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Die Weggabelung – ein neues Medizinzeitalter bricht an

Als Gegenstück zum umfassend analysierenden Professor Pohle lernte ich einen Kardiologen kennen: Professor Glitz. Er pflegte ein strikt standardisiertes Vorgehen und verlangte von seinen Assistenten, Schemata rigoros einzuhalten. Mit Fragestellungen außerhalb der Kardiologie befasste er sich nicht und überließ sie anderen Fachkollegen. Dies führte dazu, dass nach der Aufnahme eines Patienten erst einmal eine Vielzahl konsiliarischer Untersuchungen angefordert werden mussten. Auch in medizinischen Grenzsituationen verhielt Glitz sich anders. Als ein Greis mit Massenblutung im Gehirn unwiderruflich im Sterben lag, ließ er ihn nicht einfach gehen, sondern bestand darauf, dass weiterhin alle intensivmedizinischen Behandlungsoptionen ausgeführt werden. Auch an pharmakologischen Studien beteiligte sich die Kardiologie mit Eifer. Dem Oberarzt oblag es, Patienten dafür zu rekrutieren, sie zu informieren und sie in die Studien aufzunehmen. Viele der so Angeworbenen verstanden kaum, worauf sie sich einließen. Auch wenn die Zusammenhänge und Gefährdungspotenziale ihnen fremd blieben, stimmten sie in der Regel zu, um in ihrer abhängigen Situation den Oberarzt nicht zu enttäuschen. Einige Details in der Durchführung der Studien erweckten bei mir den Eindruck, dass ihre großzügige Honorierung einen Anreiz dafür bot, positive Ergebnisse im Sinne der Auftraggeber zu fördern. Mit dieser Einschätzung stand ich nicht allein da.

Im Gegensatz dazu ließ Professor Pohle bei dieser Thematik immer absolute Aufrichtigkeit walten. Sobald er witterte, dass Pharmafirmen auch nur im Ansatz geschönte Ergebnisse erwarteten, lehnte er die Teilnahme an Studien ab. Roch ein Anliegen unlauter, schmiss er die Pharmavertreter sogar aus seinem Dienstzimmer und verwehrte ihnen für die Zukunft jeglichen Besuch. Seine Haltung blieb für mich später gleichermaßen Richtschnur für meine eigenen kritisch abwägenden Therapieentscheidungen.

Der detektivische Professor Pohle und der schematische Professor Glitz symbolisierten damals einen wesentlichen Umbruch in der Medizin. Dass der Kardiologe Glitz schematischer arbeitete, war zu einem gewissen Maße verständlich. Vieles in diesem Bereich, besonders in der Intensivmedizin, benötigt klare Muster. Andererseits bleiben dabei die krankheitsbegleitenden Umstände des Patienten kaum berücksichtigt, obwohl das Herz aus umfassender Perspektive als wichtigstes menschliches Organ angesehen werden kann. Diese Doppeldeutigkeit sah Professor Glitz nicht. Er beschränkte sich strikt auf das Physische seines Fachgebiets.

Mit der Trennung in Spezialgebiete, die heute die Regel ist, gingen die Zusammenhänge der verschiedenen Organschauplätze mehr und mehr verloren. Fortan zählte allein fachbezogenes Spezialwissen. Wer allerdings den Blick von der Gesamtschau der Krankheit abwendet und sich immer nur auf einzelne Symptome fokussiert, verliert das Verständnis für den Menschen in seiner Gesamtheit.

