Kitabı oku: «Medizin ohne Moral», sayfa 2
Abschied von Hippokrates
Einleitung
Wünschen Sie sich einen Arzt, mit dem Sie über alle Fragen sprechen können? Der genau hinhört und Sie mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und mit Empathie in leichterer wie schwerer Erschütterung begleitet? Jemand, der mit Ihnen unvoreingenommen alle therapeutischen Optionen durchspricht und vielleicht wichtige Fragen stellt, die Ihnen zu eigener Erkenntnis verhelfen? Einer, der sich nicht abwendet, wenn Ihr Schicksal schwierig oder sogar aussichtslos erscheint, und Sie noch begleitet, wenn Heilung nicht mehr möglich ist? Wenn Sie sich eine solche Ärztin oder einen solchen Arzt wünschen, werden Sie es nicht mehr leicht haben, diese zu finden.
Viele von denen, die in den letzten Jahren medizinische Hilfe brauchten, werden dies schon gespürt haben. Wer im Wesentlichen gesund war oder sich selbst helfen konnte, mag darauf vertrauen, dass seine monatlichen Krankenkassenbeiträge im Ernstfall für gute Hilfe sorgen. Viele Jahre lang war dieses Vertrauen gerechtfertigt, denn unser Gesundheitssystem galt im internationalen Vergleich als sehr gut. Doch die Nachrichten der letzten Jahre lassen erkennen, dass unser Vorsorge-Ruhekissen Löcher bekommen hat. Immer mehr Leistungen werden eingeschränkt oder ausgeschlossen, dazu ängstigen uns Berichte von Mängeln der alltäglichen Versorgung. Der Pflegenotstand, der Ärztemangel, die langen Wartezeiten in der Notdienst-Versorgung sowie Lieferengpässe bei Medikamenten. Die Klagen darüber, dass die Medizin an Menschlichkeit verliert und die Ökonomisierung viel zu sehr im Vordergrund steht, häufen sich.
Die gute Nachricht lautet: Das Gesundheitssystem könnte durchaus unseren Bedürfnissen entsprechen! Wir haben ein großes Potenzial, wirtschaftlich, technologisch und erfahrungsbasiert. Auf dem Weg dahin werden wir aber vieles ändern müssen. Davon werde ich Ihnen berichten.
Durch meine Ausbildung zum Internisten bin ich natürlich von wissenschaftlichen Erkenntnislehren geprägt. Wissensdurst und Offenheit haben mich aber auch in verschiedene Randbereiche der Medizin und auf Wege der komplementärmedizinischen Heilweisen geführt. Der Blick auf den ganzen Menschen wurde zunehmend wichtiger, über die körperlichen Beschwerden hinaus auf seine seelischen, geistigen und biographischen Besonderheiten. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich an lokalen gesundheitspolitischen Entscheidungsprozessen teilgenommen und ein Ärztenetzwerk mit aufgebaut. Historisch habe ich mich mit der Medizin in der Weimarer Zeit und dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Ungeachtet meines Alters bin ich noch heute als Kassenarzt in einer großen hausärztlichen Versorgerpraxis im Berliner Bezirk Wedding tätig. Patienten aller Altersgruppen, gesellschaftlicher Schichten und ethnischer Wurzeln finden den Weg zu mir. Auch wenn die Aussage schlicht wirken mag: Ich liebe meinen Beruf und ich liebe meine Patienten. Das war der Zündfunke für dieses Buch. Mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen möchte ich dazu beitragen, dass die Medizin auch in der Zukunft menschlich bleibt.
Praxisalltag – der tägliche Turbo
Montagmorgen, kurz vor acht. Eine Stunde lang habe ich mich durch den Berufsverkehr geschlagen und zwischendurch drei meiner Kinder samt zwei Nachbarssprösslingen vor der Schule abgeliefert. Von dort aus ging es schnurstracks in meine Praxis. Vor dem Eingang steht eine Menschenschlange, die sich über das Treppenhaus bis in den zweiten Stock hinaufzieht. Grüßend quetsche ich mich an den Patienten vorbei. Im Wartezimmer sind die Sitzplätze schnell besetzt, einige warten im Stehen. An der Anmeldung bemühen sich zwei Helferinnen um die Wünsche der Patienten.
