Kitabı oku: «Atheistischer Glaube», sayfa 2

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Befreiung von der Bevormundung der Eltern

Wie war das doch mit dem Beispiel der Amseln? Sie gewährten ihren Jungen den größtmöglichen Schutz und alle Fürsorge, solange diese hilflos waren. Sie setzten sich voll ein und taten alles für die Nachwachsenden in der Zeit, in der sie aus sich heraus noch nicht fähig waren, selbstständig zu ein.

Das Verhalten der Eltern änderte sich mit einem Schlag in dem Augenblick, als die Jungen flügge waren. Da ließen sie los, trennten sich! Sie setzten ihre Jungen in bedingungsloser Konsequenz frei – selbst unter dem Risiko des Verlustes. Gleichzeitig kehrten sie selbst zurück in ihr eigenes Leben. Richtig?

Der Vergleich zum Menschen ist natürlich nur bedingt übertragbar. Die Natur ist viel härter als das Humanum, das selbst zwingende Konsequenzen immer noch abzufedern versucht. Denn selbstverständlich ist der Weg des menschlichen Heranwachsens viel komplexer. Allein der höhere Kulturbezug schafft höherstufige Konditionen – auch für das Kind. Es muss länger heranreifen in viel differenzierteren Schritten. Das braucht Zuwendung und Solidarität über die primären Reifungsstufen hinaus.

Dennoch hat das Amselbeispiel auch für das menschliche Verhältnis Eltern – Kinder eine paradigmenhafte Gültigkeit, nämlich in dem zentralen Punkt: Allein das Selbstständigwerden des Kindes ist in allem das höchste Ziel. In der Erziehung geht es nicht um Selbstverwirklichung der Eltern, sondern um Lebensbefähigung der Kinder. Nicht um Existenzsicherung der Eltern, sondern um Zukunftssicherung der Kinder. Nicht um Lebensqualität der Eltern, sondern um Lebensqualifizierung der Kinder. Die Eltern brauchen keinen Schutzparagraphen, solange das Recht der heranwachsenden Kinder nicht gesichert ist.

Deshalb ist das höchste Ziel elterlicher Erziehung nicht die ständige und permanente Elternbindung, sondern die rechtzeitige Freisetzung des Kindes. Dieses Ziel Freisetzung ist überhaupt das ganz natürliche Wesen des Werdens eines jungen Menschen. Freisetzung und nicht permanente Bindung macht den Fortschritt der menschlichen Entwicklung von Anfang an aus. Entbindung, die Loslösung liegt von Anfang an im Werden des Kindes, denn:

– Schon die Geburt selbst ist die radikalste Freisetzung des Kindes. Die Natur riskiert hier einen äußerst gefährlichen Start, indem sie ein völlig unfertiges Wesen in ein völlig neues, sozialfeindliches Umfeld entlässt. In ihm muss das kleine Kind wie auch immer durchkommen. Dabei ist die Abnabelung ein ultimatives Datum ohne jegliche Möglichkeit des Zurück. Diese Freisetzung setzt sich im frühen Alter des Kindes konsequent fort in einer Reihe fortlaufender Neuerungen5, die alle in engen Zeitrhythmen ablaufen, also keinesfalls der Beliebigkeit unterliegen, sondern dem Naturzwang Schritt zu halten:

– Das Abstillen des Kindes. Indem das Kind von der Mutterbrust entwöhnt wird, vollzieht sich die Nahrungsaufnahme in Loslösung von einem festen Zentralpunkt und damit als Öffnung für beliebige Abgabequellen und Anlaufstellen.

– Das Krabbeln und Laufenlernen. Indem das Kind seine eigene Kraft der Fortentwicklung einübt, erwirbt es Mobilität als Loslösung von einem Fixpunkt und damit die Eroberung seiner Umwelt zunehmend über alle Begrenzungen hinaus.