Albert Einstein beschrieb das Problem der zunehmenden Spezialisierung in der Wissenschaft anlässlich einer Laudatio so:

„Unsere Erziehung zum Objektiven hat nämlich aus allem Persönlichen ein »Tabu« werden lassen, gegen das der Sterbliche nur bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten […] sündigen darf. […] Der Kreis des wissenschaftlich erfaßten Tatsachengebietes ist ungeheuer erweitert, die theoretische Erkenntnis auf allen Gebieten der Wissenschaften ungeahnt vertieft worden. Das menschliche Fassungsvermögen aber ist und bleibt an enge Grenzen gebunden. So konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Aktivität des einzelnen Forschers auf einen immer beschränkteren Sektor des Gesamtwissens zurückziehen muß. Noch schlimmer aber ist es, daß diese Spezialisierung es sogar mit sich bringt, daß auch das bloße allgemeine Verständnis für das Ganze der Wissenschaft, ohne das der echte Forschergeist notwendig erlahmen muß, immer schwieriger mit der Entwicklung Schritt halten kann. Es wird eine Situation geschaffen ähnlich derjenigen, welche in der Bibel durch die Geschichte vom Turm zu Babel symbolisch dargestellt ist. Jeder ernsthaft Forschende kennt das schmerzliche Bewußtsein dieser unfreiwilligen Beschränkung auf einen immer engeren Kreis des Verstehens, das den Forscher der großen Perspektiven zu berauben droht und ihn zum Handlanger degradiert.“ [2]

Der weite Blick und die Schulung der Wahrnehmung, die ich von meinem eigentlichen medizinischen Lehrmeister Pohle vermittelt bekommen habe, entpuppten sich später als wichtigste Geschenke für meine Praxistätigkeit. Zum Prinzip einer solchen Persönlichkeitsprägung, die noch dem Humboldt’schen Bildungsideal nahestand, formulierte Einstein:

„Es ist nicht genug, den Menschen ein Spezialfach zu lehren. Dadurch wird er zwar zu einer Art benutzbarer Maschine, aber nicht zu einer vollwertigen Persönlichkeit. Es kommt darauf an, daß er ein lebendiges Gefühl dafür bekommt, was zu erstreben wert ist. Er muß einen lebendigen Sinn dafür bekommen, was schön und was moralisch gut ist. Sonst gleicht er mit seiner spezialisierten Fachkenntnis mehr einem wohlabgerichteten Hund als einem harmonisch entwickelten Geschöpf. […] Dies ist es, was Kultur in erster Linie ausmacht und erhält. […] Überbetonung des kompetitiven Systems und frühzeitiges Spezialisieren unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Nützlichkeit töten den Geist, von dem alles kulturelle Leben und damit schließlich auch die Blüte der Spezialwissenschaften abhängig ist.“ [3]

Nach meinem Facharztexamen fühlte ich mich bestens für die weitere Tätigkeit in der ambulanten Medizin ausgebildet. Die Arbeitswelt der Klinik wollte ich hinter mir lassen. Sie hatte mir zwar ein reiches Erfahrungsfeld geboten, meinen Hunger nach tieferer Erkenntnis und mein Bedürfnis nach einer ganzheitlicheren Medizin aber nicht gestillt. Mir wurde die Gnade zuteil, in einer Zeit selbstverantwortlich ambulant tätiger Arzt zu werden, als noch ein ausreichender Raum für das Erlernen einer umfassenden Perspektive vorhanden war. Auch herrschte gesellschaftlich ein anregendes Klima dafür. Für Patienten und Ärzte hatte die Therapiefreiheit eine hohe Priorität.

Der Niedergang einer menschengerechten Grundversorgung

Eine heftige, unerbittliche Überschrift, ich weiß. Vor allem angesichts der Tatsache, dass wir im Vergleich zu den meisten anderen Industrieländern der Welt überhaupt ein flächendeckendes, allgemeines Gesundheitssystem haben. Gerade deshalb aber sollten wir wachsam sein und darauf achten, wie dieses System sich in seinem Charakter verändert.

Seit den Neunzigerjahren verlagert das System der gesetzlichen Krankenversicherung seinen Schwerpunkt weg von der Fürsorge für eine hochwertige ambulante und stationäre Medizin in der Breite hin zu den Spitzen des technologisch-pharmakologischen Fortschritts.

