Kitabı oku: «DER ABGRUND JENSEITS DES TODES», sayfa 8
Angesichts der schrecklichen Diagnose, die Nadine erhalten hatte, schien es auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Sie war verschwunden, weil sie die Absicht hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Allerdings war es gefährlich, sich zu früh und zu einseitig auf eine auf den ersten Blick zutreffende Version zu fixieren. Bei einer Fehleinschätzung liefen die Ermittlungen möglicherweise von Anfang an in die falsche Richtung oder sogar ins Leere. Und das konnte dazu führen, dass die Informationsauswahl nur einseitig und in eine Richtung stattfand.
Um das zu verhindern, überprüfte Anja gedanklich alle fünf Standardversionen für das Verschwinden eines Menschen. Neben der ersten, der Freitodabsicht, gehörte dazu zweitens das freiwillige Verlassen des gewohnten Lebenskreises wegen einer Konfliktsituation im Lebensbereich oder der Flucht vor Verantwortung. Drittens eine hilflose Lage, ein Unfall oder ein natürlicher Tod. Viertens eine Neigung zum Vagabundieren, Streunen oder Ausreißen. Und fünftens die Möglichkeit, dass die vermisste Person Opfer einer Straftat geworden war.
Die vierte Alternative konnte Anja von vornherein ausschließen. Eine Neigung zum Vagabundieren wäre bei ihrem Gespräch mit Nadines Mutter zweifellos zur Sprache gekommen. Möglicherweise wäre sie wegen früherer Vorfälle sogar aktenkundig gewesen. Es gab jedoch nicht den geringsten Hinweis, dass Nadine vorher schon einmal verschwunden war.
Ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich war, dass Nadine ihren Lebenskreis aus eigenem Entschluss verlassen hatte und ihren derzeitigen Aufenthaltsort verbarg, um ihre Ruhe zu haben. Allerdings hätte Anja das gegenüber der Mutter niemals zugegeben. Sie wollte ihr nicht die letzte Hoffnung rauben, ihre Tochter lebend wiederzusehen. Gegen diese Version sprach vor allem, dass Nadine allem Anschein nach keine Wechselkleidung mitgenommen hatte und bis auf eine einzige Blisterverpackung die wichtigen Schmerztabletten zu Hause gelassen hatte. Anja würde im Laufe des Tages aber noch überprüfen müssen, ob Nadine unmittelbar vor ihrem Verschwinden größere Geldbeträge abgehoben hatte. Das könnte wiederum darauf schließen lassen, dass sie ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Außerdem musste sie checken, ob es seit ihrem Verschwinden Transaktionen auf ihren Konten gegeben hatte.
Von den übrigen Versionen ließ sich zu Anjas Bedauern keine weitere so leicht ausschließen. Dadurch wurde die Konzentration auf ein bestimmtes Motiv für Nadines Verschwinden momentan noch unmöglich gemacht.
Der überraschende Schicksalsschlag in Form der vermutlich unheilbaren Krankheit sprach zwar dafür, dass die Vermisste verschwunden war, um Suizid zu begehen, doch es fehlten andere eindeutige Hinweise. Das konnten beispielsweise ein Abschiedsbrief, entsprechende Äußerungen gegenüber Dritten oder bereitgelegte Dokumente wie ein Testament sein.
Und da die Wohnung auf Anja so wirkte, als hätte Nadine sie nur kurzzeitig verlassen und bald zurückkommen wollen, durfte sie auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Nadine einen Unfall erlitten hatte. Vielleicht hatte sie bei einem Spaziergang durch den Wald, um in Ruhe über alles nachzudenken, einen Schwächeanfall erlitten und war bewusstlos zusammengebrochen. Und nun lag sie dort hilflos oder war bereits eines natürlichen Todes gestorben.
Oder sie war doch das Opfer einer Straftat geworden. Denn ihr Verschwinden widersprach nach Aussage der Mutter eindeutig ihrer Persönlichkeitsstruktur. Außerdem hätte sie eine verzögerte Rückkehr, pflichtbewusst, wie sie war, umgehend gemeldet. Dagegen sprach wiederum der Zustand der Wohnung, in der erkennbar weder ein Kampf stattgefunden hatte, noch eine Straftat begangen worden war. Dennoch durfte Anja diese Möglichkeit nicht allein deswegen ausschließen. Vor allem, da sie sofort die Kollegen von der Mordkommission benachrichtigen musste, sollten sich im Laufe ihrer Ermittlungen Hinweise ergeben, die in diese Richtung wiesen.
