Kitabı oku: «Poesía Visual im Spanischunterricht», sayfa 3
1.2.3 Zusammenfassung
Wie sich im Kapitel zur Problematik der Begriffsverwirrung erwiesen hat, ist es erforderlich, der begrifflichen Entwicklung nachzugehen. Aus spanischer Sicht ist Poesía Visual als ein wesentliches Genre der poesía experimental zu verstehen (vgl. z. B. Fernández Serrato 1995b; Lanz Rivera 1992; López Fernández 2008). Demgegenüber sehen internationale allgemein vergleichende Forschungen Visuelle Poesie als eigenständige Gattung (vgl. Adler/Ernst 1990; Dubiel 2004; Bohn 1986; Millán Domínguez 1999). Beide Arten der Auslegung schließen einander nicht aus und sind daher nicht als Gegensätze zu begreifen. In beiden Fällen stehen Visualität und Visualisierung von Sprache als Hauptcharakteristika im Vordergrund. Poesía Visual kann sowohl in einer allgemeineren Betrachtung als Genre der poesía experimental wie auch im engeren Sinne (in der Linie der Visuellen Poesie) als autonome poetische Gattung gelten. Hier unterscheidet sich lediglich die Perspektive, aus der die Poesía Visual beleuchtet wird.
Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf Poesía Visual, wie in der Grafik (Abbildung 1) dargestellt ist. In Anbetracht der aktuellsten Veröffentlichungen (v.a. Díaz Rosales 2014; Dietz/Gálvez 2013) und Millán Domínguez’ Erklärung von der „poesía visual como género“ (1999, 1188) erscheint der Begriff Poesía Visual für die vorliegende Untersuchung sachgerecht, denn erstens verdeutlicht der (spanische) Begriff das spanischsprachige poetische Phänomen, zweitens wird das Visuelle explizit bezeichnet und drittens eine theoretisch eng gefasste Betrachtung der Gattung ermöglicht.
1.3 Poesía Visual - poesía de vanguardia
Spanische literaturwissenschaftliche Theorien stimmen darin überein, dass die heutige Poesía Visual als post-avantgardistische literarische Erscheinung zu sehen ist (vgl. u. a. de Cózar 1991, 396; Fernández Serrato 2005, 50 ff.; López Fernández 2008; Millán Domínguez 1999, 950 ff.; Millán/de Francisco 1998, 107). Eine direkte Verbindung zur poetischen Avantgarde besteht in zweierlei Hinsicht: zum einen aufgrund der historischen Entwicklung der Poesía Visual, die in Spanien unmittelbar an die durch den Bürgerkrieg unterbrochene künstlerische Avantgarde anknüpft (siehe hierzu Kapitel 2.4 und 2.5); und zum anderen angesichts der bis heute von Dichtern und Dichterkollektiven der Poesía Visual proklamierten poetisch-konzeptionellen Idealen, die unverkennbar aus der künstlerischen Avantgarde stammen, wie im Folgenden erläutert werden soll (vgl. Reglero 2013; Stellungnahmen der Dichterinnen und Dichter, siehe Anhang 1).
Zentrale poetische Verfahren und Zielsetzungen der Avantgarde sind für das Verständnis der Poesía Visual relevant. Bei dem Blick auf die Grundsätze der künstlerischen Avantgarde und bei der Erarbeitung der von der Poesía Visual aufgenommenen Charakteristika wird rückschauend erneut auf das Problem der begrifflichen Inkonsistenz zurückgegriffen und vorgreifend die theoretische Basis geschaffen, auf der die grenzüberschreitenden Funktionen eines poema visual als Hybrid und Intermedium zu verstehen sind.
1.3.1 Exkurs: Die künstlerische Avantgarde und ihre Grundsätze
Van den Berg und Fähnders definieren die europäische künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wie folgt:
Die Avantgarde bildete ein Geflecht von Gruppierungen, Bewegungen, Ismen, Strömungen, Tendenzen, von Einzelkünstlern, Galeristen, Verlegern, von Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch, nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung von Kunst und eine neuartige Positionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen. (van den Berg/Fähnders 2009, 1)
Anhand der langen Liste von Bestandteilen des „Geflechts“ verweisen die beiden Autoren auf etkwas, was sie nachfolgend konkretisieren: „Die Avantgarde war eine äußerst heterogene und fluktuierende Erscheinung“ (van den Berg/Fähnders 2009, 1), die demnach terminologisch nicht eindeutig zu fassen sei.
