nahm es.

»Mein Süßer«, sagte sie. »Komm her.«

Er setzte sich aufs Sofa, allerdings nicht nahe genug, dass sie ihn umarmen konnte. Sie stopfte das Geld in ihre Leggings und berührte seine Hand auf der Decke. Ihre Finger fühlten sich schweißig an.

»Mum«, sagte er und starrte auf den Bildschirm.

»Ich weiß«, sagte sie. Es war kaum zu spüren, als sie nun seine Hand drückte, fast als wäre sie ein Geist. »Ich versuch’s ja.«

Er schloss die Augen und stellte sich die Frau in dem Haus vor, wie sie auf dem Boden lag und zu ihm hinaufstarrte. Als er die Augen wieder öffnete, blinzelte Angela schon wieder auf den Bildschirm.

Er ging in Beans Zimmer. Sie lag quer über dem Bett, ihre Füße hingen über die Kante, die Decke lag auf dem Boden. Sie hielt Panda mit beiden Armen umklammert, drückte das Stofftier fest an ihre Brust. Ihr Nachtlicht brannte, warf einen blauen Schatten über ihr Gesicht.

Tyler schob sie richtig rum aufs Bett und deckte sie wieder zu. Sie schlief immer sehr unruhig und würde sich wahrscheinlich sowieso in spätestens fünf Minuten wieder frei gestrampelt haben, aber es war gut zu spüren, dass man irgendwas tat. Ihr Mund war schlaff und sie atmete ein wenig rau, während sie sich an ihr Kuscheltier schmiegte. Tyler starrte sie lange an, dann ging er und zog hinter sich die Tür fast ganz zu.

Er verließ die Wohnung, ging den Korridor entlang und zog die Leiter zum Dach herunter. Stieg hinauf und saugte in tiefen Zügen die kalte Luft ein, als er oben die Tür öffnete, ging dann an die westliche Kante und schaute hinunter. Sechsundvierzig Meter bis zum Boden. Hoch genug.

Er blickte hinaus. Schon komisch, dass diese beiden Gebäude als einzige stehen gelassen worden waren, wie zwei Späher, die die Augen nach Ärger aufhielten. Er sah zu den Lichtern des Krankenhausgeländes hinüber. Er fragte sich, ob sie wohl schon dort war, von einem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht, vorbei an den Fußballverletzungen und den Opfern häuslicher Gewalt, den verstauchten Knöcheln und allergischen Entzündungen. Bereits versorgt. Oder vielleicht hatten sie ihm ja auch nicht geglaubt, dachten, es wäre nur ein Telefonstreich, und hatten sich nicht weiter gekümmert. Er hatte null Ahnung, welche Verhaltensregeln die hatten.

»Tyler?«

Bean stand hinter ihm an der Zugangstür, den Panda im Arm.

Er ging zu ihr. »Wieso bist du auf?«

»Ich hatte einen bösen Traum«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Barrys Hunde waren hinter uns her. Sie haben dich verjagt und ich konnte dich nirgends finden.«

Er hob sie hoch und streichelte ihren Kopf.

»Ist nur ein blöder Traum.« Er trug sie zurück die Leiter hinunter und lächelte sie beruhigend an.

»Aber es hat alles so echt gewirkt«, sagte sie.

Er spürte die Anspannung in ihrem Körper, aber sie ließ bereits nach.

Er sprach ruhig weiter. »Keine Angst, mich wird nie irgendwas von dir verjagen können.«

7

Er war bereits wach, als der Wecker losging. Ein paar Sekunden lang starrte er sein Telefon an, dann schaltete er den Ton aus. Bean lag ausgestreckt neben ihm und warf ihren Arm über seine Brust. Er nahm ihn weg.