Zwei weitere betreuen die Menschen in einem zweiten Raum im Erdgeschoss, den ich für nicht Gehfähige vor einigen Jahren dazugemietet habe. Es werden Blutuntersuchungen vorgenommen, Rezeptwünsche befriedigt, Überweisungen getätigt, Atteste ausgestellt, Krankschreibungen ausgehändigt, Verbände angelegt, Fäden gezogen und kleine Behandlungen durchgeführt. Kaum einer der Wartenden murrt, denn für jeden ist sichtbar, dass alle ihr Bestes geben. Enzar, der bei mir angestellte Allgemeinmediziner, und ich, hören uns die Schilderungen der Beschwerden, Sorgen und Wünsche an. Wir untersuchen, sprechen und beraten.
Die junge Frau Bayer bitte um eine Krankschreibung, weil sie „nicht mehr kann“. Sie bricht in Tränen aus. Ihre zwei Kinder erzieht sie allein. Kürzlich wurde ihr Zwölfjähriger aufgrund eines Knochenbruchs operiert. Ihn begleitet sie zur Physiotherapie, die Neunjährige bringt sie zur Mathematik-Nachhilfe. Frau Bayer ist unermüdlich in Bewegung und hat keine Unterstützung an ihrer Seite. Sie selbst arbeitet als Verkäuferin. Seitdem sie sich von ihrer Vorgesetzten Vorwürfe machen lassen musste, weil sie für wichtige Angelegenheiten ihrer Kinder einen Tag frei nehmen wollte, fehlt ihr die Kraft für alles. Ich signalisiere großes Verständnis für ihre Überforderung und biete ihr eine Krankschreibung an. Aus Angst, ihren Job zu verlieren, lehnt sie ab, nimmt aber meinen Vorschlag an, sich bei einer Mutter-Kind-Kur zu erholen.
Das Formular dafür stellt umfangreiche Fragen. Besorgt blicke ich auf meinen Bildschirm, ob die Zeit reicht, den Antrag gleich jetzt zu stellen. Die Liste der Patienten, die auf mich warten, füllt sich. Ich rate Frau Bayer, zum Kinderarzt zu gehen, damit dieser ihrem Nachwuchs ebenfalls eine Kurnotwendigkeit bescheinigt. Andernfalls bestünde die Gefahr eines Zuständigkeitsgerangels zwischen der Rentenversicherung und der Krankenkasse. Ich muss sie darauf vorbereiten, dass der Antrag zunächst abgelehnt werden könnte. In dem Fall müsse sie einen von mir begründeten Widerspruch einlegen.
Unser Gespräch schließe ich mit den Sätzen: „Sie ackern sich ab und Ihnen werden dennoch so viel Steine in den Weg gelegt! Leider hat unsere Leistungsgesellschaft kaum Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern und ihren Eltern. Sie können aber stolz auf sich sein, weil Sie allein so viel für Ihre Kinder erreicht haben. Wir werden den Antrag schon durchkriegen. Ich kümmere mich darum, dass Sie zu ihrem Recht kommen.“ Die Warteliste hat sich inzwischen weiter verlängert. Ich denke daran, dass der Stapel mit dem Schreibkram um einen weiteren Antrag gewachsen ist.
Seitdem die Kostenträger dazu übergegangen sind, sozialrechtliche Anträge im ersten Schritt meistens abzulehnen, weil sie darauf spekulieren, dass ein Teil der Antragsteller aufgibt, sind wir Ärzte ständig mit diesem Thema beschäftigt. Genehmigungen gibt es häufig erst nach Widersprüchen, manchmal sogar erst nach sozialgerichtlichen Entscheidungen. Gesetzliche Ansprüche mit solcher Methodik zu unterlaufen bedeutet für uns Ärzte zusätzliche langwierige Konsultationen, das erneute Durchforsten der Krankenakten und weitere Schreibarbeit.