Der Begriff Avantgarde ist von dem französischen avant-garde abgeleitet und ein Terminus aus dem militärischen Sprachgebrauch. Die sogenannte Avant-Garde bildete die Vorhut einer militärischen Einheit, die die Aufgabe hatte, „des Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen“ (van den Berg/Fähnders 2009, 4).11 In einem übertragenen ästhetischen Sinn wird der Begriff das erste Mal 1912 von Guillaume Apollinaire in einer Bemerkung über die futuristischen Maler in Italien verwendet (vgl. ebd., 6). Daraufhin wird er von den Teilnehmern dieser Bewegung selbst übernommen, bis er im Verlauf des 20. Jahrhunderts von der Kunst- und Literaturgeschichte systematisiert wird. Allerdings liegt das Verständnis eines jeden Avantgarde-Begriffs und seiner jeweiligen Definition im Ermessen der einzelnen nationalen Literatur- und Kunsthistoriografie. Bis zum Zweiten Weltkrieg steht der im Französischen bereits seit dem 19. Jahrhundert auch im kulturell-künstlerischen Kontext gebrauchte Avantgarde-Begriff vordergründig für die Bezeichnung fortschrittlicher und politisch engagierter Kunst und Literatur, wobei dem Künstler die Rolle des Vorreiters zugeteilt wird. Diese Bedeutung setzt sich zunächst im Französischen und bald auch in weiteren romanischen Sprachen, wie im Spanischen, durch (vgl. ebd., 7). Es folgen unzählige Taxonomien innerhalb des Avantgarde-Begriffs, die seine genaue Bedeutung brüchig machen. So wird beispielsweise zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde unterschieden. Dabei ist mit historischer Avantgarde die auch als klassisch bezeichnete Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint und unter Neo-Avantgarde – auch Post-Avantgarde – diejenige zu verstehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Im Spanischen, unter Berücksichtigung anderer politischer Bedingungen, ist von primera y segunda vanguardia die Rede.12 Mit dem Begriff vanguardia wird, wie de Torre erklärt, als Pendant zu seiner französischen Ausgangsform eine Ganzheit bezeichnet, die eine ganze Reihe avantgardistischer Bewegungen, sogenannte Ismen, subsumiert:
La vanguardia, tal como yo la entiendo, en su sentido más extensor y mayor, no ha significado nunca una escuela, una tendencia o una manera determinada. Sí el común de los diversos ismos echados a volar durante estos últimos años. […] Y a propósito, recientemente se ha publicado un inventario […] que los enumera así: futurismo, expresionismo, cubismo, ultraísmo, dadaísmo, superrealismo, purismo, constructivismo, neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo. (de Torre 1971, 26)
Die metaphorische Verwendung des Verbs „volar“ drückt im obigen Zitat die problematische Stellung der Ismen zueinander aus. Die Verkündung von Ismen ist ein typischer Akt der frühen Avantgarde, es wurden unzählige davon proklamiert. Manche wurden als die „wahren” Bewegungen der Avantgarde gekürt, andere sind gänzlich untergegangen. Allein bei der Betrachtung der von de Torre aufgezählten Ismos fällt auf, dass manche, wie beispielswiese futurismo, expresionismo, cubismo, dadaísmo, für die künstlerische Avantgarde repräsentativ sind, andere, wie neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo (vgl. ebd.), bleiben eher unbedeutend. In diesem Zusammenhang betonen van den Berg und Fähnders, dass manche Ismen als Pars pro Toto der Avantgarde fungieren. Teilweise seien sie von der Historiografie, teilweise von Vertretern der Avantgarde selbst so eingeführt, um auf diese Weise ihrem Ismus mehr Gewicht zu verleihen (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 3). Jedenfalls werden die unterschiedlichsten Ismen unter dem Sammelbegriff Avantgarde zusammengetragen, sodass im Hinblick auf die breit gefächerte Vielseitigkeit der einheitliche Begriff Avantgarde infrage gestellt wird. Diesbezüglich wird diskutiert, ob nicht der Plural – Avantgarden – der genannten Vielfalt eher gerecht würde (vgl. Asholt/Fähnders 2005, XVI). Ob die Avantgarden - las vanguardias – oder die Avantgarde - la vanguardia –, ob Plural oder Singular: Es handelt sich bei beiden Begriffen um die Bezeichnung für teilweise sehr unterschiedliche künstlerische Bewegungen, die oftmals lediglich die Negation bestimmter Konventionen gemeinsam haben. Van den Berg und Fähnders verwenden den Begriff bewusst im Singular, als eine Art „Projekt Avantgarde“ (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 1) oder zusammenhängendes „Netzwerk“ (vgl. ebd.). Auf diese Weise wird dem begrifflichen Dilemma ausgewichen und vielleicht am besten die Dynamik und Komplexität des Phänomens Avantgarde verdeutlicht:
Man entgeht einigen Aporien der Avantgarde-Forschung, wenn man die Avantgarde als soziale Konfiguration auffasst und sie als ein Phänomen der sozialen Kohäsion und Gruppenbildung im kulturellen Feld beschreibt, dass sich zusammenhängend als Netzwerk begreifen lässt. Die Avantgarde erscheint dabei als ein auf der synchronen Ebene heterogenes und auf der Ebene der Diachronie sich wandelndes und wanderndes, letzten Endes aber doch einheitliches Netzwerk, das alle Kunstbereiche umfasst: bildende Künstler, Schriftsteller, Komponisten und Musiker, Architekten und Städtebauer, Designer, Filmemacher, Theaterregisseure und Bühnenkünstler, Galeristen und Zeitschriftenherausgeber. Sie alle suchen, oft in Kooperation untereinander und oft auch als Doppel- oder Mehrfachbegabung, eine neue Kunst bzw. eine künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst ihrer Zeit zu entwickeln. (van den Berg/Fähnders 2009, 1)
Trotz der inkonsistenten Begrifflichkeit und der ausgeprägten Heterogenität lassen sich durchaus einschlägige Merkmale in den einzelnen Bewegungen der künstlerischen Avantgarde, die den Ganzheitsbegriff plausibel machen, beobachten.
Solche gemeinsamen Charakterzüge einzelner Bewegungen, Strömungen und Ismen werden als die Grundzüge der Avantgarde bezeichnet. Sie können mit zwei Grundaspekten auf den Punkt gebracht werden. Dies sind: die „soziale Konfiguration“ oder „soziale Kohäsion“ und die „künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst“ (ebd.).
Guillermo de Torre fasst die Grundzüge in der Einleitung zu seiner umfangreichen dreibändigen Historia de las literaturas de vanguardia als „lemas más visibles de la vanguardia“ unter „internacionalismo“ und „antitradicionalismo“ (de Torre 1971, 26) zusammen. Unter internacionalismo oder soziale Kohäsion (nach van den Berg/Fähnders 2009) lässt sich die maßgebliche Neigung avantgardistischer Bewegungen erfassen, ein (länderübergreifendes) Netzwerk bilden zu wollen. Manifeste und Proklamationen der avantgardistischen Bewegungen wurden oft in ganz Europa und auch darüber hinaus (USA, lateinamerikanische Länder etc.) verbreitet und haben auf diese Weise häufig großen Einfluss auf gleiche Bewegungen im internationalen Raum oder auch auf ganz andere avantgardistische Bewegungen genommen. In jedem Fall ist eine enge Verflechtung der europäischen Avantgarden zu beobachten. Die Vernetzung zeigt sich vor allem in der Mehrsprachigkeit von Texten und ihrer Autoren. „Die Avantgarde“, so schreiben Asholt und Fähnders, „ist polyglott und übersetzt sich im Notfall selbst“ (2005, XX). Insbesondere im Dadaismus wurde die Mehrsprachigkeit zum Programm und oft zum Bestandteil des künstlerischen Werks. Beispielsweise wurden dadaistische Veranstaltungen häufig mehrsprachig durchgeführt. Dabei konnte ein Text simultan in mehreren Sprachen oder verschiedene Texte gleichzeitig vorgetragen werden, oder auch beides auf einmal (vgl. ebd.). Ein anderes Beispiel für die avantgardistische Vernetzung stellt die Verbreitung des ersten futuristischen Manifests von Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) dar. Das als „Geburtsurkunde des italienischen Futurismus“ (van den Berg/Fähnders 2009, 13) bezeichnete und als Gründungsdokument der künstlerischen Avantgarde geltende Manifest erschien am 20. Februar 1909 in französischer Sprache (aus dem Italienischen übersetzt) auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Kurz darauf, im März, erschien es in Mailand und Moskau, im Mai folgte seine Publikation in Japan, im Juli in Berlin, Köln, Madrid und Buenos Aires und im August in Lissabon (vgl. ebd.). Zwar wurde der Text nicht immer im Original, sondern unter abgeändertem Titel und teilweise in gekürzter Fassung gedruckt, doch zeigt sich hier, wie stark schon zu Beginn die Bereitschaft zur internationalen Vernetzung war. Erstaunlich ist der für die damaligen Verhältnisse fortgeschrittene Sinn für Vernetzung, auch wenn er aus der Perspektive des heutigen Internetzeitalters geradezu trivial erscheint. So war es dieser Sinn für Vernetzung, der 100 Jahre später eine ähnliche Zirkulation des futuristischen Gründungsdokuments verursacht. Am 20. Februar 2009 erschien in der internationalen Tagespresse eine Fülle von Artikeln, die eben jener Veröffentlichung im Le Figaro gedachten (vgl. ebd.).