– Das Trockenwerden des Kindes. Indem das Kind die Windeln erst und dann den Pott loswird und eigenständig zur Toilette geht, macht es nicht nur einen wesentlichen Schritt zur körperlichen Selbstreglementierung, sondern zur Eroberung seines Intim- und Sexualbereiches.

– Die sogenannte Trotzphase, der erste ganz große Schritt zum eigenen Ich. Sie ist das Einstiegssignal selbstbewusster Ich-Äußerung des Kindes gegen seine Außenwelt. Das Kind probiert die Kraft des Nein-Sagens und löst sich damit von der Notwendigkeit, immer Ja sagen zu müssen. Diesem Versuch gehen kleine, aber äußerst signifikante Stufen voraus:

Erstes eigenes Erkennen im Spiegeltest. Er zeigt, dass sich ein Kleinkind auf allererster Stufe zum ersten Mal als Selbst erkennt. Es nimmt mit seinem Spiegelbild Kontakt auf – und lächelt. Es beginnt ganz langsam zu begreifen, dass es selbst da ist.

Das erste Ich-Sagen. Kleinkinder sprechen von sich selbst zunächst in dritter Person: Weil Kolja nicht will, soll heißen, weil ich nicht will. Plötzlich sagt Kolja zum ersten Mal: Ich will nicht. Der große Philosoph Fichte hat sein einziges Glas Sekt in seinem Leben getrunken, als sein Sohn so zum ersten Mal Ich sagte. Diesen Augenblick nannte der Philosoph Fichte die eigentliche Ich-Werdung des Menschen, für ihn das hochwertigste Ereignis im menschlichen Leben überhaupt. Ich!

Aus eben dieser Bewusstwerdung entsteht der erste massive Widerstand des Kindes, die Trotzphase. Die Natur gibt dieses Probierfeld des Widerspruchs vor. Doch wie ist gerade in diesen Lebensmonaten des natürlichen Ungehorsams auf Kinder eingedroschen worden. Väter in ihrer ganzen Manneskraft – auch autoritätsgepolte Mütter – gehen auf das kleine Kind los in der Absicht, den Willen und den Widerstand des Kindes von Anfang an zu brechen, indem sie es zum Gehorsam zwingen, und damit demonstrieren, wo die Autoritätsgewalt liegt. Dagegen ginge es um Förderung des erwachenden Selbst, um Gestaltung der ersten bewussten Willensäußerung des Kindes.

Vom Trotzalter des Kleinkindes aus als wesentlicher Verselbstständigungsschritt sind hier jetzt nicht alle weiteren Stufenfolgen der Freisetzung des Kindes zu erklären. Im Gesamten gilt, genau zu beobachten und zu respektieren, in welcher Freisetzungsphase sich ein Kind auf seinem Weg flügge zu werden befindet. Die Unterstützung dieses Flüggewerdens, des Freiwerdens des Kindes, ist die Bringepflicht der Eltern.

Deshalb definiere ich gegen das schon zitierte Kind-Gebot der Bibel

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,

auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden

ein eigenes Eltern-Gebot:

Eltern haben grundsätzlich die vorausgehende

Verpflichtung gegenüber ihren Kindern,

sie bestmöglich ins Leben freizusetzen, damit es

ihren Kindern wohlergehe und sie lange leben auf Erden.

Eltern haben sich dabei so zu verhalten, dass ihre

Kinder ihnen vertrauen und sie respektieren können.

Das Heranwachsen des Kindes verstehe ich als einen ständigen Befreiungsakt von nicht fertigen Lebenszuständen und damit als ein Hineinwachsen in eine höhere Lebensstufe, als ein immer komplexeres Werden des Ich. Das Kind muss dabei selber ständig loslassen, um weiterzukommen. Loslösungen sind somit für das Kind immer wieder Befreiungsakte zur Unabhängigkeit und damit zum Wachsen in seiner Eigenperson.