Als Nächste betritt die siebzig Jahre alte Frau Müller mein Sprechzimmer, deren Ehemann letzte Nacht verstarb. Ich spreche ihr mein Beileid aus und lasse mir die Umstände des Todes berichten. Die Tränen fließen auch noch, nachdem ich ihr das dritte Taschentuch reiche. Gemeinsam mit ihr erinnere ich an die Besonderheiten und guten Eigenschaften des Verstorbenen und versichere ihr, dass der Tod nicht abzuwenden gewesen sei und dass sie alles Erdenkliche für ihren Mann getan habe.
Ich schlage ihr vor, sie solle zuhause eine Kerze anzünden, zu ihrem Mann sprechen und alles sagen, was ihr auf dem Herzen liege. Wenn ihr danach wäre, könne sie sich bei ihm für das bedanken, was er ihr gegeben habe. Wir wissen es nicht, aber vielleicht komme es bei ihm an. Sie selbst glaubt fest an sein Weiterleben in irgendeiner Weise und ich bestätige, dass ich dies nachvollziehen kann. Sie verlässt leicht getröstet das Sprechzimmer.
Ein Blick auf den Monitor: Die Wartezeiten werden zunehmend rot angezeigt. Dazu kommen zwei Terminpatienten, die Vorrang vor den anderen haben. Langsam beginne ich mich bei jedem für die lange Wartezeit zu entschuldigen. Zwar wissen sie eigentlich, dass ich mein Bestes tue und nichts dafürkann, aber eine kurze Entschuldigung löst meist die Anspannung des langen Wartens. Zwei Patienten brauchen nach kurzer körperlicher Untersuchung nur eine Krankschreibung. Damit habe ich etwas Zeitverlust aufgeholt.
Der nächste Patient, Herr Celik, kommt, weil seine Rehabilitationskur abgelehnt wurde. Er ist zutiefst getroffen. Nach 25 Jahren schwerer körperlicher Arbeit, in denen er sich so gut wie nie krankschreiben ließ, war dies sein erster Versuch, sich etwas Luft zu verschaffen. Ich versichere ihm, dass die Sachbearbeiter derzeit bei jedem fast gleichlautende Ablehnungsschreiben ausfertigen und er dies nicht persönlich nehmen solle. Ich rate ihm zum Widerspruch und verspreche, gemeinsam mit ihm um die Bewilligung zu kämpfen. Im Stillen sorge ich mich, schon wieder einen Antrag mehr bearbeiten zu müssen.
Herr Celik übergibt die Staffel an Frau Schubart. Die knapp Sechzigjährige klagt über Harndrang und Brennen beim Wasserlassen. Schon seit vier Wochen plagen sie die Beschwerden, vorübergehend besserten sie sich, flackerten aber nach kurzer Zeit wieder auf. Eine einfache und leicht zu klärende Gesundheitsstörung, wie es scheint. Da ich es mir dennoch prinzipiell zur Pflicht gemacht habe, die Menschen nach den Zusammenhängen zu fragen, unter denen ihre Symptome auftreten, erfahre ich, dass Frau Schubarts Beschwerden mit ihrem Abflug nach Asien begannen. Schon oft habe sie in Fernost Urlaub gemacht und sei dort seit Jahrzehnten mit einem Asiaten rein freundschaftlich verbunden. Das Umfeld seines Hauses, seine Freunde und seine Ehefrau bedeuten für sie so etwas wie ihre eigentliche Heimat, in der sie sich rundum wohlfühlt. Ich möchte wissen, wieso sie diese Geborgenheit nicht auch in Deutschland empfindet. Daraufhin schildert sie mir ihre Kindheit. Ihre Mutter hatte drei Kinder, zwei von ihrem ersten Mann, der im Krieg blieb. Sie selbst stammt von einem anderen Mann, der kein Interesse an seiner Tochter zeigte. Ihre Mutter, die über medizinische Kenntnisse verfügte, hatte heimlich anderen Frauen bei Abtreibungen geholfen, da es zu dieser Zeit keine legalen Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs gab. Diese Tätigkeit bescherte ihr mehrere Jahre Haft. Im Rahmen der rigiden Moralauffassung der jungen Bundesrepublik wurde ihr vom Jugendamt zudem über Jahre der Kontakt zu ihren Töchtern verwehrt.