Einerseits gewannen ökonomische Interessen an Einfluss, andererseits übten die Innovationen große Faszination aus. Die Medien begleiteten diese Verschiebung der Prioritäten mit großen Visionen vom Sieg des technologischen Fortschritts über die „Geißel Krankheit“. Eine Kaskade von Gesundheitsreformen brachte Budgets, Regresse und eine enorm gestiegene Arbeitsbelastung für die Ärzte mit sich. Den Versicherten bescherte sie immer stärkere Einschränkungen ihres Leistungsanspruchs. Alle, die als Pflegepersonal oder Ärzte die Hauptlast in der breiten Grundversorgung tragen, spürten eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen.

Jede sogenannte Gesundheitsreform führte dazu, Geld und Energie aus der Breite und in die Förderung von Hochtechnologie und Pharmazie zu leiten. Die Kosten stiegen rapide. Zugunsten der vielfältigen Spezialisierungen wurde die Grundversorgung, einst die unbestrittene Säule des Systems, massiv abgewertet. In der Aufmerksamkeit. In der Finanzierung. Im Ansehen.

Damit sank auch die Attraktivität des Hausarztberufs. Um die Jahrtausendwende gab es erstmals weniger Hausärzte als Fachärzte. Heute entscheidet sich nur noch ein kleiner Bruchteil der Medizinabsolventen für diesen Beruf. Siebzig Prozent werden Fachärzte. Einen weiteren Teil locken lukrative Angebote der Industrie, der Forschung und des Managements.

Nicht nur die finanzielle und gesellschaftliche Abwertung, sondern auch die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch Bürokratisierung und Arbeitshektik haben zur unvermeidlichen personellen Ausdünnung der Grundversorgung in Krankenhaus und Praxis geführt. Sie äußert sich als Pflegenotstand, Hausarztmangel, lange Wartezeiten in Notfallambulanzen und späte Arzttermine. Kurzum: als Mangel an Raum für die so notwendige menschliche Begegnung.

Als 1996 vor allem die Honorierung der hausärztlichen Gespräche drastisch heruntergesetzt wurde, mussten kleine, gesprächsintensive Praxen aufgeben. Die Kassenärztliche Vereinigung organisierte damals Vorträge, in denen sie uns Ärzten nahelegte, doch einfach ein zweites finanzielles Standbein in unserer Praxis einzurichten: zum Beispiel den Verkauf von Gesundheits- und Ernährungsprodukten.

Ich fühlte mich im Kern meines Arztverständnisses getroffen. Die Hausarztmedizin, die ich mit so viel Anstrengung und Herzblut ausübte, war abgewertet. Von einem Quartal zum anderen bedrohten plötzliche Honorarverluste die Existenz der Hausarztpraxen. Verzweifelt spielte ich mit dem Gedanken, neben meiner Praxis eine Firma für mobilen Kaffeegenuss im Stadtzentrum zu gründen.

Den Verteilungskampf innerhalb der Ärzteschaft gewannen im ersten Schritt die Fachärzte. Sie holten sich über „Vergütungsreformen“ das Geld für ihre Technisierung und Besserstellung aus dem Hausarzthonorar.

Abfällig wurden unsere Hausarztpraxen von einigen als „Quasselbuden“ bezeichnet. Sie fühlten sich zurecht besser honoriert und sahen sich mit ihrem Schwerpunkt auf technische Ausrüstung und teure Innovation als überlegen an. Doch selbst viele Fachärzte zeigten sich nach einer Weile erschrocken von den Geistern, die sie selbst gerufen hatten. Der Fluss des Geldes hin zu denen, die maximal profitabel und an der Spitze des technischen Fortschritts arbeiten, machte selbst vor ihnen nicht halt. Sie gerieten untereinander in Konkurrenz.

In einem zweiten Schritt profitierten später selbst unter den Fachärzten auch nur noch die ganz besonders Spezialisierten.