Autoritäres Festhalten der Eltern aus vorgegebenen Prinzipien erzwingt deshalb notwendigerweise das Zuwiderhandeln der Kinder gegen das Festhalten am Vorgegebenen und damit gegen die Eltern. Ungehorsam ist das prinzipielle Anrecht der Kinder zur Selbsterfahrung! Bevormundungen zwingen Kinder folglich auch immer wieder zum Kampf um Freisetzung aus falschem Elternverhalten in autoritärer Vater- oder Mutterdominanz.

Erziehung als Orientierungshilfe ist dagegen die elterliche Fähigkeit, das Kind in seinen Begründungen und Meinungen frühzeitig ernst zu nehmen und seine Widersprüche mit Sachüberzeugungen zu steuern mit dem Ziel, seine Fähigkeit zur Selbstständigkeit zu fördern und damit zur prinzipiellen Loslösung gerade auch von den Eltern. Die letzte Freisetzung durch die Eltern wäre das gewollte und erklärte völlige Loslassen des Kindes in die Eigenständigkeit.

Das meint in allem nicht eine Selbstaufgabe der Eltern zugunsten der Kinder. Ganz im Gegenteil. Die elterliche Position ist in sich sowohl in allem notwendig autonom als glaubhaftes Gegenüber zum Kind auch als Widerspruchs- und Reibungsfläche. Das Eigenrecht der Eltern ist unantastbar. Das Ziel ist dabei statt einer romantischen Liebesabhängigkeit eine ehrliche Partnerschaft, in der Eltern wie Kinder zunehmend zu Freunden werden und sich gegenseitig achten: Der Vater Freund des Sohnes, der Sohn Freund des Vaters, ebenso Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Tochter – sich in jeweiliger Eigenständigkeit gegenseitig respektierende Freunde fürs Leben.

[2] Sozialisierungszwänge durch die Kultur

Denken und Handeln der Eltern sind Teil der Kultur, in der sie leben. Sie sind so ganz automatisch Vermittler der Kultur. Insofern ist ein Kind vom ersten Augenblick an eingebunden in den tradierten Kulturrahmen der Gesellschaft. Es beginnt schon mit der Art der Nahrung, mit der Sprache, mit den Erziehungsmethoden, mit allem, was die Eltern und die Familie in Inhalt und Form auf das Kind hin praktizieren. In dem Maß, in dem sich das Kind bewusst wird, nimmt es teil an der Kultur der Familie und damit an der Kultur überhaupt.

Wenn das Kind dann die ersten Schritte über die Familie hinaus macht, etwa in den Kindergarten, in die Schule, in den Sportverein, in den Kindergottesdienst oder auch nur zu Freunden in die Wohnung über die Straße, erfährt es Kultur im erweiterten Rahmen. Es trifft auf neue, abweichende Formen, die über das hinausgehen, was es von zu Hause kennt. Die Vielfalt der Kultur ist eine entscheidende Erweiterung seines Erfahrungshorizontes.

Zum einen erkennt das Kind dabei zunächst eher unbewusst Kultur als tragende Grundlage der Kommunikation. Es lernt soziales Verhalten in immer neuen Situationen und andersartigen Gruppen. Notwendig ist das schon, weil das Kind natürlich die Fähigkeit zum sozialen Verhalten in Gruppen und Situationen erwerben und ausprobieren muss. Zugleich muss es geltende Wertigkeiten in ihrer inneren Logik und in ihren Zusammenhängen und natürlich in ihren äußeren Folgen und Konsequenzen einschätzen lernen. Mit dem Begriff Sozialisation wird dieser Eingliederungsprozess des Kindes in den offenen Kulturraum beschrieben und dabei weitgehend als ein positiver Vorgang verstanden, nämlich als Anpassung des Individuums an allgemein geltende Normen und Regeln. Ohne derartige Erfahrungen würde ein Kind von Anfang an fremd zur Gesellschaft stehen.

Zum anderen aber erfährt das heranwachsende Kind gerade dabei Kultur zunehmend als Begrenzung des Ich. Es unterliegt immer stärker den Zwängen der sozialen Anpassung, indem es als natürliches Wesen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen auf das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft trifft und so ganz gezielt reglementiert und eingeschränkt wird. Speziell Kinder sind dem Prozess der Sozialisierung fast wehrlos ausgeliefert, weil sie schon von früh an ohne alternatives Bewusstsein unter dem Zwang fremdbestimmender Konditionierungen stehen.