Antitradicionalismo oder die künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst (nach van den Berg/Fähnders 2009) erfasst das avantgardistische Grundprinzip der Erneuerung; gemeinsames Ziel aller Bewegungen ist die Revolution einer als veraltet angesehenen Kunst und der Bruch mit der Tradition. Es handelt sich um die Abwendung vom bestehenden Ästhetizismus zugunsten einer neuen Kunstauffassung, der zufolge die Rollen aller Beteiligten – vom Kunstschaffenden bis zum Publikum – neu bestimmt werden müssen. Innerhalb dieser neuen Kunstästhetik soll keine Homogenität erzeugt werden. So gilt die infolge dynamischer Transgressionsprozesse typische Hybridisierung verschiedener (Kunst-)Gattungen als Grundprinzip. Die künstlerische Avantgarde beansprucht für sich eine Kombination verschiedener künstlerischer Manifestationen, sie bedeutet „aglutinamiento, asociación y combinación“ (López Gradolí 2008, 13). Darüber hinaus wird die neue Auffassung durch die eigene Entwicklung von Ismen, Proklamationen und Manifesten theoretisch gefestigt.
Charakteristisch für die avantgardistischen Bewegungen sind ihre Manifeste. Meistens werden darin die Ziele der jeweiligen Bewegung proklamiert. Sie bieten daher einen theoretischen Rahmen, der im Zusammenhang mit dem künstlerischen Werk einerseits dem Leser und Betrachter einen Einblick gewährt und andererseits den Kunstschaffenden die Möglichkeit eröffnet, neben ihren Zielen ihre Position zu definieren (vgl. Asholt/Fähnders 2005, XV). Oftmals werden auch implizit oder explizit Forderungen an die Gesellschaft formuliert, die ihrerseits mit den Mitteln der Kunst an allererster Stelle verändert beziehungsweise erneuert werden soll. Dabei ist das Manifestieren selbst ein revolutionärer, avantgardistischer Akt. Neben der radikalen Abwendung vom Ästhetizismus zeigt sich demnach auch eine Festigung durch die Veröffentlichung und Verbreitung von Manifesten in der Theorie der Künste. Obwohl das Manifest nicht nur als theoretisches Zusatzmaterial zum Kunstwerk verstanden werden darf, sondern auch als eine eigenständige Gattung zu sehen ist, dürfen die einzelnen künstlerischen Manifestationen einer avantgardistischen Bewegung nicht oder nur bedingt isoliert betrachtet werden. Asholt und Fähnders bemerken, dass Manifeste Wegweiser seien und offenbar dann geschrieben würden, wenn „das künstlerische Werk als Botschaft dem Autor nicht mehr auszureichen scheint und er über sein ästhetisches Produkt hinaus andere Weisen der Vermittlung erprobt“ (ebd., XVI). Das Manifest ist also ein Teil des Gesamtkunstwerks, dem noch literarische Texte, Malereien, Skulpturen, Theaterstücke, Aktionen etc. angehören können. Alle künstlerischen Manifestationen zusammen ergeben die Kunst der Bewegung, dabei sind sie alle gleichberechtigt. Die künstlerische Avantgarde legt großen Wert auf die Aufwertung des künstlerischen Kollektivs. Das Manifest stellt die Erklärung für Außenstehende dar und gilt daher als „ureigenes“ Medium der künstlerischen Avantgarde. Keine andere künstlerische Bewegung zuvor (und auch nicht danach) hat das Manifest so sehr geprägt wie die Avantgarde (vgl. ebd., XV). Einen Dadaismus ohne Manifest hätte es nie gegeben, betonen