Den aus diesen Entwicklungen resultierenden Verlust an Menschlichkeit und die Verschwendung der Ressourcen durch überteuerte Medizinprodukte und Pharmaka prangerte ich während meiner Tätigkeit in der Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin an und formulierte schon 1998 in einem Interview durch unser kassenärztliches Mitteilungsblatt:

„Derzeit etabliert sich eine Zweiklassenmedizin, in der die Patienten, die sich in technologisch hochgerüsteten Bereichen bewegen, beispielsweise in speziellen Schwerpunktpraxen, in der hochspezialisierten Kardiologie, der Lasertherapie usw. auf eine Maximalversorgung treffen, die dem Betreiber attraktiv vergütet wird. Diejenigen aber, die der Grundversorgung – egal in welchem Fachbereich – bedürfen, treffen auf ein heruntergefahrenes Versorgungsnetz, in dem sie bei häufiger und intensiver Inanspruchnahme vom Arzt unbezahlte Leistungen abfordern und damit unerwünscht werden. Ich bin allerdings in letzter Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass weder die Ärzteschaft noch die Gesundheitspolitiker die Kraft und den Willen haben, den von mir beschriebenen Trend wirksam umzusteuern.“ [4]

Die Entwicklung machte auch vor den Krankenhäusern nicht halt, in denen fortan mit pauschalen Diagnosen und unterfinanzierten Fallpauschalen gearbeitet wurde.

Die Kliniken begannen mit dem Rosinenpicken zwischen wirtschaftlichen und unwirtschaftlichen Krankheiten. Patienten, die der wenig lukrativen Grundversorgung zuzurechnen waren, wurden schnellstens entlassen. Sie sollten nun vom Hausarzt mittels Hausbesuchen und häuslicher Krankenpflege weiterbetreut werden.

Die Stationsärzte fanden nach jeder Entlassung viel schneller als früher wieder einen neuen Patienten vor. Nur kurze Liegezeiten waren rentabel, sie erhöhten fortwährend die Taktzahl und den Arbeitsaufwand.

Gut vergütet werden seitdem Intensivstationen, Herz-OPs, Transplantationen und ähnlich hochtechnisierte Bereiche. Um zu überleben, bleibt den Krankenhäusern nichts anderes mehr übrig, als die Behandlung von Kranken weniger unter fachlichen, sondern mehr unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten.

Dies führt zu blutigen Entlassungen, unnötigen Operationen und einer Ausdehnung der Intensivmedizin und weiteren strategischen Handlungen.

Ein Bericht über eine Tagung der Bundesärztekammer spricht davon, dass die zunehmende „Kommerzialisierung des Gesundheitssystems“ die Arbeit dermaßen verdichtet habe, dass „die Patientenversorgung und die Gesundheit der Ärzte gefährdet“ sei. Experten forderten „Änderungen am DRG System und mehr Widerstand der Ärzteschaft“. [5] Alle Referenten zogen das gleiche Fazit:

Wirtschaftliche Aspekte sind wichtiger geworden als ethische. Renditejäger beuten zunehmend die Medizin aus.

Solche Appelle an das Management des Gesundheitswesens verhallen jedoch seit Jahren ungehört. Dies wird auch so bleiben, wenn sich niemand traut, die Fehlverteilung der Ressourcen zwischen hochtechnisierter Spezialmedizin und Grundversorgung beim Namen zu nennen.

Eine inhaltliche Schwäche der beschleunigten und kommerzialisierten Medizin ist das Denken in engen Rastern.

Um das System zu optimieren, wurde eine Diagnosekodierung mit künstlich geschaffenen Kategorien eingeführt. Im Schema eines solchen Rasters verblasst der individuelle Charakter von Krankheiten zusätzlich.

Oft entsprechen die Codes kaum noch der realen Behandlungsbedürftigkeit der dahinterstehenden Gesundheitsprobleme. Auf welche Weise und wie intensiv man etwa die mit vielen Krankheiten behafteten Multimorbiden behandelt, hängt gerade davon ab, wie deren Einzelkrankheiten zusammenwirken. Gerade hier ist es entscheidend, das ganze Bild zu erkennen, statt gemäß vorgegebener Codes Einzeldiagnosen aneinanderzureihen. Eine „mittelschwere Depression“ beispielsweise kann völlig unterschiedliche Behandlungskonzepte benötigen und ganz verschiedenen Einfluss auf das berufliche und soziale Leben haben.