Grundsätzlich besteht ein Urkonflikt zwischen der Kultur und den Interessen des Individuums von klein auf:

– Die Werte der Gesellschaft stehen gegen die Bedürfnisse des Ich. Ein Kulturraum bündelt die geistigen und sozialen Strömungen seiner Gesellschaft zu festgefügten Standards. Werte und Normen, Konventionen, Rituale und Umgangsformen sind allgemeine Direktiven des herrschenden kollektiven Bewusstseins. Sie schleifen dem Individuum die scharfen Ecken und Kanten so ab, dass es in der Gemeinschaft möglichst wenig aneckt. Dadurch entsteht eine widerspruchslosere Gesellschaft, in der das Gemeinschaftsleben kontrollierbarer abläuft.

– Die Bedürfnisse des Ich stehen gegen die Werte der Gesellschaft. Der Einzelne prallt immer wieder mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auf die Festlegungen der Gesellschaft. Seinem persönlichen Spielraum werden dabei durch kollektive Normen Grenzen gesetzt. Individuelle Abweichungen vom Kollektiven werden stigmatisiert. Damit wird der Mensch in seiner persönlichen Entfaltung auf ein gewolltes Mittelmaß beschränkt, ja, notfalls sogar mit Gewalt unterdrückt, verfolgt, eliminiert.

Solche Zwänge sind in unterschiedlichen Gesellschaften äußerst verschieden, ohne dass sie für den Einzelnen je ganz ohne Gefahr sind. Zum Beispiel sind sie in unserer Gesellschaft heute viel liberaler als in der deutschen Gesellschaft vor einhundert Jahren:

Die wilhelminische Zeit damals, das deutsche Kaiserreich zwischen 1871 bis 1919, war vor allem unter Wilhelm II. eine besonders rigide Kulturepoche mit einer autoritären Wertegemeinschaft, in der das Ich des Einzelnen in seinem Eigenrecht stark bedroht war. Diese Zeit stand extrem unter dem Wertezwang: Gehorsam als eine unbedingte militärische preußische Disziplin, Ehre als ein extremer Korpsgeist der Offiziersklasse, Vaterland als ein chauvinistisches Nationalbewusstsein. Von diesen drei Stoßrichtungen her wurde von oben, von Gottes Gnaden, in die Gesellschaft hinein und damit auf den Einzelnen in seinem täglichen Alltag durchregiert.

Noch heute lohnt es sich, Literatur dieser Zeitepoche zu lesen, um den damaligen kollektiven Zwangsgeist zu erfassen, etwa EFFI BRIEST von Theodor Fontane aus dem Jahr 18956: Wie in einem Spiegelbild zeichnet Fontane in Effis Ehe die Verhältnisse der preußischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach: Von Instetten, älterer Karrieremann im Staatsdienst, Heirat mit der noch unmündigen, aber standesgemäßen jungen Effi, Aufstiegsjahre in Hinterpommern, in denen sich Effi langweilt, schließlich berufliche und gesellschaftliche Anerkennung in Berlin und auch persönliches Glück mit seiner wenn nicht geliebten, so doch hochverehrten Frau.

Per Zufall entdeckt von Instetten Liebesbriefe an Effi aus den frühen Aufstiegsjahren. Die Intensität dieser Affäre bleibt im Dunkeln, vielleicht waren es nur einige Spaziergänge aus Langeweile. Von Instetten hält die Angelegenheit deshalb persönlich auch für eine Komödie. Doch gesellschaftlich sieht er sie sofort als Katastrophe. Zwar könnte er sie selbst noch abwenden, denn nur er allein weiß ja um die Existenz dieser Briefe. Doch ich habe keine Wahl, ich muss. Dem Ehrenkodex seines Standes opfert er in unerbittlicher Staatsraison seine Frau und mit ihr das gemeinsame persönliche Glück.