Frau Schubart kam als Mädchen in mehrere Heime, die sie überwiegend in schlechter Erinnerung hat. Das letzte ebnete ihr immerhin den Weg zu ihrem Beruf als Erzieherin. Nach vielen Jahren ohne Kontakt konnte Frau Schubart später keinen innigen Zugang mehr zu ihrer Mutter finden. In der warmherzigen Atmosphäre ihrer asiatischen Bekannten verspürte sie erstmals in ihrem Leben das Gefühl echter familiärer Nähe. Doch nun hatte sie auch das verloren, denn schon vor dem Abflug zu ihrer letzten Auslandsreise hatte ihr der Bekannte mitgeteilt, dass er sie nicht mehr als Gast in seinem Haus aufnehmen könne. Die Ehefrau sei dagegen. Rational konnte Frau Schubart das akzeptieren. Sie wollte keinesfalls, dass wegen ihr Schwierigkeiten entstünden, und mietete sich woanders ein. Emotional jedoch war der Zauber eines ungebrochenen Heimatgefühls zerstört.
Im Gespräch kamen wir gemeinsam auf die Interpretation, dass ihre Harnwegsinfektion symbolisch für die Trauer über den genannten Verlust steht. Dies deckte sich mit meiner Erfahrung, dass Harnwegsinfektionen neben den bekannten Auslösefaktoren sehr häufig Konflikte im nahen Beziehungsbereich zur Ursache haben. Ich riet daher zunächst von einer antibiotischen Therapie ab und empfahl ihr, neben dem Einsatz eines Naturheilmittels ihre Krankheit versuchsweise durch ihre seelische Auseinandersetzung mit dem Thema Heimat zu heilen. Ich gab ihr zu Bedenken, dass ihre Mutter als Alleinerziehende mit drei Kindern Erstaunliches geleistet habe. Nun sei es an der Zeit, ihr die Würde, welche ihr der Staat damals genommen hat, wieder zurückzugeben. Die Ursache des spärlichen Kontaktes lag nicht in der mangelnden Liebe und Fürsorge ihrer Mutter, sondern in der aus dem Preußentum und dem Nationalsozialismus tradierten, empathielosen Härte. Vielleicht könne Frau Schubart ja heute, wo sie selbst so alt sei, wie damals ihre Mutter geworden ist, eine innere Versöhnung finden. Einen Frieden, der ihr ein Stück des verlorenen Aufgehoben-Seins wiedergibt. Den Verlust der asiatischen Heimat möge sie nicht als Unrecht, sondern als Wink des Schicksals begreifen, um nun an dem Ort, an dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat, besser zu wurzeln.
Die Geschichte von Frau Schubart, die zudem in ihrem Berufsleben als Erzieherin ihren Schützlingen all das geben wollte, was sie selbst vermisste, hat mich sehr berührt. Doch der Ausflug in die ganzheitliche Betrachtung der Beschwerden hat wieder einmal Zeit gekostet, die mir eigentlich nicht zur Verfügung steht. Ein Patient war nach dreistündiger Wartezeit entnervt gegangen. Die noch Wartenden zeigten sich sichtlich unruhig, manche sogar erbost.