Das Ergebnis ihrer Überlegungen war, dass sie sich in diesem Stadium ihrer Ermittlungen noch nicht auf ein Motiv für Nadines Verschwinden festlegen konnte. Sie musste daher weiterhin in alle Richtungen ermitteln und für alles offen sein, um nicht versehentlich in einer Sackgasse zu landen.
Sobald sie diesen Gedankengang abgeschlossen hatte, beendete sie auch die Durchsuchung der Wohnung. Sie hatte alles gründlich abgesucht und überprüft. An diesem Ort würde sie keine weiteren Erkenntnisse gewinnen.
Allerdings wollte sie noch einen kurzen Blick in Nadines Kellerabteil werfen. Schon unmittelbar nach Betreten der Wohnung war ihr im Flur ein Schlüsselbrett aufgefallen, das neben der Garderobe an der Wand hing. An den Haken hingen nur drei Schlüssel. Anja ging daher davon aus, dass Nadine ihre Haus-, Wohnungs- und Autoschlüssel mitgenommen hatte. Von den drei verbliebenen Schlüsseln schien einer ein Ersatzschlüssel für die Wohnung zu sein, der zweite zu einem Fahrradschloss und der dritte zu einem Vorhängeschloss zu gehören. Diesen nahm sie an sich, verließ die Wohnung und ging in den Keller des Hauses. Durch Türen auf beiden Seiten ging es zu den Kellerabteilen. Es handelte sich um Verschläge, deren Türen und Trennwände aus unbehandelten Holzlatten bestanden. Anja probierte den Schlüssel an einem Vorhängeschloss nach dem anderen, bis er endlich passte. Doch die Durchsuchung des Abteils erbrachte nichts Neues. Es enthielt nur ein Damenfahrrad, ausrangierte Kleinmöbel, mehrere Umzugskarton und eine Skiausrüstung. Aber wenigstens hatte Anja ihrer Pflicht zur gründlichen Untersuchung der Wohnanschrift der Vermissten Genüge getan und würde sich hinterher keine Vorwürfe machen müssen.
Sie versiegelte den Kellerraum und kehrte in die Wohnung zurück. Dort packte sie alles, was sie mitnehmen wollte, in eine Plastiktüte aus dem Küchenschrank. Dann verließ sie die Wohnung, versah die Wohnungstür ebenfalls mit einem Polizeisiegel und brachte die Tüte zum Auto.
Danach klingelte sie bei der Wohnungsnachbarin und zeigte der alten Frau ihren Dienstausweis. Deren misstrauische Miene machte daraufhin einem freundlichen Lächeln Platz. Frau Spitzeder lud Anja ein, in die Wohnung zu kommen und mit ihr Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen. Doch dafür hatte sie keine Zeit. Deshalb lehnte sie das Angebot freundlich, aber bestimmt ab. Sie stellte der alten Dame ein paar Fragen über Nadine und den Tag ihres Verschwindens. Doch mehr als das, was sie bereits von Nadines Mutter erfahren hatte, kam dabei nicht heraus. Daher schlug sie eine weitere Einladung aus und verabschiedete sich rasch. Sie klingelte an den Türen der anderen Hausbewohner, hatte dort allerdings weniger Glück. Um die Leute vor Ort anzutreffen, musste sie zu einer anderen Tageszeit noch einmal vorbeikommen.
Da sie in der Wohnung keinen Ersatzschlüssel für Nadines Wagen gefunden hatte, musste sie die Durchsuchung des Kofferraums den Kollegen von der Kriminaltechnik überlassen.
Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Allerdings wollte sie nicht sofort zurück ins Büro, sondern vorher noch mit Nadines bester Freundin und den Kollegen im Klinikum sprechen.
VII
Da das Klinikum näher lag, lenkte sie den Wagen zunächst dorthin. Sie fuhr zum Haupteingang des Komplexes und parkte auf einem der Kurzzeitparkplätze. Dann ging sie zum Empfang, wies sich aus und erkundigte sich nach der Abteilung, in der Nadine arbeitete. Die freundliche Empfangsdame gab Nadines Namen in den Computer ein und teilte Anja mit, dass sie in der Privatstation im Direktionstrakt des Klinikgebäudes arbeite. Sie beschrieb der Polizistin den Weg, worauf Anja sich bedankte und verabschiedete.
