Kitabı oku: «Die Weltzeituhr»
EBERHARD HILSCHER (1927–2005) wurde im brandenburgischen Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren und als 17-Jähriger eingezogen. Nach der Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft verdingte er sich zunächst im Kreis Nauen als Landarbeiter, später studierte er an der Berliner Humboldt-Universität Germanistik. Der Autor hinterließ ein umfangreiches Werk, neben Monografien, etwa über Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Arnold Zweig, schrieb er Essays und Fiktives. Seine erste erzählerische Arbeit, „Feuerland ahoi!“, erschien 1961, sein erster Roman, „Der Morgenstern“, 1970. Sein Hauptwerk „Die Weltzeituhr“ (1983) erscheint nun erstmals als unzensierte Ausgabe. Hilscher lebte bis zu seinem Tod in Ost-Berlin, seine letzte Ruhestätte fand er im Ort seiner Geburt.
EBERHARD HILSCHER
DIE WELTZEITUHR
Mit einem Nachwort von Volker Oesterreich
mitteldeutscher verlag
2017
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Die Originalausgabe erschien 1983 im Buchverlag Der Morgen, Berlin.
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
ISBN 978-3-95462-958-9
E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
INHALT
Cover
Titel
Impressum
ERSTES LUSTRUM
Abschied von der Tauchstation
Zeitansage, 1. Jahr
Unschärferelationen
Zeitansage, 1. Jahr (Fortsetzung)
In klassischem Geiste
Zeitansage, 2. und 3. Jahr
Der liebe Gott hat gepetzt
Inspektion des Universums
Ein paar Etagen tiefer
Zeitansage, 4. Jahr
Märchenstunde im Zwischenreich
Zeitansage, 5. Jahr
Doktorspiele
ZWEITES LUSTRUM
Sein Kampf in Bildern oder: Zeitansage, 6. Jahr
Eine schöne Bescherung
Zeitansage, 7. und 8. Jahr
Der klagende Delfin
Zeitansage, 9. Jahr
Von der Größe eines Landes und des Kindes
Zeitansage, 10. Jahr
Der spanische Pavillon
Zeitansage, 10. Jahr (Fortsetzung)
Mein lieber Jab!
DRITTES LUSTRUM
Erscheinungen des Neandertalers
Zeitansage, 11. Jahr
Das Uran-Ei, fern und nah gesehen
Von Stinkbomben und Ginseng
Zeitansage, 12. Jahr
Sonate in Atom-Moll
Zeitansage, 13. Jahr
Krieg im Frieden
Der Pirol pfiff um vier Uhr dreißig
Zeitansage, 14. Jahr
Seine Rede war: Ja und nein
Zeitansage, 15. Jahr
Empfindungen und Erfindungen
Pablo und das Meer
VIERTES LUSTRUM
Wollt ihr den totalen Krieg? Zeitansage, 16. Jahr
Nackte Mädchen im Blickfeld
Zeitansage, 17. Jahr
Magister Constantins dritte Wiederkehr
Historische Belehrung über Truppen und Tripper
Stehen bleiben, oder ich schieße!
Die Stunde null
Zeitansage, 18. bis 20. Jahr
In der Steinzeit
Verkehrsregelung am Popocatepetl
FÜNFTES LUSTRUM
Von Währungen und Erwägungen; Zeitansage, 21. Jahr
Die Kunst der gewinnenden Gesprächsführung
Harmonie der Welt
Zeitansage, 22. Jahr
Weißt du noch?
Chemie des Lebens und der Liebe
Zeitansage, 23. Jahr
Ein Brief aus Harvestehude
Zauberei mit Erasmus
Zeitansage, 24. und 25. Jahr
Und wüssten’s die Blumen
Lob der Taugenichtse
SECHSTES LUSTRUM
Baumeistergeschichten; Zeitansage, 26. Jahr
Ansichten eines Mannes von hohem Geistesflug
Der Ausnahmezustand
Zeitansage, 27. und 28. Jahr
Haut ab, ihr alten Knacker!