Nachdem sie oben auf dem Dach gewesen war, hatte er sie wieder ins Bett gebracht, wo sie sofort einschlief, doch als sie dann um halb vier wieder aufwachte, war sie zu ihm gekommen und hatte ihm von einem weiteren schlechten Traum erzählt. Ein dunkles, schemenhaftes Monster hatte Tyler vor ihren Augen in Stücke zerrissen. Immer dasselbe, böse Mächte trennten sie beide voneinander. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, woher das kam. Tyler hatte seine Bettdecke angehoben, und sie war zu ihm gekrochen, mitsamt Panda, und nach wenigen Minuten schlief sie wieder ein, während er ihren Kopf streichelte. Es war ihm viel zu warm mit ihr so dicht neben sich, also schob er die Decke fort, war innerlich völlig außer sich und grübelte über alles nach. So blieb es, während der Himmel draußen heller wurde, und nun war’s Zeit zum Aufstehen.

»Aufwachen«, sagte er und rieb Beans Nase. »Du musst dich für die Schule fertig machen.«

Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Du bist hier.«

»Wo sollte ich denn sonst sein?«

Er stand auf, zog eine schwarze Hose an und die Vorhänge zurück. Es war ein wolkenloser Morgen, die Sonne am Osthimmel bereits auf halber Höhe. Er war froh, dass sich sein Zimmer auf der Rückseite der Wohnung befand, bedeutete das doch, dass er von hier aus das Krankenhaus nicht sehen konnte.

Er hatte auf seinem Telefon die Nummer der Notaufnahme herausgesucht, als er vorhin noch im Bett lag, und sein Daumen schwebte über dem Anrufen-Button. Aber wie sollte das laufen? Er kannte ihren Namen nicht. Und wenn er sie beschrieb, belastete er sich selbst.

Bean stand auf, rieb sich ein Auge, schleifte Panda an einem Ohr mit.

Tyler lächelte. »Deine Schuluniform wartet auf dich in deinem Zimmer.«

»Kannst du mir mit der Strumpfhose helfen?«

Er stöhnte übertrieben. »Na schön, aber du bist eine große Siebenjährige, und du solltest das auch allein können.«

Er hasste es, ihr bei der Strumpfhose zu helfen. Er konnte machen, was er wollte, nie war es bequem, nie war’s so ganz richtig, und sie veranstaltete immer ein albernes Tänzchen, wenn sie sie hochzog und dann wieder aus der Poritze zupfen musste.

Er zog den Rest seiner Klamotten an, dann half er ihr, und schließlich gingen sie zusammen ins Wohnzimmer und zur Kochnische. Angela war nicht da, also hatte sie es irgendwie ins Bett geschafft. Tyler war froh. Sie so zu sehen, war nicht gut für Bean, egal wie viel Bockmist er ihr darüber erzählte, dass Mum sich nicht gut fühlte. Sie war ein kluges Mädchen und wusste genau, was los war. Wenn man hier aufwuchs, wurde man entweder schnell erwachsen oder abgehängt. Drogensüchtige und gewalttätige Eltern gab es in diesem Viertel überall, drei Generationen kaputter und ausrangierter Loser von vorne bis hinten. Über die Hälfte der Kids in Beans Klasse hatten nur einen Elternteil, und die Hälfte von denen wiederum galt als gefährdet.

Tyler dachte an die Frau auf dem Boden, an ihr Kind. Das Zimmer ihres Sohnes war voller Teenager-Kram. Wie viel einfacher war das Leben für sie, weil sie Geld hatten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sich diese Frau vor den Augen ihres Sohnes einen Schuss setzte, so wie es Angela jahrelang vor seinen Augen getan hatte. Er hatte so oft versucht, ihr zu helfen. Aber ab einem bestimmten Punkt mussten die Leute selbst Verantwortung für sich übernehmen, oder? Er konnte keine Zeit mehr für seine Mutter verplempern, er musste dafür sorgen, dass Bean behütet war, dass sie unversehrt in die Schule und zurückkam. Und dass sie so weit wie möglich von den beiden nebenan ferngehalten wurde.