Anja folgte der Wegbeschreibung. Sie begegnete Besuchern, Personal und Patienten im Bademantel. Letztere saßen teilweise im Rollstuhl oder schoben ihre Infusionsständer vor sich her. In der Privatstation suchte sie nach dem Schwesternzimmer. Dort stellte sie sich den diensthabenden Schwestern und Pflegern vor. Um Zeit zu sparen und Nadines Kollegen nicht allzu lange von der Arbeit abzuhalten, befragte sie alle gemeinsam. Doch niemand konnte sich Nadines Verschwinden erklären. Und von den körperlichen Beschwerden ihrer Kollegin erfuhren sie erst jetzt. Anscheinend hatte Nadine ein Geheimnis daraus gemacht und sich deshalb auch nicht hier im Haus untersuchen und behandeln lassen. Das wäre unkomplizierter gewesen. Allerdings hätte dann vermutlich in kürzester Zeit jeder davon gewusst.
Schon nach wenigen Minuten verließ Anja die Abteilung wieder, sodass die Versorgung der einträglichen Privatpatienten nicht länger beeinträchtigt war. Sie hatte nichts Neues erfahren. Aber das war bei ihren Ermittlungen oft der Fall. Viele Maßnahmen und Befragungen erwiesen sich im Nachhinein als überflüssig und gingen ins Leere. Doch das wusste man vorher leider nicht.
Sobald sie in ihrem Wagen saß, suchte sie in ihrem Notizbuch nach Anne Schmelzers Nummer. Nadines beste Freundin wohnte ebenfalls in der Nähe. Ein Besuch bei ihr war weder ein großer Zeitverlust noch ein Umweg. Bei Angehörigen und guten Freunden der Vermissten zog Anja das persönliche Gespräch einem Telefonat vor. In derartigen Fällen sah sie ihren Gesprächspartner lieber vor sich, um sich anhand seines Verhaltens, seiner Mimik und seiner Gestik ein besseres Bild von ihm machen zu können.
Anne war zu Hause. Sie war sofort einverstanden, dass Anja vorbeikam, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Die Schmelzers bewohnten die linke Hälfte eines zweistöckigen Doppelhauses. Im Vorgarten lagen so viele Bobby-Cars, Roller und Kinderfahrräder, dass man den Eindruck gewinnen konnte, eine ganze Horde von Kindern würde hier leben. Doch auf dem ovalen Namensschild aus Keramik neben der Tür standen neben dem Familiennamen und dem Vornamen der Mutter lediglich vier weitere Namen. Einer war allerdings wie eine schmerzhafte Wunde mit zwei Heftpflastern kreuzförmig überklebt worden, sodass man ihn nicht mehr lesen konnte.
Anne Schmelzer öffnete unmittelbar nach dem Klingeln, als hätte sie wie eine Falltürspinne hinter der Haustür auf Beute gelauert. Sie warf nur einen kurzen desinteressierten Blick auf Anjas Dienstausweis. Anja hoffte, dass sie nicht immer so vertrauensselig war. Dann begrüßte sie die Kriminalbeamtin herzlich, als wären sie alte Bekannte, und bat sie herein. Die Frau war anderthalb Köpfe kleiner als Anja und übergewichtig. Sie hatte langes rotblondes Haar, unzählige Sommersprossen und hellgrüne Augen, was sie in Anjas Augen wie ein frecher, dicker Kobold aussehen ließ, und trug eine Brille mit rotem Gestell.
Anne führte die Polizistin ins Wohnzimmer. Sie nahmen an einer Eckbank Platz, an der die Familie vermutlich ihre Mahlzeiten einnahm. Von den Kindern war außer zahlreichen Fotos an den Wänden, auf den Regalen und in den Fächern der Schrankwand nichts zu sehen. Allerdings waren sie nicht zu überhören. Aus dem Obergeschoss kamen kreischende Kinderstimmen. Sie wurden gelegentlich von Protest- oder Wehgeschrei unterbrochen. Außerdem war ständig das Trampeln von Füßen zu hören, sodass man das Gefühl bekommen konnte, eine Büffelherde durchquerte das obere Stockwerk auf dem Weg zur nächsten Wasserstelle.
Nadines beste Freundin richtete einen vielsagenden Blick zur Decke. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Anja solle den Lärm einfach ignorieren, sagte sie und fügte hinzu, dass sie selbst ihn kaum noch höre. Sie fragte Anja, ob sie ihr eine Tasse Kaffee oder Tee und ein paar Kekse anbieten könne, doch Anja lehnte ab. Sie wollte rasch zum Wesentlichen kommen, weil sie noch viel zu erledigen hatte.