Durch das rigide Raster der Diagnose-Codes ist der Konflikt zwischen den Verwaltungsleitern der Krankenhäuser und den Ärzten vorprogrammiert, aber nicht zu lösen.

Im Ergebnis entscheiden nicht mehr medizinische Notwendigkeiten, wohin die Gelder der Gesetzlichen Krankenversicherung fließen, sondern fiktive Stellgrößen und abstrakte Muster, die mit der Praxis wenig zu tun haben.

Die Normen der industriellen Massenproduktion werden unreflektiert auf die Medizin übertragen: schnelles Durchschleusen, bei dem man die Zeit als etwas ansieht, was wegrationalisiert werden müsse.

Mit diesen treffenden Worten beklagte Professor Giovanni Maio, Lehrstuhlinhaber für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2017 auf einem Symposium in Berlin den Zustand der modernen Medizin. Denken werde nicht mehr anerkannt, stattdessen die Stromlinienförmigkeit gepriesen. „Doch ärztliches Handeln ist nicht technisierbar“, schloss Maio, „und das Wohl des Patienten ist nicht verhandelbar.“ [6]

Kontrollkultur und Bürokratisierung

Unter den Kostenkrisen hat sich der Umgang der Krankenkassen mit den Ärzten, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen grundlegend verändert.

Die Kultur des Vertrauens wandelte sich in eine Kultur der Kontrolle.

Schon vor Jahren verbreiteten die Manager der Krankenversicherungen medienwirksam das Credo, es gäbe gar kein Kostenproblem. Vielmehr sei genug Geld da, wenn es denn bloß richtig ausgegeben würde! Die Krankenkassen sprachen in diesem Zusammenhang gern von der „Black Box“ des Gesundheitswesens, in der das Geld versickere. Sie ignorierten die Tatsache, dass das Geld eben gerade nicht in der Breite versickert, sondern gezielt in Richtung teurer Innovationen gelenkt wird, und taten so, als liege das eigentliche Problem in einem Mangel an Qualität in der Grundversorgung.

Genau jener Grundversorgung, der sie selbst das Wasser abgruben, darauf bauend, aus der Konkurrenz der Akteure im Gesundheitswesen Honig saugen zu können. Als Sachverwalter der Gelder aller Versicherten übernahmen sie das Narrativ der Pharmaindustrie und der Medizintechnik und begriffen nicht, dass sie sich damit ins Dickicht eines von Lobbyismus getriebenen Drucks zu mehr Profit und Wirtschaftlichkeit begaben, den sie nicht mehr unter Kontrolle bekommen.

Die Forderung, das Geld dürfe in Zukunft nur noch im Sinne einer von der Wissenschaft definierten Qualität ausgegeben werden, engte die Behandlungsfreiheit der Ärzte immer mehr auf die Vorgaben von Fachverbänden und Universitäten ein. Die akademische Perspektive mit ihrer stark biologisch-somatisch ausgerichteten Sicht erhielt Monopolstatus. Und da viele Fachverbände wie auch Universitätseinrichtungen in enger Kooperation mit der forschenden Pharmaindustrie und der Medizintechnologie stehen, erhielten gerade diejenigen, die am stärksten kostentreibend wirkten, direkten Einfluss auf die Stellschrauben der medizinischen Behandlung.

Die „Qualität“ einer Behandlung wurde nur noch rein technisch definiert. Und wo ausschließlich Zahlen zählen, erhält man die Rechtfertigung zu immer mehr Kontrolle. Damit begann die Überbürokratisierung des Helfens in Medizin und Pflege.

Um die Kontrolle ausüben zu können, standardisierte man die Arbeitsvorgänge, damit sie messbarer und vergleichbarer wurden.