Dieser Ehrenkodex damals war die geballte Wucht der Werte und Normen dieser kaiserlich guten Gesellschaft. Sie lebte gegenüber der Obrigkeit in der absoluten Pflicht strengster Verhaltensvorschriften. Durch Erziehungsdrill von klein auf war das äußerliche Verhalten im Standesbewusstsein voll verinnerlicht, das heißt, die Rolle, die Mann und Frau zu spielen hatten, war gerade auch in ihren Begrenzungen genau vorgegeben. Abweichungen führten ohne Rücksicht auf den Einzelnen unweigerlich in die gesellschaftliche Katastrophe.

Die Bedürfnisse des Einzelnen als Mensch wurden entsprechend völlig ignoriert und damit unterdrückt. Dies eben macht Fontane mit Effi besonders an der Rolle der Frau sichtbar. Die Frau funktioniert an der Seite ihres Mannes. Vor der Ehe wird die junge Frau weder gefragt noch aufgeklärt, es wird über sie verfügt. In der Ehe nimmt sie alles fast wortlos duldend hin, hat keine Meinung zu haben. Im Konflikt selbst kommt sie nicht einmal zu Wort, weder zur Erklärung noch zur Rechtfertigung, sie wird ganz einfach ausgestoßen. Nach der Katastrophe ringt sie sich durch zur Einsicht, dass alles schon so seine Richtigkeit hätte. Ergebenheit als Selbstaufgabe aller Eigenrechte des Ich.

Befreiung von der Bevormundung der Kultur

Die Loslösung von einem derart überspitzten Kulturdruck auf den Einzelnen ist gesellschaftspolitisch ein höchst komplizierter und langwieriger sozialer Wandlungsprozess. Er geschieht nicht unmittelbar durch den einzelnen Menschen, denn der ist in der manipulierten Masse viel zu schwach, um alleine Veränderungen herstellen zu können. Er geht gewöhnlich als Opfer unter. Wandlungen vollziehen sich eher durch neue Einsichten und Theorien, die sich immer stärker gegen die herrschende Kultur durchsetzen. Prinzipiell kann man sagen: Auf Dauer zermürbt die Natur des Ich eine Kultur, in der sich das Ich immer weniger entfalten kann. In dem Maße, in dem die Kultur das Leben verengt, bricht sich die Natur des Menschen neue Bahnen, schafft neue Theorien zur Korrektur der Kultur und damit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Konkret entwickelt sich dieses Prinzip in langwierigen und komplizierten Prozessen. Damals in der wilhelminischen Zeit kam die Kritik aus drei unterschiedlichen Stoßrichtungen:

1. Kulturkritik von Karl Marx

Sie entstand aus der sozialen Verelendung breiter Menschenmassen heraus gegen die herrschende Klassengesellschaft, damit gegen politische und wirtschaftliche Machtstrukturen. Marx hatte ökonomisch erkannt, dass das Kapital der herrschenden Klasse, speziell ihr exklusiver Besitz der Produktionsmittel in der expandierenden Zeit der Industrialisierung, Ursache der Verelendung der lohnabhängigen Arbeiter war.

Seine Kritik zielte deshalb politisch besonders auf die wirtschaftliche Veränderung der Gesellschaft von Grund auf, notfalls durch revolutionären Umsturz im Klassenkampf. Seine Stoßrichtung kam deshalb von unten, als Kampf vom unterdrückten Volk aus. Die kommunistische Arbeiterbewegung war insofern auch eine Kulturrevolution7, weil sie für die neue Gesellschaft zugleich einen neuen Menschentyp schaffen wollte8.