Sie stellte Anne die üblichen Fragen über ihre Freundin und den Tag ihres Verschwindens. Anne hatte ebenfalls nicht gewusst, wie schwerwiegend Nadines Beschwerden in Wahrheit waren. Auch die Besuche beim Neurologen und in der radiologischen Praxis einschließlich des niederschmetternden Befunds hatte Nadine ihr verschwiegen. Stattdessen hatte sie die Sache heruntergespielt und behauptet, es ginge ihr schon wieder besser.
»Hat es in letzter Zeit einen Mann in Nadines Leben gegeben?«, fragte Anja. »Einen Arbeitskollegen vielleicht? Oder jemanden, den sie woanders kennengelernt hatte?«
Von oben kam ein lautes Krachen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Anne richtete ihren Blick zur Decke. Sie wartete und lauschte. Als keine Schmerzensschreie folgten, entspannte sie sich wieder.
Anja hätte nie so ruhig bleiben können, sondern nachsehen müssen, ob noch alle Kinder am Leben waren. Aber vermutlich bekam man bei drei derartigen Rabauken mit der Zeit die nötige Gelassenheit. Oder man erlitt früher oder später einen Nervenzusammenbruch und landete in der Irrenanstalt.
»Bei unserem letzten Telefonat erzählte Nadine von einem Kerl, den sie kennengelernt hatte und nett fand«, berichtete Anne. »Allerdings hat sie mir nur seinen Vornamen verraten. Er lautete Johannes. Ansonsten hüllte sie sich in Schweigen. Anschließend beendete Nadine das Gespräch ohnehin rasch, weil sie einen Anruf ihrer Mutter erwartete.«
»Wann haben Sie und Nadine miteinander gesprochen?«
Nachdem Anne ihr die ungefähre Zeit genannt hatte, fiel Anja nach einem Blick auf ihre Notizen auf, dass Nadine schon vor diesem Telefonat mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Das kam ihr merkwürdig vor. Warum hatte Nadine ihre beste Freundin belogen? Vermutlich hatte sie das Gespräch beenden wollen, ohne unhöflich zu sein. Aber wieso? Hatte sie sich nicht länger von Anne löchern lassen wollen, die mehr über den mysteriösen Johannes hatte wissen wollen? Oder hatte sie an jenem Abend noch etwas vorgehabt? Eine Verabredung mit einem Mann möglicherweise?
»Wissen Sie schon von dem Tattoo über Nadines linkem Außenknöchel?«, fragte Anne unvermittelt und riss Anja damit aus ihren Überlegungen. »Es zeigt einen Marienkäfer.«
Anja nickte. »Nadines Mutter hat die Tätowierung bereits dem Polizisten gegenüber angegeben. Als er die Vermisstenanzeige entgegennahm, fragte er sie nach unverwechselbaren Kennzeichen.«
»Ich kann Ihnen ein Foto davon zeigen. Nadine schickte es mir aufs Handy, nachdem sie sich das Tattoo hatte stechen lassen.« Anne holte ihr Smartphone und zeigte Anja die Aufnahme. Sie prägte sich die Tätowierung ein. Allerdings verzichtete sie darauf, dass Anne ihr die Datei zuschickte, da es sich um ein einfaches Motiv handelte, das man sich leicht merken konnte.
Das Geschrei aus dem oberen Stockwerk wurde abrupt lauter. Anja hatte sich tatsächlich daran gewöhnt und es nur noch als stetes Hintergrundgeräusch wahrgenommen. Jetzt wurde sie wieder darauf aufmerksam.
Anne hob erneut den Kopf und warf einen Blick zur Decke. Als eins der Kinder zu heulen anfing, nickte sie, als hätte sie vorausgeahnt, dass es diesmal Tränen geben würde.
»Wenn Sie noch weitere Fragen an mich haben, gehe ich kurz zu den kleinen Monstern nach oben und sorge dafür, dass wieder Frieden zwischen ihnen herrscht.«
Aber Anja hatte genug gehört. »Falls ich noch etwas von Ihnen wissen möchte, rufe ich Sie an. Und falls Ihnen etwas einfällt, kontaktieren Sie mich bitte.« Sie gab der alleinerziehenden Mutter ihre Karte, bevor sie sich verabschiedete und das Haus verließ. Erst draußen fiel ihr auf, wie laut es gewesen war, denn ihr dröhnten noch immer die Ohren. Sie fragte sich, ob die Nachbarn in der anderen Doppelhaushälfte taub waren. Stampfende Schritte waren zu hören, als Anne Schmelzer die Treppe nach oben stürmte, um wie eine Einmann-Blauhelm-Truppe zwischen ihren kleinen Monstern zu intervenieren und Frieden zu stiften. Das Weinen verstummte kurz danach. Das Lärmen der anderen Kinder ging allerdings weiter, als störte sie die Gegenwart der Mutter nicht besonders.