Asholt und Fähnders in der Einführung zu ihrer umfangreichen Anthologie avantgardistischer Manifeste. Außerdem wäre kein Ismus, keine avantgardistische Zeitschrift etc. ohne Manifeste zustande kommen (vgl. ebd.).13 Das Zielpublikum des Manifests, wie im Übrigen aller Kunstwerke, ist die gesamte Gesellschaft. Dadurch kristallisiert sich ein weiteres Grundprinzip heraus: Die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben. Gefordert wird eine Teilhabe der Kunst an der Gesellschaft. Sie soll Teil des Lebens eines Jeden sein. In diesem Zusammenhang führt die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und realem Leben auch zur Neubestimmung der Kunstschaffenden. Zudem werden die bestehenden künstlerischen Werte abgelehnt, darunter ganz besonders die „illusionäre Realitätsvergegenwärtigung“, durch Hinwendung zu einer „volkstümlichen Kultur“ (van den Berg/Fähnders 2009, 182). Die Avantgarde wendet sich radikal von der hegemonialen Kunst ab und fordert als Alternative die Sozialisation der Kunst, in der die Rolle des Künstlers entmystifisziert werde und jeden Menschen als Künstler oder Künstlerin ansehen könne. Mit der Neubestimmung der Kunstschaffenden geht außerdem die Neubestimmung des Publikums einher: Die passive Rolle des Rezipienten oder Perzipienten wird aufgegeben und seine Funktion aufgewertet. Das Publikum wird als ein emanzipiertes Subjekt des schöpferischen Prozesses verstanden (vgl. ebd., 15).
Avantgardistische Erneuerungspraktiken beruhen insbesondere auf dem Prinzip der Transgression. Mit diesem von van den Berg und Fähnders verwendeten Begriff lässt sich Hybridisierung präzise beschreiben. So schreiben sie, dass
die „offene“ Struktur des Netzwerkes und des „Projektes“ der Avantgarde sich einheitlichen Beschreibungen [verweigert], stattdessen existiert eine Vielzahl von künstlerischen Praktiken, die in sich widersprüchlich bleiben bzw. bleiben können - aber avantgardistische Praktiken zeigen auch eine einheitliche Tendenz, die auf Neues zielt: auf Grenzüberschreitung, Grenzverletzung, auf Transgression (van den Berg/Fähnders 2009, 17; Hervorhebung v. d. Verf.).
Transgression bedeutet Überschreitung oder Durchbrechung von Grenzen. Freilich gibt es viele Grenzen auf dem Gebiet der Künste, die überschritten werden können. Unter anderem hat die künstlerische Avantgarde, wie weiter oben im Zusammenhang mit dem internacionalismo erörtert, aufgrund ihres Prinzips der Vernetzung konkrete geografische Grenzen überschritten. Doch um das Durchbrechen der Grenzen von Kunstgattungen soll es im Folgenden gehen: Transgressionen zwischen Literatur, bildender Kunst, darstellender Kunst, Musik, usw. Die Grenzen der einzelnen Kunstsparten sind hierbei so weich, dass sie nicht mehr präzise zugeordnet werden können. Es entsteht ein hybrides Werk.
Wird das künstlerische Ergebnis von transgressiven Praktiken als hybridisierte Kunst verstanden, können Tendenzen der Bestandteile bestimmbar sein. Folglich kann dem strukturalistischen Forschungsansatz gemäß gefragt werden: Welche Bestandteile führen durch Transgression zu welcher Hybridisierung? Oder umgekehrt: Wie lässt sich das hybride Kunstwerk in Einzelbestandteile zerlegen?