2. Kulturkritik von Sigmund Freud

Sie entwickelte sich gleichsam von innen gegen das damals herrschende Menschenbild, speziell gegen die christliche Sexualmoral. Freud ging dabei aus von einem psychologisch-psychotherapeutischen Ansatz, indem er die psychische und psychosoziale Beschaffenheit des Menschen völlig neuartig definierte. Alle bis dahin geltenden Vorstellungen über die Ganzheitlichkeit des Menschen gingen anhand einer Fülle von Detailerkenntnissen über Triebstruktur und daraus entstehenden Verhaltenszwängen und -mustern zu Bruch.

Freuds säkular-anthropologischer Ansatz löste – abgesehen von seinen umsturzartigen humantherapeutischen Wirkungen – speziell eine Kunstrevolution aus. Viele Künstler nahmen Freuds revoltierendes Menschenbild auf in Literatur, in Malerei und Musik, insbesondere in der Opernwelt, aber auch im Film und überall im modernen Lifestyle des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken durchbrachen sie alle bisherigen alten Normen9.

3. Kulturkritik von Friedrich Nietzsche

Sie brach mitten heraus aus der Philosophie gegen die Philosophie, gezielt gegen den geistigen Stau des gesamten christlich-abendländischen Denksystems. Nietzsche durchlöcherte die liberal-konservative Bürgerfront nicht nur mit seinem Aufschrei Gott ist tot10, sondern auch mit seinen nihilistischen Attacken generell gegen die christliche Religion.

Mit seiner Ankündigung der Umwertung aller Werte jenseits von gut und böse11 – zerlegte er nicht nur ihre religiöse Sklavenmoral, sondern propagierte zugleich einen neuen Menschentypus, der, sich autonom erhebend, völlig neue Maßstäbe und Zukunftsziele setzt, insgesamt einen Herrenmenschen, der in der Lage ist, die Welt einzureißen und sie von Grund auf neu aufzubauen. Wirkung erzielte Nietzsche mit seinen mythischen Visionen am Anfang vor allem bei den kritischen geistigen Eliten, die eine Neuerung herbeisehnten.

Alle drei Kulturkritiken von Marx, Freud und Nietzsche – jede für sich und im Zusammenspiel – machten den politischen Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches 1918/19 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Auflösung des Kaiserreiches darüber hinaus zu einem gesellschaftspolitisch-kulturellen Zusammenbruch mit der Auflösung aller bis dato als absolut geltenden Kunst- und Moralvorstellungen und des Menschenbildes.

Dieser Zusammenbruch wird allerdings insofern oft zu überhöht gewertet, als er keineswegs zugleich die Herstellung einer neuen freiheitlichen Epoche zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass die nachfolgenden Zeitepochen auf Restauration zielten, also nicht etwas wirklich Neues wollten, sondern nur die Wiederherstellung des Alten. Konkret waren sie unbedingt darauf aus, das Zerstörte, das Verlorene, das Alte in neuer Gestalt wieder zur Geltung zu bringen:

– Die Hitlerzeit von 1933 bis 1945 (Das Dritte Reich) war eine derartige Restauration des chauvinistischen Staates in Fortsetzung mit anderen Mitteln: die Alleinherrschaft der Diktatur anstelle der Alleinherrschaft der Monarchie. Man kann die Hitlerzeit verstehen als säkularisierte Restauration der wilhelminischen Monarchie mit entsprechenden Werteprinzipien, Ritualen und Symbolformen des absoluten Obrigkeitsgehorsams, des Korpsgeistes des Volkes und des faschistischen Vaterlands als Reichsidee.

– Die Nachkriegsgesellschaft des Zweiten Weltkrieges von 1949 bis 1968 war ebenfalls kein wirklicher Neuanfang, sondern eine Tradierung deutscher Grundverhältnisse – auch hier wieder nur mit anderen Mitteln, diesmal mit einem demokratischen Modell. Auch hier herrschte aufgrund von allgegenwärtiger Personenkontinuität vor allem in den Politik-, Bildungs- und Wirtschaftsschichten immer noch ein starkes Gehorsamsprinzip, ein Lobbyismus der Amtshörigkeit, ein deutsches Nationalbewusstsein im Modell der Wiedervereinigung, ein mit dem Wiederaufbau der Kriegsruinen restaurierter Muff von 1000 Jahren12.