Was bedeutet dieser Bürokratieterror in der Praxis? Konnte der Arzt früher Maßnahmen wie die Krankengymnastik mit begründender Diagnose einfach auf einem Rezept verordnen, musste er nun einen 200 Seiten langen Heilmittelkatalog befragen, in dem genau festgelegt ist, bei welcher Diagnose man mit welcher Schlüsselnummer wie viele und welche Heilmittel verordnen darf. [7]

Ein Antrag für eine medizinische Kur über die Krankenkasse enthält vier Durchschreibebögen mit 38 Spalten und Kästchen, die ausgefüllt und angekreuzt werden müssen. Auf ihm wird nicht nur nach den begründenden Diagnosen gefragt, sondern auch nach Schädigungen und Befunden, bisheriger Therapie, Rehabilitationszielen, Kontextfaktoren, Rehabilitationsprognosen, interpersonellen Aktivitäten und vielem mehr. [8]

Dabei ist es inzwischen die Regel, dass sozialrechtlich zu gewährende Leistungen nach dem ersten Antrag zunächst abgelehnt werden. Besonders Rehabilitationskuren über die Rentenversicherung werden geradezu automatenhaft abgelehnt, mit der Begründung, die vorliegende Störung könne doch auch von ambulanten Ärzten behandelt werden. Wie ein Arzt allerdings etwa ein Überforderungssyndrom ambulant behandeln soll, bleibt dabei ein Geheimnis der Rentenversicherung.

Erst durch einen Widerspruch, der zwischen dem Patienten und seinem Arzt ausgiebig besprochen werden muss und wieder neue Nachweise und Atteste beibringt, kann der Patient zu seinem Recht kommen. Selbst so einfache Anträge wie die Kostzulage für einen Diabetiker führen über die Ablehnung und die Ablehnung des Widerspruchs bis zur Verhandlung beim Sozialgericht, welches schließlich vom Arzt die Beantwortung von 19 Fragen einfordert.

Zu diesen gehören, welche Ernährungsform der Patient brauche, wann und wie ich ihn als Arzt über seine Ernährung beraten habe, welchen Inhalt das Gespräch hatte, ob ein schriftlicher Diätplan erstellt worden ist und wie hoch die Kosten der besonderen Ernährungsform seien.

Diese „kafkaesken“, aufwendigen Formalisierungen, wurden allmählich für immer mehr Routinetätigkeiten eingeführt, vornehmlich für Verordnungen von Leistungen, die von den Kostenträgern als Einsparpotenzial angesehen werden. Die Begründung lautet immer, dies sei im Namen der Qualität notwendig. Als habe der Arzt trotz seiner Ausbildung nicht die Kompetenz, Heilmittel, Kuren und Zulagen angemessen zu verordnen, und müsse deren Notwendigkeit erst noch „leitliniengerecht“ nachweisen.

Eine absurde Bürokratie, die der Arzt aufgrund von Zeitknappheit kaum korrekt bearbeiten kann, führt häufig zu dem offenbar erwünschten Effekt, dass für den Patienten notwendige Verordnungen entgegen ihrem Bedarf immer weniger getätigt werden. Diese filigrane Methode, Leistungen zu beschneiden, verschafft den Kassen eine weiße Weste und den Managern ein reiches Betätigungsfeld. Den Ärzten raubt sie die notwendige Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Bei den Kranken hinterlässt sie nicht selten eine weitere Kränkung.

Als wäre das nicht genug, steigen kontinuierlich die ärztlichen Informationspflichten. Ein Schicksal, das viele weitere Branchen teilen. Die gesamte Zunahme an Formalien wird jährlich mit einem Bürokratieindex gemessen. Demzufolge macht die Bürokratie der Ärzte 54,49 Millionen Nettoarbeitsstunden aus. Allein durch eine Reduktion dieses Aufwands um ein Viertel könnten rechnerisch 4.000 neue Arztstellen entstehen. [9]

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