Er holte eine Packung Aldi-Shreddies aus dem Schrank, roch an der Milch aus dem Kühlschrank. Fand eine saubere Schale und wusch an der Spüle einen Löffel ab, stellte dann alles auf die Frühstücksbar. Bean hatte den Fernseher angemacht und er ließ sie Zeichentrickfilme sehen, während sie geräuschvoll mampfte und schlürfte. Sich selbst machte er Toast, klaubte ein paar Schimmelstellen von der Kruste und schnipste sie in den Mülleimer. Er packte seine und Beans Schultasche. Sie bekam Gratis-Mittagessen, das war also schon mal was. Er erinnerte sich wieder an das Geld in seiner Hose und berührte den Rand der Scheine. Das war der sicherste Platz dafür. Wenn Barry herausfand, dass er sich was einsteckte, setzte es wieder Prügel.

Im Fernsehen lief jetzt eine Sendung, in der ein Zeichentrickjunge im Haus einer echten Familie wohnte. Aus irgendeinem Grund waren es Nordiren. Er brachte sie immer irgendwie in Schwierigkeiten, aber am Ende der zehnminütigen Sendung war alles wieder gut, die glückliche und liebevolle Familie, Mum, Dad und Schwester, umarmte ihn heftig. Tyler war froh, dass es in Beans Leben so was gab, denn da hatte sie wenigstens ein echtes Ziel für ihr Erwachsenenleben statt all der Scheiße um sie herum.

»Können wir noch zu Snook und den Babys?«, fragte Bean mit Milch auf dem Kinn.

Tyler verzog das Gesicht und sah auf die Uhr. »Wenn du dir ganz schnell die Zähne putzt.«

Sie sprang vom Hocker und flitzte ins Bad.

Er legte ihre Schale, den Löffel und sein Messer ins Abwaschbecken, spülte alles ab und stellte es aufs Abtropfbrett. Er holte etwas zu essen für Snook aus dem Schrank und verstaute es in seiner Schultasche.

Er drehte sich um und starrte das Kopfkissen und den Bettbezug mit der Beute an, die immer noch auf einem Haufen in der Ecke des Zimmers lagen. Bean hatte nicht danach gefragt. Ihm fiel die Polaroidkamera von dem ersten Bruch des Vorabends ein und er nahm sie heraus.

»Fertig«, rief Bean von der Tür her. Ihre Uniform war schmuddelig, die Strumpfhose ziemlich dünn an den Knien, und er wusste, dass sich zwischen den Beinen ein kleines Loch befand, das man jedoch nur dann sehen konnte, wenn sie ein Rad schlug. Der Pullover mit dem Schulwappen drauf war beim Schulflohmarkt geklaut, ein gebrauchtes Kleidungsstück.

»Komm her«, sagte Tyler. »Dreh dich um.«

Er nahm ihr Haargummi heraus, zog es mehrere Male über seine Finger und band die Haare ordentlicher zusammen.

»Sieh mal hier«, sagte er und zeigte ihr die Polaroid.

»Was ist das?« Sie drehte den Fotoapparat in ihren Händen, ließ die Finger über Schalter und Knöpfe gleiten.

»Eine Kamera.«

»Wie an deinem Telefon?«

»Nicht ganz. Pass auf.« Er öffnete eine Filmpackung, lud die Kamera und richtete diese auf sie.

»Und einmal lächeln, bitte.«

Sie machte einen Schmollmund und mit den Fingern ein Peace-Zeichen. Die Kamera blitzte und surrte, dann spuckte sie das Bild aus. Sie nahm es ihm ab.

»Da ist ja nichts drauf«, sagte sie und starrte auf das weiße Quadrat.

»Warte.«

Langsam erschien ihr Gesicht, und sie hob die Augenbrauen.

»Wow«, sagte sie. »Kann ich die mit in die Schule nehmen?«

»Klar, aber verplemper den Film nicht. Ist nicht so wie digital. Wenn der Film alle ist, dann war’s das. Mach was draus, jede Aufnahme ist einzigartig.«

»Komm, wir machen ein Selfie«, sagte sie.