Der entscheidende Versuch eines endgültigen Auszuges aus dem traditionellen Deutschtum der alten wilhelminischen Welt und damit der originäre Kulturkonflikt unserer Zeit überhaupt wurde in den sechziger Jahren von außen ausgelöst durch die Hippie-Bewegung aus Amerika. Viele Jugendliche protestierten dort damals gegen die Lebensbedingungen, die ihnen durch ihre Elterngeneration mittels traditioneller Erziehung überkommen und damit wie selbstverständlich aufgezwungen waren. Sie wehrten sich gegen den Leistungszwang, gegen die Arbeitshektik; gegen die moralischen Normierungen, gegen die hierarchischen Abgrenzungen; sie wehrten sich gegen den Wohlstandskonsum und die Regeln des Luxuslebens.

Ein Protest also gegen den gesamten westlichen Lebensstil, speziell gegen seinen Zwang, immer mehr haben zu müssen. Das Vorhandene reicht nie aus. Deshalb ist alles Streben darauf ausgerichtet, immer mehr zu erreichen, immer mehr zu besitzen. Glück, selbst persönliches Glück, ist so immer wesentlich mit immer noch mehr verbunden.

Um den von ihnen kritisierten Verhältnissen ihrer Eltern zu entfliehen, machten sich Hunderttausende von Jugendlichen auf die Suche nach einem anderen Lebensstil. Sie wollten frei und ungebunden sein, den Tag genießen. Sie wollten Lust, Freude, Schönheit empfinden, wollten aber auch weinen dürfen, traurig und gefühlvoll sein, anderen menschlich nahe sein, Konflikte friedlich lösen, Vertrauen, Geborgenheit, Liebe spüren. In dem Sinne gaben sie auch ihren sexuellen Bedürfnissen freien Lauf.

Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie bei ihrem Auszug aus der westlichen Lebensart die alten fernöstlichen Lebensweisheiten entdeckten, und so hielt in diese Jugendbewegung die alt­asiatische Lebenskunst voll Einzug, nämlich die persönlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zurückzunehmen, um so weit wie möglich von Konsum- und Produktionszwängen frei zu werden.

Denn eben das faszinierte die Jungen ja gerade: Alle materiellen Lebensbedürfnisse so zu vereinfachen, dass man sich mehr und mehr aus der Konsum-Produktions-Spirale losreißt, um die technischen Bedürfnisse auf ein Minimum zu beschränken, um in naturbezogener Weise zu leben, im Weniger Genüge zu haben, im Unmittelbaren sich selbst zu finden. Viele Jugendliche pilgerten in fernöstliche Länder, gleichsam auf der Suche nach den kulturgeschichtlichen Quellen des einfachen Lebens.

So machten sie die Blume zum Symbol ihrer Hoffnung auf ein einfaches, schönes, freies Leben. Als Blumenkinder wollten sie den Auszug wagen, ihr Glück probieren. LSD manifestierte ihre Bewusstseinserweiterung zur flower power. Schließlich wurde das Rockfestival in Woodstock 196913 so zu einer weltweiten Demonstra­tion der neuen Jugendkultur mit ihrer Vorstellung von einem Glück, in dem sich das Weniger als völlig genug erwies.

Gescheitert sind sie schließlich mit ihrem Auszug aus unserer Welt und Kultur. Natürlich – so haben viele Alte selbstzufrieden gesagt –, denn so einfach, wie es sich die Hippies gemacht haben, so einfach ist es eben nicht, die Zwänge unserer Gesellschaft zu überwinden, schon gar nicht gegen den Widerstand der Alten.