Alle Sterne müssen fallen
Die Jupiter-Symphonie
Zeitansage, 29. Jahr
Von Zärtlichkeit und Zwietracht bedroht
Zeitansage, 30. Jahr
Was soll der nächste Weltkrieg kosten?
Experimente mit dem Affen-Virus
SIEBENTES LUSTRUM
Wir heißen euch hoffen; Zeitansage, 31. und 32. Jahr
Sigunes Uhren messen ein Ur-Erlebnis
Abfahrt vom Chinesischen Teehaus
Gesang aus der Tiefe; Zeitansage, 33. Jahr
Anrufungen zur Rettung unseres Planeten
Wunder der höchsten Höhe
Zeitansage, 34. Jahr
… so muss ich weinen bitterlich
Zeitansage, 35. Jahr
Pseudonyme der Tümmler
O blaue, lautlose Nacht
Abschied von G.
Nachwort
ERSTES LUSTRUM
Abschied von der Tauchstation
Es dreht sich! In lustvoller Nacht strudelt das Spermatozoon mit delfinähnlichen Schwanzschlägen durch den Gebärmutterteich in den Tubenkanal. Rund dreihundert Millionen Konkurrenten und Mitschwimmer waren innerhalb einer Stunde auf der achtzehn Zentimeter langen Wettkampfstrecke zurückgeblieben und in Vanillesauce ertrunken. Nun schießt der Sieger wie eine Rakete auf die eigelbe Korona zu: Durchstoß, Volltreffer, Zusammenschrumpfen des stäubchenkleinen Zielballons. Im Innern vollziehen sich geheimnisvolle chemische Reaktionen; blitzschnell ergibt sich ein zehnstelliges kodiertes Programm für neues Leben. Nachdem sich die genetische Kordel der Desoxyribonukleinsäure (DNS) aufgedröselt und in Lesezeichen umgewandelt hat, kommt es zur Kernspaltung und ersten Zellverdoppelung.
Schon am vierten Tage plumpst eine geleeartige Plasmabeere von der Rutschbahn in den Uterustümpel zurück, auf dessen schwammigem Grund sich der Blastozyt einnistet. Wie ein Spielball rollt die Fruchtblase in der zweiten Woche regelwidrig auf die rechte Seite des Dottersacks hinüber und entblättert sich. Die Keimlamelle signalisiert: situs inversus totalis. Bald darauf nimmt sie Sandalenform an, dreht sich um die Längsachse und schwebt bäuchlings in gläserner Amnionhülle. Am Ende des ersten Monats scheint das herzpochende Vier-Millimeter-Wesen Schwanz und Kiemen auszubilden, weshalb es in finsteren Zeiten nicht genau wusste, ob aus ihm Haifisch, Feuersalamander, Igel oder Affe werden sollte. Aber gegenwärtig zweifelt es (trotz raupenartiger Krümmung, die ihm Magen und Darm verdrillt) keinen Augenblick an seiner höheren Bestimmung. In der siebenten Woche vermag es, seine Personalität durch unverwechselbare Fingerabdrücke auszuweisen. Zwanzig Tage später definiert es sich mittels elften Fingers als Männlein, das seine junge Menschlichkeit kundtut, indem es Fäuste ballt und Mamas Innendekoration anpinkelt. Die schönste Zeit verbringt der Fetus, dem der Name Guido zugedacht ist, im fünften und sechsten Entwicklungsmonat. Durch Haarflaum und aromatische Firniscreme geschützt, turnt er schwerelos in der Unterwasserstation des Fruchtsacks, vollführt Saltos, Bauchwellen um die Nabelschnur, Hand- und Kopfstand. Bisweilen nuckelt er am Daumen oder bohrt im Po. Obwohl die feuchtwarme Taucherglocke ständig durchspült wird, ertrinkt er nicht, weil ihn der Sauerstoff-Inhalator der Plazenta reichlich versorgt. Interessiert beobachtet er seine kybernetischen Körpersysteme. Als er nach vierteljährigem Lidverschluss endlich wieder die Augen öffnen kann, hindert ihn feindliche Dunkelheit daran, die rote Brutkammer zu betrachten. Schade, denn transparente Häute ermöglichten ihm sonst einen fabelhaften Röntgenblick auf mütterliche und eigene Eingeweide. Nun vertreibt er sich die Zeit, indem er auf karikaturistisch dünnen Beinchen durch die Geburtsarena dribbelt und sich selbst lautlos applaudiert. Geheimnisvolle Vibrationen im Zwerchfellhimmel der Madonna offenbaren ihm das gleichzeitige Wachstum einer krummnasigen, plattfüßigen Zukunftsgefährtin, worauf er den Schicksalsschicker um Genreparatur oder ein stellvertretendes Brandmal bittet.