Aufgrund solcher Situationen ertappe ich mich dabei, entgegen meiner Überzeugungen die Weiterbildungsassistentin zu mehr Eile in ihrem Sprechzimmer antreiben zu wollen. Dabei bräuchten gerade die jungen Mediziner Zeit und Ruhe, um die tiefere Betrachtung des Patienten zu trainieren. Die Kunst, solche Fragen zu stellen, durch die man sogar bei knappem Zeitbudget zum ganzheitlichen Kern des Problems vorstoßen kann, habe ich in einer Epoche gelernt, die noch ausreichend Raum für das Sammeln eigener Erfahrungen ließ. Solche Lernbedingungen wird meine Assistentin nicht mehr haben.
Meine Konsultationen werden unterbrochen von EKG-Beurteilungen, Anrufen von Kollegen aus dem Krankenhaus, wichtigen Nachfragen der Helferinnen und Unterschriften unter Rezepte, Atteste und Formulare. Jede dieser kleinen Tätigkeit muss aber auf ihre Stimmigkeit geprüft werden. Immer wieder bimmelt das Telefon oder öffnet sich die Sprechzimmertür. Wegen der schweren Luftnot eines gehunfähigen Patienten ruft man mich ins Erdgeschoss. Meine Weiterbildungsassistentin bittet mich das dritte Mal, ihre Einschätzung eines Patienten zu überprüfen. Sie hat das Recht auf eine gute Weiterbildung, weshalb ich ihre Fragen ausführlich beantworte. Den Arbeitsdruck, der auf mir lastet, lasse ich mir nicht anmerken. Ich bleibe stets freundlich. Niemand soll das Gefühl haben, er dürfe wichtige Fragen nicht klären. Ein gutes Arbeitsethos und das Vertrauen untereinander sind die besten Garanten dafür, dass Fehler vermieden werden. Fehler, die in der Medizin leicht unverzeihlich werden können.
In der kurzen Spanne zwischen zwei Patienten nehme ich einen Schluck Café Latte. Meinen Toilettengang habe ich nun das dritte Mal verschoben, eine kurze Pause und eine kleine Mahlzeit gönne ich mir erst nach sechs Stunden. Als sich zwei Stunden später das Sprechstundenzeitfenster schließt, müssen noch aktuelle Befunde und Laborwerte gesichtet und Rückrufe getätigt werden. Gottlob wartet heute wenigstens kein Hausbesuch auf mich. Grob überschlagen war ich mit über fünfzig Patienten befasst. Etwas Schreibkram mit Anträgen und Attesten nehme ich mit nach Hause. Ein ganz normaler Arbeitstag.
Der Berufsanfang – Vom Wert, sich Zeit zu nehmen
Auf der Heimfahrt kommt mir die Zeit in Erinnerung, als der Alltag noch ganz anders war. In der Klinik blieb oft Zeit für ein Gespräch mit den Patienten und dem Stationspersonal. Mittags schlenderten wir jungen Ärzte in die Cafeteria, nicht ohne angeregte Gespräche untereinander oder mit dem Personal anderer Abteilungen zu führen. Zwar gab es auch zu Beginn meiner Berufstätigkeit Situationen der Überforderung, doch diese waren tatsächlich noch Ausnahmen innerhalb eines grundsätzlich langsameren Tempos.
Eine Extremerfahrung allerdings erlebte ich schon sehr früh als Medizinalassistent, der damaligen praktischen Vorbereitungsphase vor der finalen Anerkennung als Arzt. In einem kleinen christlichen Versorgungskrankenhaus in Westfalen wurde ich schnurstracks ins kalte Wasser geschmissen. Nach kurzer Einarbeitungszeit verließen die beiden Assistenzärzte der inneren und der chirurgischen Abteilung sowie der Oberarzt ihre Arbeitsstätte. Damit waren die zweite Medizinalassistentin und ich allein mit dem Chefarzt, einem schwer umgänglichen Mann. Unerfahren, wie wir waren, hatten wir zwei Stationen zu führen, die Notfallambulanz zu betreuen, mit dem Notarztwagen rauszufahren und bei Operationen zu assistieren. Die Schwestern, die Pfleger und wir Assistenten halfen uns gegenseitig, diese viel zu große Verantwortung zu stemmen und grobe Fehler zu vermeiden. Da wir auch noch täglich abwechselnd nächtliche Rufbereitschaft hatten, bewegten wir uns ständig an unseren physischen und psychischen Grenzen, manchmal auch darüber hinaus.