Er verdrehte die Augen, beugte sich aber dennoch dicht zu ihr, hielt die Kamera in der ausgestreckten Hand und drückte auf den Auslöser. Blitz und Surren. Er hielt das Foto, bis das Bild auftauchte, zwei lächelnde Gesichter, ein für immer eingefangener Moment. Er gab ihr die Aufnahme, doch sie schüttelte den Kopf.

»Behalt du das«, sagte sie. »Damit du mich nicht vergisst, während ich in der Schule bin.«

Er starrte das Bild an, während sie die Kamera in ihrer Tasche verstaute.

»Komm, gehen wir«, sagte sie. »Ich will die Kleinen sehen.«

Tyler schob das Foto in seine Tasche und schaltete den Fernseher aus, dann schnappte er sich beide Schultaschen und begleitete sie aus der Tür, während er die ganze Zeit daran dachte, wie sich die Hand der Frau hob und dann wieder auf den lackierten Parkettboden fiel.


Sie umrundeten das Baugelände und gelangten zu einem einzelnen, verfallenen Haus. Bean hielt Tylers Hand und sang die Titelmelodie der letzten Fernsehsendung. Als alle anderen Häuser abgerissen worden waren, hatte man aus irgendeinem Grund dieses eine stehen lassen, aber schließlich zogen auch dessen Bewohner aus, und jetzt war es praktisch nur noch eine Betonfassade mit einem zerfallenden Dach, umgeben von Brachland.

Sie gingen auf die Rückseite zu einem der zugenagelten Fenster, wo die Bretter locker waren. Aus Gewohnheit sah Tyler sich um. Nur die Neubauten von Sandilands Close am Horizont, das Krankenhaus, weiter südlich Bürogebäude. Jemand ging mit seinem Hund auf halber Höhe des Craigmillar Hill spazieren. Er war immer in Sorge, dass sich Junkies in diesem Haus einnisteten. Er zog das Brett vom Fensterrahmen, warf einen Blick ins Innere und hörte leises Winseln. Er hob Bean durch den Spalt, achtete darauf, dass sie nicht mit der Uniform an einem der Glassplitter des Fensterrahmens hängen blieb. Er kletterte nach ihr hinein und wartete einen Moment, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.

»Snook.« Bean lief zu dem Mischling auf der Matratze. Sie war halb Collie, halb irgendwas anderes, hatte ein schwarz-weißes Fell, ein eingerissenes Ohr, das rechte Auge blutig unterlaufen. Ihr Schwanz klopfte auf den Rand der Matratze, als Bean ihre Ohren wuschelte und dafür im Gesicht abgeleckt wurde. Um Snooks Zitzen herum schnüffelten drei schlaftrunkene Welpen.

Sie hatten sie vor einer Woche auf dem Heimweg nach der Schule gefunden, als sie gerade die Kleinen zur Welt brachte. Sie lag keuchend und leise jaulend unter einem Strauch am Straßenrand. Bean hatte gefragt, was da gerade passierte, und Tyler hatte versucht, es ihr zu erklären. Er hatte gesagt, sie solle das Tier beruhigen, und Bean hatte sich voll in diese Aufgabe gestürzt, hatte einen endlosen Strom von rührseligem Kauderwelsch geflüstert, der Hündin Ohren und Nase gestreichelt, sie verhätschelt, als gehörten sie alle zu einem Rudel. Als der erste Welpe herauszukommen begann, sah Bean mit riesengroßen Augen zu. Ihre Hand blieb auf der Schnauze des Hundes liegen. Snook winselte und begann, Beans Hand zu lecken, und sofort setzte sie das Streicheln fort, redete ihr weiter ins Ohr, behielt diesmal jedoch den Blick fest aufs Hinterteil gerichtet, hob die Augenbrauen, als der erste Welpe herausglitt und ein zweiter folgte. Tyler legte den ersten dicht neben die Schnauze seiner Mum, und Snook bewegte ihren Kopf fort von Bean und fing an, den Welpen abzulecken.