Allmählich spürt Klein Guido, dass er wie Blaualgen aufquillt und in räumliche Bedrängnis gerät. Vom Scheitel seines überdimensionalen Quadratschädels bis zur noch unverkästen Fußsohle misst er jetzt fünfundvierzig unrelativierte Zentimeter. Nachdem er vergeblich die Ellbogen gebraucht hat, um sich erneut Bewegungsfreiheit zu verschaffen, bleibt er schließlich koppheister im nachtschwarzen Uterustunnel stecken. Gefasst nimmt er die Lotos-Yogastellung ein und träumt von exzellenter Anwartschaft.
Plötzlich scheint es ihm, als seien ungeahnte Teufel los. Die Wände beginnen zu wackeln. Von allen Seiten fühlt er sich eingekeilt, gezerrt, gedehnt. Unsichtbare Gewalten schieben seinen Kopf wie zur Strangulation in den Halsring der Gebärmutter hinein. In angstvoller Wut möchte er schreien, aber das Bernsteinwasser des Amnions füllt knebelgleich seinen Mund. Auf Guidos Drei-Kilo-Körperchen schieben sich immer schwerere Bürden: Dreißig Kilo, vierzig Kilo, fünfundvierzig, sechsundvierzig (nicht mal beim Übergang zur zweiten kosmischen Geschwindigkeit braucht man sein zwanzigfaches Gewicht zu tragen), neunundvierzig, fünfzig Kilo … Anhalten! Aufhören! Gibt es denn gar keine Luke in dieser verdammten Gondel? Oh, könnte er als linksgewundene Kegelschnecke ins Freie kriechen und selbstschöpferisch König sein!
Er dreht sich. Vor Eintritt der Bewusstlosigkeit wird das verdrehte Menschlein buchstäblich ausgestoßen.
Der Doktor hebt es in die helle Höhe, findet es leblos und kümmert sich zunächst um die schwach atmende Mutter, die er liebt. Da tritt unhörbar der blaue Reiter in den Raum und nimmt das Kind in den Arm.
Zeitansage, 1. Jahr
29. Februar: Während dem praktischen Arzt und Geburtshelfer Dr. Theo Möglich in Paradies bei mittäglichem Glockengebimmel ein Sohn geboren wurde, orgelte der Vesuv und warf glühenden Dreck in Richtung des Golfes von Neapel. Synchron spießten die Zeiger auf dem Berliner Rathausturm eine goldene Zwölf auf, in den Zwiebelköpfen des Heiligen Basilius zu Moskau schlug es vierzehn, die No-Spieler von Tokio umtanzten zwanzig Magnolienblüten, und im New Yorker Singer-Building schnarchte der Sechs-Uhr-Wecker. Gleichzeitig wetteiferten im Nordischen Institut drei Atomphysiker miteinander, jeweils aus einem einzigen Auge wie schläfrige Krokodile die Mikrowelt anzuglotzen, weil sich nur auf diese Weise Ort und Impuls flitzender Strahlenstäubchen messen ließen. Konzentrierter Doppelblick hingegen ergab Unklarheit. – Auf der hauptstädtischen Rennstrecke startete unterdessen ein torpedoförmiges, geflügeltes Spezialauto, aus dessen Heck wie gebündelte Räucheraale zwei Dutzend Düsenstäbe herausragten. Nachdem der Steuermann die Rakete gezündet hatte, raste der Kraftwagen aus einer Dampf- und Gestankwolke auf die Zwei-Kilometer-Zielscheibe zu, an der er ein Rekordtempo von 230 km/h erreichte; außerdem einen Rekord der Betriebskosten, dreitausendmal über normal liegend. Dennoch halten es Experten für möglich, dass heute die Fortbewegungsart der Zukunft erprobt wurde.