Nach dieser überaus erschöpfenden Zeit unternahm ich mit meinem besten Freund eine Afrikareise durch Ägypten, Somalia, Äthiopien, Kenia und Tansania. Einige Male kam ich dazu, in Notsituationen meine bisherigen Kenntnisse anzuwenden. Die Verfügbarkeit medizinischer Hilfe war rar und hing noch dazu oft von der Unterstützung der Familie oder des Stammes ab, die dort das eigentliche soziale Netz bilden. Trotz der im Vergleich zum Reichtum der nördlichen Halbkugel großen Armut begegnete mir auf diesen Reisen weitaus mehr Fröhlichkeit und Lebenslust, als ich es aus meinem bisherigen Umfeld gekannt hatte. Im Unterschied zu uns leben die Menschen ganz in der Gegenwart und machen sich kaum Sorgen um die Zukunft. Gefühlt blieb die Zeit ähnlich stehen, wie ich es nur aus Kindertagen kannte, wenn der Tag manchmal nie zu enden schien. Eine unvergessliche Erfahrung.
Nach meiner Rückkehr brauchte ich mehrere Monate, um mich wieder an unser Tempo zu gewöhnen. Während der folgenden Tätigkeit in einem Kinderkrankenhaus hatte ich Mühe, mit der Schnelligkeit der Visiten Schritt zu halten. Noch unter dem frischen Eindruck meiner afrikanischen Reise festigte sich in mir schon früh die Überzeugung, wie wenig die Lebensfreude von materiellem Wohlstand abhängt und wie sehr umgekehrt die Geschwindigkeit unseres Lebensstils mit seinem chronischen Zeitmangel uns die Leichtigkeit und Unbeschwertheit nimmt.
Es folgte eine fünfjährige Ausbildung zum Internisten im Rudolf-Virchow-Krankenhaus, einem damals großen kommunalen Berliner Versorgungskrankenhaus mit nahezu allen Fachabteilungen. Später wurde es ein Standort des Universitätsklinikums der Charité. Mein Chef war der renommierte Infektiologe Professor Hans-Dieter Pohle, der als Erster in Europa eine Isolierstation aufgebaut hatte, die sogar geeignet war, hochansteckende Krankheiten wie die des Ebola-Virus zu behandeln. Wir Assistenten rotierten jeweils halbjährlich auf die gastroenterologische und die kardiologische Abteilung, wurden mehrfach für einige Monate in die Aufnahme abgeordnet und arbeiteten ein Vierteljahr auf der Intensivstation. Mit meinem Facharztexamen konnte man als Internist entweder Hausarztfunktionen ausüben oder sich mehr auf Teilgebiete wie Kardiologie, Gastroenterologie oder Nephrologie spezialisieren. Die spätere strikte Trennung in Hausarztinternisten und Facharztinternisten gab es noch nicht.
Mit Professor Pohle hatte ich einen hervorragenden Lehrmeister bekommen. Er baute auf die Kette ehrwürdiger Infektiologen auf, die alle in engem Kontakt zwischen Klinik und Forschung standen. Das Robert-Koch-Institut, mit dem wir kooperierten, war nur ein Steinwurf weit von unserer Abteilung entfernt. Die Charakteristika der früheren Infektiologen waren meinem Chef ebenfalls zu eigen: eine bis ins kleinste Detail wachsame Wahrnehmung des Patienten, akribische Anamnese und sorgfältige körperliche Untersuchung. Temperaturverlauf, Hautkolorit, Gewebebeschaffenheit, Geruch, Atembesonderheiten und sogar die Wahl der Worte, mit denen der Patient seine Beschwerden beschrieb, spielten eine Rolle. Der Chef reflektierte die gewonnenen Informationen vor dem Hintergrund seines außergewöhnlich breiten Wissens, das auch angrenzende Fächer wie Dermatologie und Neurologie miteinschloss. Da er durch diese gründliche Vorarbeit das diagnostische Spektrum möglicher Krankheiten schon weitgehend eingrenzen konnte, fehlten ihm nur wenige technische Untersuchungen oder Laborwerte, um sich der Diagnose sicher zu sein.