Zehn Minuten später waren es alles in allem drei pelzige kleine Dinger, die saugende Geräusche von sich gaben und sich wanden. Es fing an zu regnen. Tyler zog die Jacke aus und packte die Welpen hinein, band die Ärmel zusammen und gab sie Bean.

»Sei vorsichtig.«

Er hatte Snook auf den Arm genommen, und dann joggten sie den Hang hinunter. Tyler wollte sie eigentlich mit in die Wohnung nehmen, musste dann aber an Barry denken. Der Himmel allein wusste, was er mit drei neugeborenen Welpen und einer erschöpften Mutter machen würde. Schon schlimm genug, wie er seine eigenen Hunde behandelte.

Also blieb Tyler vor dem Haus stehen, in dem sie sich jetzt befanden, fand auf der Rückseite einen Weg hinein und quartierte Snook und die Welpen dort ein. Bei nachfolgenden Besuchen hatten sie alles Nötige für die Hunde mitgebracht: eine alte Matratze von der Straße als Schlafplatz, Eiscremebehälter aus Plastik als Schalen für Futter und Wasser. Tyler gefiel, wie einfach es war. Essen, Unterschlupf und eine Mum, die sich um einen kümmerte, mehr brauchte man nicht, um am Leben zu bleiben.

Er betrachtete Bean, die jetzt mit den Welpen spielte. Er hatte hier keinen langfristigen Plan, keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie älter wurden. Für immer konnten sie hier nicht bleiben, aber vorläufig reichte es aus. Es war ein gutes Gefühl, so als hätte man alles voll im Griff und unter Kontrolle.

Er leerte Hundefutter in die Schale und füllte auch Wasser aus dem Hahn im Bad nach. Aus irgendeinem Grund war das Wasser nie abgestellt worden. Bei seiner Rückkehr stocherte Snook im Futter herum, und die Welpen winselten, als sie sie aus dem Weg schubste.

Tyler sah auf seine Uhr.

»Wir müssen los.«

»Oooch …«

»Wir können ja nach der Schule noch mal kurz reinschauen.«

»Wann können wir mit ihnen spazieren gehen?«

»Hab ich dir doch gesagt: Die Welpen sind noch zu klein. Und ihre Mummy können wir ihnen auch nicht wegnehmen.«

Bean dachte darüber nach. Dieses Mutter-und-Babys-Ding weckte alle möglichen Gedanken in ihrem Kopf, und das gefiel Tyler gar nicht. Er wollte sie einfach nur rechtzeitig in die Schule bekommen, dann wieder nach Hause, dann morgen früh dasselbe und am nächsten Tag wieder.

»Verabschiede dich«, sagte er.

Bean fasste Snooks Hals an, dann hob sie nacheinander jeden Welpen hoch und knuddelte ihn. Tyler verdrehte die Augen. Bean nahm die Polaroid aus der Tasche, richtete sie auf die Hunde. Es blitzte. Sie strahlte zuerst Tyler an, dann die Aufnahme, verstaute schließlich alles in ihrer Tasche.

»Wir sehen uns nach der Schule«, sagte Bean zu den Hunden. »Passt gut auf euch auf!«


Die Craigmillar Primary war ein Backsteinneubau, gesichert durch Überwachungskameras und einen mit Spitzen versehenen Zaun. Die Grundschule war im Zuge des PPP-Skandals vor einem Jahr geschlossen worden, nachdem eine Mauer in einer ähnlichen Schule am anderen Ende der Stadt eingestürzt war, allerdings hatte man hier keine Mängel finden können, weswegen die Schule wieder geöffnet wurde. Sie war erheblich besser als das verfallende Dreckloch, das Tyler ein paar Jahre zuvor besucht hatte, und hundertmal netter als die benachbarte Bruchbude der Castlemound High, auf die er jetzt ging.