Unschärferelationen
Zur Freude der Eltern benahm sich der Säugling korrekt und gemäß den Lehrbüchern in der väterlichen Bibliothek. Rund um die Uhr verpennte er zwanzig Stunden. Sobald er erwachte, protestierte er (tränenlos weinend) gegen sein Geworfensein in das Diesseits, bis er sich mit Klimmzug an eine heranflatternde Hand schmiegen konnte: Fabelhafter urmenschlicher Klammerreflex, erstaunlicher Fußgreifeffekt! Nun hüpfte der Knabe, zwischen dessen Schultern ein bienengroßes Muttermal prangte, wassertretend im emaillierten Heimteich oder züngelte hingebungsvoll an mütterlichen Papillen. Ein paar Tage lang sabberte aus seiner eigenen Brust etwas Milch, ohne ihn zum Selbstversorgertum anzuregen. Bisweilen gewann er den Trost traumloser Deltawellen, indem er aus der Daumenpraline Lethe lutschte und reibungsenergetischen Schotengeruch genoss.
In der siebenten Existenzwoche erfreute er seine Eltern durch eine tägliche Stimmband-Kräftigungsstunde. Das bescherte ihm die Erfahrung der Allmacht, denn infolge seines Geschreis belebte sich der halbmeterhohe, glockenförmige, schielend betrachtete Hohlraum über ihm. Saxofonähnlich quäkend schuf das Baby Gestalten. Wie fünffingrige Seesterne, Melonenquallen oder schnurrbärtige Riesenmuschelkrebse kamen Körperglieder angeschwommen, dazu das Lächeln, Küsse, das Streicheln und Laute verschiedener Tonfrequenz. Mit starkem Krakeelen konnte er Dinge beschwören und festhalten.
Bei Lustfahrten im Korbwägelchen (Vollballonreifen, Durchschnittsgeschwindigkeit 1 m/sec.) entdeckte Klein Guido, wie er seine mobilen Teile in den Bühnenhimmel zu schieben vermochte. Amüsiert betastete er seine Rumpfanhänge, Hände, Finger, Füße und Zehen, die sich selbständig zu machen schienen, ohne dass voraussehbar war, wann es wo strampeln, zucken und rucken würde. Obwohl der Junge unaufhörlich zappelte, ließen sich Lokalität, Wahrscheinlichkeit eines Impulses und Häufigkeitsverhältnis im Bewegungschaos nicht gleichzeitig bestimmen.