Einmal wurde Professor Pohle damit konfrontiert, dass ein Ehepaar gleichzeitig an einer ungewöhnlichen Form der Lungenentzündung erkrankt war. Er zweifelte daran, dass es sich um eine Infektion handelte, und bohrte so lange mit Fragen zu den Lebensumständen nach, bis er herausfand, dass die beiden in einem engen Flur ihre Lederkleidung mit einem toxisch wirksamen Spray bearbeitet hatten. Er lag richtig. Kein Infekt, sondern ein gesundheitsschädliches Produkt bildete die Ursache. Für Pohle war jeder neue Fall ein Puzzle, das es zusammenzusetzen galt. Ein kriminalistisch anmutendes Suchen nach den Zusammenhängen der Krankheitsentwicklung. Schnelles Fiebersenken oder der ungezielte Einsatz von Antibiotika gehörten für ihn zu den Todsünden.
Oft war die Krankheit bereits am Fieberverlauf zu erkennen und er verordnete erst Antibiotika, wenn alle Materialien wie Urin, Sputum oder Blut zur Untersuchung abgenommen und die Diagnostik bereits so weit eingegrenzt worden war, dass passgenau das richtige Medikament gegeben werden konnte. Seine eigenen Ansprüche legte er auch an uns Assistenten an: Als ich bei der morgendlichen Besprechung die Anamnese eines von mir im Bereitschaftsdienst aufgenommenen Patienten nicht exakt genug wiedergeben konnte, musste ich sarkastische Seitenhiebe ertragen. Ich fühlte mich so blamiert, dass ich Ähnliches in der Zukunft durch mehr Sorgfalt vermied.
In Anbetracht seiner gelebten Vorbildfunktion von Anamnesegeschick, Untersuchungstechnik, breitem Wissen, wacher Aufmerksamkeit, intellektueller Kombinationsgabe und einem Schuss Intuition, lag die Latte für uns sehr hoch. Der Professor forderte uns zum Duell in treffsicherer Diagnostik heraus und erkannte es durchaus an, wenn jemand ihn mal übertraf.
Allgemein herrschte in der Abteilung allerdings ein gewisser Dünkel der „alten Hasen“ gegenüber dem Nachwuchs. Jeder, der zum Kern dazugehören wollte, hatte sich erst einmal durch ganz besondere Leistungen zu beweisen. Mir gelang es, in diesen erlauchten Kreis aufgenommen zu werden, als ich in einem meiner Dienste einen jungen Mann mit starken Beinschmerzen untersuchte, der schon durch mehrere Facharzthände gegangen war. Dank der bei uns geschulten Untersuchungsmethodik fiel mir an ihm eine merkwürdige Empfindungsstörung auf der Rückenhaut auf. Dieses kleine Detail führte bei weiterer Diagnostik zur Not-OP eines unerwarteten Rückenmarksabszesses, wodurch eine Querschnittslähmung verhindert werden konnte.
Wurden wir Assistenzärzte mit dem Sterben konfrontiert, setzten wir uns zusammen, fühlten uns auf Basis der vorhandenen Kenntnisse in die Person des Sterbenden ein und versuchten, gemeinsam mit den Angehörigen zu einer Entscheidung über den Einsatz von Therapieversuchen, Leidenserleichterung und gegebenenfalls hochdosierter Schmerzbehandlung zu kommen. Es galt als selbstverständlich, dem Sterben einen würdevollen Raum zu geben. Dieses Vorgehen hat jeden von uns für die Grenzfälle in der Medizin geschult.