Dennoch bewirkte gerade dieser Aufbruch der Jugend den kulturellen Wandel in unserer liberalen modernen Welt. Es ist keine Frage, dass die freiheitlichen Ideen dieser Jugend auf Europa entscheidenden Einfluss gewonnen haben, zunächst auf die junge Generation selbst, aber darüber hinaus dann auch auf die gesamte Gesellschaft. War das Phänomen der Aussteiger und der Trip nach Poona14 auch eher nur eine kurze Mode, so war dennoch bei vielen, selbst bei Managern bis hinauf in die Top-Etagen, ein oft überraschend kritisches Bewusstsein über ihre Arbeitssituation entstanden mit der Frage, ob denn das Statusleben, das sie führten, wirklich das lebenswerte Leben sei. Müsste man sein Leben nicht ändern, vielleicht sogar selbst den Auszug aus dieser Gesellschaft wagen?

Doch der Umbruch wirkte viel tiefer. Im Frühjahr 1968 tobten wochenlang Studentenunruhen in Paris und führten in schweren Straßenschlachten zum linken Widerstand gegen die Obrigkeit. Diese anfängliche Jugendrevolte schwappte schon bald nach West-Deutschland rüber und wurde hier zum Aufbruch der 68er-Revolution15. Uns interessiert hier ihr zentraler Ausgangspunkt: Wer damals in der 68er-Bewegung an welcher Stelle auch immer mit dabei war – mittendrin, am Rand oder auch im Kon­tra – erlebte etwas Außergewöhnliches. Im Alltag jedes Einzelnen bewegte sich etwas völlig Neues! Fast überall entstand Widerspruch, brachen Proteste aus, wurde demonstriert. Wogegen war eigentlich egal, nur eines galt: Raus aus dem, was bisher gültig war. Weg von dem, was bisher das Leben bestimmte. Kontra zu allem und zu allen, die kritiklos am Gegebenen festhielten. War etwas noch nicht angestoßen, dann konnte sich jeder aufgefordert fühlen, für Provokation zu sorgen, damit es angestoßen wurde.

In dem Augenblick, in dem innerhalb der protestierenden Jugend radikale Dogmatiker auftraten und damit die antiautoritäre Bewegung in Staatsfeindlichkeit umfunktioniert wurde mit menschenverachtenden Aktionen, verloren die fröhlichen 68er ihre Unschuld. Vom ersten Steineschmeißen bis hin zu brutalen Terroraktionen mit Ermordungen wurde eine berechtigte Geisteshaltung des Protestes auf antidemokratischen Umsturz hin radikalisiert und instrumentalisiert. Die notwendige Kritik an diesem Umsturz kann überhaupt nicht die Begeisterung über die Befreiungskraft der frühen 68er-Bewegung aufheben. Sie hat Entscheidendes bewegt.

Die Faszination der frühen 68er lag in der Freiheit, völlig anders zu denken als bisher. Sie lag in der unbegrenzten Dynamik des Aufbruchs, des Vorwärts in eine andere Richtung. Nahezu jeder, der wie auch immer mitlief, konnte etwas einbringen von dem, was er für sein Leben nicht wollte, gegen die Eltern, gegen die Lehrer, gegen die Ärzte, gegen die Politiker, gegen Autoritäten insgesamt. Damit gegen autoritäre Erziehung, gegen die verlogene Sexualmoral, gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse – eine unglaubliche Bereitschaft allerorts, einen Neuanfang zu fordern und zu wagen.

Deshalb war vor diesem frühen humanen Ansturm geistig nichts sicher. Viele alte Fassaden kamen zum Einsturz, die überholte Frauenrolle, das reaktionäre Vater- und Familienbild, das bigotte Eheleben. Die Gesellschaft veränderte sich an vielen Stellen von Grund auf, wurde offener. Diese 68er wurden – und werden es zu Recht heute noch – zum Symbol gemacht – selbst für Veränderungen, die von ihnen gar nicht ausgingen. Sie waren eben generell die geistige Befreiung. Als solche Befreiungskräfte wirken sie unbewusst weiter im kritischen Ich-Bewusstsein des Einzelnen bis in unsere Gesellschaft heute. Dass es heute keine Autoritäten mehr gibt, die sich nicht erklären müssen, ist unbestreitbar ihr Verdienst.

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