Manchmal nahm ihn die Mutter zu sich ins Bett, um ihm das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Dort geschah eines Tages im Halbschlummer, was Martin Luther im Hohen Liede trefflich dolmetschte: „Er steckte seine Hand durchs Loch, und ihr Leib zitterte dafür.“ Als Frau Dagmar es ihrem Mann erzählte, lobte er lachend die ersten Anzeichen genialer Empfindungsart. Sie antwortete: „Wünsche es nicht! Auf Wunderkinder wartet meistens ein früher Tod.“
Zeitansage, 1. Jahr (Fortsetzung)
27. August: Die Metropole der Mode erwies sich an diesem Tage auch als Hauptstadt globaler Diplomatie. „Ewiger Friede“, sagten die Leute am Quai d’Orsay. Nachdem sie den Obelisken des furiosen Ramses gestreichelt und die Concorde-Brücke überschwemmt hatten, jubelten Knickerbocker-Herrchen und bubikopffrisierte Damen in knabenschlanker Garçon-Fashion den Politik-Harmonikern zu, die über eine Freitreppe ins Außenministerium trippelten. Die Silbermine des Pariser Regierungsthermometers kroch gerade bis zum 32. Querstrich der Celsiusskala empor. Punkt fünfzehn Uhr westeuropäischer Zeit versammelten sich die Ressort-Chefs im historischen Horloge-Saal, nahmen am hufeisenförmigen Tisch Platz und bewunderten die Vertragsmappe. Exzellent! Da lag ein typografisches Meisterwerk, auf vier handgeschöpfte Büttenseiten gedruckt und in goldverziertes Saffianleder gebunden. Während der französische Gastgeber die erfolgreiche Bemühung um internationale Aussöhnung pries, tropfte den Repräsentanten der Welt viel Schweiß in Cut und Zylinder, denn von Decken und Wänden strahlten acht Scheinwerfer und vierhundert Kerzen und brannten das Bewusstsein epochaler Wende in die erlauchten Köpfe ein. „Ächtung des Krieges für immer!“, rief der erwärmte Chef des Protokolls. „Toleranz-Esperanto! Nie mehr Streit zwischen uns! Ab sofort gilt das Evangelium des Friedens nebst Befehl an die Menschheit: Liebet einander!“ – Nun begann die Polonaise der erschöpften Delegationen, wobei das Hohe Kollegium jedes Autogramm handfeucht beklatschte. Mit schwarzer Dokumententinte signierten und besiegelten die Staatsmänner von fünfzehn Nationen das Glaubensbekenntnis zur Ewigen Güte. Emphatisch, triefnass und ein bisschen verträumt sangen Amerikaner, Kanadier, Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen, Tschechen, Japaner, Australier und Südafrikaner im Chor: „Dona nobis pacem“. Da die Sowjets überraschend Sympathie bekundeten, sah Eirena mit dem Füllhorn plötzlich ein Drittel der Erde zu ihren Füßen liegen.
28. August: Im Goethemuseum zu Frankfurt am Main empfing Doktor Missopo einen berühmten Preis. Er steckte den Scheck des Freien Deutschen Hochstifts ins Brustfach seines Gehrocks, besah seine Remontoir-Uhr und empfahl dem andächtig lauschenden Publikum, keine Zeit zu vergeuden und chaotische Zeiten niemals zu dulden. – Sechs Wochen später begannen in Berlin die Hellen Nächte. Millionen Glühbirnen, bengalische Feuer und Lampions erfüllten die Goethe‘sche Forderung: mehr Licht!
In klassischem Geiste
Nach Meinung von Theo Möglich und Frau Dagmar war ihr Büblein in die beste aller Welten hineingeboren worden. Seit Kurzem lebte man also im gigantischen Universum auf dem einzigen Planeten mit vernünftigem Dasein: in heiterer Helligkeit, frei von Bedrohung, Krise und Krieg. Welche Hoffnung für die Völker und Klein Guido, dem fraglos beneidenswerte Entfaltungschancen offenstanden.
Auf mannigfache Weise suchte der Vater Dispositionen und Begabungen des Sprösslings zu ermitteln. Beim Abhorchen und Abtasten gewahrte er das erstaunliche Phänomen, dass Herz und Milz des Babys rechtsseitig rumorten, während sich die Leber aus verrückter Linkslage meldete. Der Medikus zweifelte keinen Augenblick an der höchsten Bedeutung dieses Naturwunders, zumal die Umkehrsymmetrie möglicherweise auf eine einzigartige Hirnstruktur mit rechtem Sprach- und Schreibzentrum schließen ließ. Nicht einmal Goethe, den man einst nach der Abnabelung „für tot“ befunden wie Guido, hatte eine derart elitäre Organbildung besessen! Hingegen traute der Vater dem klassischen Knaben zu, was er an seinem eigenen beobachtete, nämlich gewitzte Reaktionen bei Pinselstrichen über Augenbraue, Nase und Fußsohle, Kopfnicken in Richtung feiner Flötentöne und eine frühe Fähigkeit zum Aufblasen winziger Spucke-Luftballons. Als die Mutter vom angeblich gezielten Erkenntnislächeln sprach und es zu den Intelligenzleistungen zählen wollte, demonstrierte Theo, wie das Jüngelchen eine abscheuliche Faschingsmaske ebenso fröhlich anlächelte wie ihr Gesicht.