Bean ließ seine Hand los, als sie durchs Tor kamen, und rannte zu Isla und Aisha, die sich gegenseitig ihre JoJo-Siwa-Haarschleifen zeigten. Bean war schon seit Ewigkeiten scharf auf eine, aber die Dinger kosteten neun Tacken das Stück. Vielleicht sollte er ihr eine von dem Geld besorgen, das er am Abend zuvor abgezweigt hatte, aber er wusste nie, wie viel Zeit zwischen Zahltagen lag, also hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er Geld für Luxussachen ausgab statt für Essen und Strom. Und jetzt musste er obendrein auch noch Hundefutter kaufen.

Für ihre Freundinnen hieß Bean Bethany, nur zu Hause wurde sie Bean genannt. Tyler konnte sich nicht erinnern, wie das angefangen hatte, hoffte aber, dass es nicht Barrys Idee gewesen war, von dem nie was Gutes kam. Vielleicht weil sie so klein war, ganze fünfzehn Zentimeter kleiner als Isla und Aisha.

Die Glocke ertönte und Bean und ihre Freundinnen schlenderten zu der Schlange wartender Schulkinder hinüber. Tyler blieb zurück bei den Mums. Manche von denen waren nicht viel älter als er selbst, was bedeutete, sie hatten ihre Kinder bekommen, als sie selbst noch zur Schule gingen. Tyler wartete, ob Bean noch einmal herübersah, als Miss Kelvin sie hereinrief, aber sie quatschte mit Aisha und war völlig in ihrer eigenen Welt versunken.

Er ging, vermied jeden Blickkontakt mit Miss Kelvin und den Mums, dann trat er durchs Tor und bog nach links, in die entgegengesetzte Richtung zur Highschool. Er ging den Niddrie Farm Grove hinunter, vorbei an den rot-weißen Reihenhäusern und der Arztpraxis, und kam an der Bushaltestelle heraus. Er wartete einige Minuten, dann sprang er in einen 30er Bus, in dem er seinen gefälschten Ausweis an das Fahrkartendings drückte. Er hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem Bruch mitgehen lassen und sein eigenes Foto über das des eigentlichen Besitzers geklebt. Martin Lawrence. Das Ding war nicht für ungültig erklärt worden, daher funktionierte es immer noch. Das Computersystem von Lothian Buses hatte ganz offensichtlich Lücken. Die Leute denken immer, Sicherheitssysteme seien dazu da, sie zu schützen, aber in neun von zehn Fällen funktionieren sie ganz einfach nicht. Es sind besondere Berechtigungen erforderlich, um sie miteinander zu vernetzen, damit sie kommunizieren, und wer hat schon Zeit für so was? Über jedem schwebt das Fallbeil, jeder Job ist gefährdet, Etats werden gekürzt, alle müssen länger für weniger Geld arbeiten. Ein Teenager, der mit der Dauerkarte von irgendwem für lau Bus fährt, ist den Leuten doch so was von scheißegal. Sie interessieren sich nicht für eine Xbox, die durch eine Versicherung abgedeckt ist, auch nicht für ein Auto, das bei einem Hehler landet. Sie bekommen Ersatz, schicker und schöner als das gestohlene Teil, mit mehr Ausstattung, besserem Navi, Bluetooth fürs iPhone, beheiztem Fahrersitz.

Er stöpselte seine Ohrhörer ein und spielte Boards of Canada. Alle anderen in seinem Jahrgang hörten Hip-Hop oder Metal. Er hatte zu Hause schon mehr als genug zornigen Scheiß. Er liebte Boards of Canada, bei denen sich die Zukunft wie eine Projektion aus der Vergangenheit anhörte. Er hatte gegoogelt und herausgefunden, dass es zwei Brüder aus East Lothian waren, die nie Interviews gaben und auch nicht live auftraten, was ihm gefiel.

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