Bei Hybridisierung wird oftmals von einem stärkeren Element beziehungsweise Leitelement ausgegangen. Im Falle der avantgardistischen Kunstästhetik sprechen van den Berg und Fähnders von der bildenden Kunst als Leitkunst, die ihre visuellen Neuerungen auf andere Künste überträgt und somit von ihr aus ausgehende Transgressionsprozesse verursacht (vgl. ebd.). Ein Beispiel hierfür ist die Visualisierung von Literatur. Visualisierung kann von Formästhetik bis zu absoluter Formsubstitution allerdings vieles bedeuten.14
Aus Sicht von Rafael de Cózar sind Visualisierungen in der Literatur nicht auf Einflüsse aus der bildenden Kunst zurückzuführen, sondern als manieristische Tendenzen der avantgardistischen Dichtung und Reaktionen auf traditionelle poetische Praktiken zu sehen (1991, 370). Er bezeichnet ein formalistisches, visuell-experimentelles Bewusstsein für Sprache als „manierismo contemporáneo“ (ebd.) (mehr hierzu im Kapitel 2.2.3).15 De Cózar betont, dass eine Verschmelzung der Künste insbesondere seit Aufkommen der künstlerischen Avantgarde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert insoweit zu beobachten ist, als die einzelnen Gattungen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Seitdem wird Kunst als ein eigener Wertträger verstanden, der eine eigene Sprache, ein eigenes Zeichensystem verwendet, in dem verschiedene Formen von Zeichen durchaus miteinander kompatibel sind. Dieses Kunstkonzept geht über die Trennung der Künste hinaus und repräsentiert demnach ein neues Verständnis von Kunst, das spätestens mit Auftreten der segunda vanguardia in der Praxis der hier zur Rede stehenden Poesía Visual als vollendet verstanden werden kann (vgl. ebd., 380).
Im Hinblick auf die Visuelle Poesie ist neben dem Aspekt der Hybridität auch jener der Simultanität interessant, der, durch das Zerbrechen des Diskursiven vor allem in Arbeiten von Kubismus und Futurismus, die frühe Avantgarde gekennzeichnet hat (vgl. Kapitel 2.4). Diese verfolgte das künstlerische Ziel - abgleitet von der Geschwindigkeit des modernen Großstadtlebens - der simultanen Darstellung paralleler Räume und linearer Zeitstrukturen. Durch die Kombination verschiedener Perspektiven desselben Objekts wurde versucht, dem Perzipienten nicht nur mehrere Sichtweisen, sondern auch mehrere Momente sukzessiver Wahrnehmung simultan anzubieten. In der Dichtung, dem diskursiven Text, versuchte Guillaume Apollinaire anhand sprachlicher Analogien, Simultanität auf Papier zu erzeugen. Doch vollständig gelang ihm das Moment der Simultanität erst in seinen visuellen Gedichten durch Kombination von Schrift und bildlichen Elementen.
In der Poesía Visual ist das Prinzip der Simultanität in Collages und kombinatorische Verfahren von Bild- und Textmaterial wiederzufinden, obwohl der Anspruch auf Simultanität für die heutige Zeit nicht mehr im gleichen Maße geltend gemacht werden kann. Denn moderne Verfahren der Fotografie (insbesondere der Digitalfotografie) machen Aufnahmen von simultan wahrgenommen Momenten in einer Form möglich, wie sie den frühen Avantgardisten nicht zur Verfügung standen. Daher ist das Bedürfnis nach Simultanität in der Weise nicht mehr gegeben. Dennoch sind folgende Aspekte für das weitere vertiefende Verständnis von poemas visuales relevant: Visuelle Gedichte des Kubismus, Futurismus und auch Dadaismus sind aus der Aufgabe heraus, Simultanität darzustellen, überhaupt erst entstanden (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 303). Die formale Beschaffenheit des visuellen Gedichtes, die sich vor allem anhand der auf einen Blick wahrnehmbaren (visuellen) Darstellung einer poetischen Aussage beschreiben lässt, bietet den optimalen Rahmen für die Umsetzung von Simultanität in der Dichtung. Im Vergleich zu diskursiven Texten oder Bildfolgen, die sukzessiv präsentiert werden, sind visuelle Gedichte faktisch immer simultan dargestellt. In diesem Zusammenhang kann auf den Begriff und das avantgardistische Ziel zurückgegriffen werden, wenn visuelle Gedichte als bildliche Darstellung gegenüber der sukzessiven Wiedergabe, insbesondere im Lese- und Lernprozess, benannt und untersucht werden. Inwiefern Simultanität, anders als Sukzession, im Leseprozess von Bedeutung und diese Erkenntnis auf poemas visuales im Spanischunterricht anzuwenden ist, wird im Teil II behandelt.