Fortan widersetzte sie sich energisch der Absicht ihres Mannes, das Kind episodisch in einer stummen Zone aufwachsen zu lassen. Er behauptete, wenn Guido keine nachahmenswerten menschlichen Laute vernähme, könne man von ihm eines Tages das Ur-Wort erwarten, das vermutlich Aufschluss gäbe über Sprache und Nationalität der ersten Hominiden. – „Rückständigkeit“, sagte Frau Dagmar verächtlich. Leider verhinderte ihr typisch weibliches Unverständnis die Durchführung des fabelhaften wissenschaftlichen Experiments, was den Doktor verdross, bis sich nach zehn Wochen ein anderes linguistisches Erlebnis anbot.
Der eingeborene Sohn begann zu brabbeln. Obwohl sich seine endlosen Lall-Monologe anfangs so anhörten, als sei er nicht ganz richtig im Kopfe, registrierte der unterscheidungswillige Vater bald eine erstaunliche Klangfülle. Er bemerkte nach- und nebeneinander Vokale, Labiale und Dentale, ferner französische Nasalgongs, englische Lispler, kanarische Pfiffe und sudanesische Schnalzer. Zusammen mit Delfinischen Klicks und hochkomplizierten Gurgel-, Schnupf- und Puptönen verfügte Guido bereits im sechsten Lebensmonat über ein beispielloses internationales Lautrepertoire.
Schließlich entwickelte er aus selbstimitatorischer Virtuosität heraus das Offenbarungswort: Dada. „Na also!“, riefen die Eltern entzückt und ergötzten sich an dieser ersten Manifestation modernen Künstlertums.
In den folgenden Tagen schaute der Knabe mit großen Forscheraugen umher. Gemäß der Goethe‘schen Sentenz von der Begehrlichkeit des „Unendlichen“ streckte er seine Ärmchen nach vorbeifliegenden Vögeln, Sonneninseln und dem Vollmond aus. – Infolge der allmählichen Verdoppelung seiner grauen Hirnmasse fühlte er sich seit der Nebelzeit dazu angeregt, rutschend und kriechend den Wohnraum zu vermessen. An Tür und Schrankwand vorbei robbte er wie durch die glasierte Ziegelschlucht einer altbabylonischen Prozessionsstraße. Jeder Aufblick eröffnete ihm kolossale Dimensionen, weshalb ihm Tisch- und Stuhlbeine erschienen wie Kiefernstämme im Teppichmoos und das Sofa wie ein flämischer Wallach. Über bunt gestreifter Leinenwand lugte ein goldgelber, hochnäsiger Kopf hervor, lustig anzusehen, weil er rumpf- und bewegungslos auf einer Art Brummkreisel thronte. Neben ihm stand plötzlich giraffenlang die Mutter. Sie kickte zwei Bauklötze, die Guido betastete und beroch, bevor er sie wie High-Hat-Becken ergriff und in schnellem Rhythmus gegeneinanderschlug.
Zum Winteranfang summierte Dr. Möglich den bisherigen Nahrungsverbrauch des Babys. Dabei fand er es bemerkenswert, dass außer Milch, Haferschleim, Zwiebackbrei, Zucker, Obst- und Gemüsepapp auch 10 Gramm Kinderpuder, 7 Gramm Erde, 2 Gramm Haare und ein Wäscheknopf zu bekömmlicher Verköstigung gedient hatten.