Anja zuckte mit den Schultern. Sie beglückwünschte sich, dass sie noch keine Kinder hatte, da sie dann mittlerweile ebenfalls alleinerziehend wäre.
Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr ins Büro. Von dort rief sie bei den Kriminaltechnikern an und bat darum, in Nadine Weinharts Wohnung Fingerabdrücke zu nehmen und ihren Wagen zu durchsuchen. Den Schlüsselring, den sie von Nadines Mutter bekommen hatte, schickte sie per Boten ins Polizeipräsidium in der Ettstraße, wo die Büros der Kriminaltechnik lagen.
Anschließend sorgte Anja dafür, dass Nadines Bankkonten überwacht wurden und sie Auskunft über die letzten Kontobewegungen erhielt. Einer der Kollegen, die für die Telekommunikationsüberwachung zuständig waren, rief an. Er teilte ihr mit, dass eine Ortung des Handys der Vermissten fehlgeschlagen sei. Seit Nadines Verschwinden waren auch keine Gespräche mehr geführt worden.
Nachdem sie aufgelegt hatte, widmete sich Anja den Dingen, die sie aus Nadines Wohnung mitgebracht hatte. Sie ließ die Beweismittelbeutel mit der Haarbürste, der Zahnbürste und den Ohrenstäbchen abholen und ins kriminaltechnische Labor bringen. Dann widmete sie sich dem Adressbuch, den aktuellen Unterlagen und den Briefen. Sie rief die Personen an, die im Adressbuch aufgeführt waren. Bei ihnen handelte es sich vorwiegend um weitläufige Verwandte, Bekannte und ehemalige sowie aktuelle Arbeitskollegen. Aber niemand, mit dem sie sprach, wusste, wo Nadine steckte, oder hatte sie in letzter Zeit gesehen. Ein Johannes befand sich nicht darunter. Es gab auch keinen Eintrag unter der Initiale J., sosehr Anja auch danach suchte. Allerdings fand sie die Nummer von Nadines Zahnarzt und bat ihn darum, ihr ein Zahnschema seiner Patientin zu schicken. Er willigte erst ein, nachdem Anja versprochen hatte, jemanden vorbeizuschicken, der das Zahnschema abholte und sich als Polizist auswies. Nach dem Gespräch mit dem Zahnarzt sorgte Anja dafür, dass eine Streifenwagenbesatzung das Zahnschema abholte und in ihre Dienststelle brachte. Sie setzte sich sogar mit den Absendern der Briefe in Verbindung. Doch auch das führte zu nichts. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen Fahndungsmaßnahmen, die sie in die Wege geleitet hatte, erfolgreicher waren.
Aber auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
Selbst als nach dem Scheitern aller anderen Maßnahmen in der Öffentlichkeit nach Nadine gesucht wurde, meldete sich niemand, der sie gesehen hatte. Sie blieb verschwunden, ohne eine einzige Spur hinterlassen zu haben, der Anja folgen konnte, um sie zu finden.
Und nachdem sie sämtliche Fahndungsmaßnahmen ergriffen oder eingeleitet hatte, diese aber allesamt erfolglos geblieben waren, kam schließlich der Zeitpunkt, an dem Anja überhaupt nichts mehr tun konnte. Sie war allen Anhaltspunkten nachgegangen und hatte alles überprüft, was man überprüfen konnte. Der Fall war praktisch ausermittelt. Außerdem gab es ständig neue Fälle, die auf ihrem Schreibtisch landeten und ihre Aufmerksamkeit erforderten.
Und so wanderte die Akte auf den Stapel mit den Altfällen. Dort ruhte er, bis es irgendwann eine neue Spur oder einen neuen Hinweis gab, denen man nachgehen konnte. Oder bis eine Leiche auftauchte, die Nadine Weinharts Personenbeschreibung entsprach.
Und genau das geschah dann auch.
KAPITEL 3
I
Anja hatte den kompletten Fall während der Fahrt geistig Revue passieren lassen. Als sie ihren Wagen nun in die Tiefgarage fuhr, war sie davon überzeugt, dass sie bei ihren Ermittlungen in diesem Vermisstenfall alles richtig gemacht hatte. Sie hatte sich nicht stur auf die Suizidversion konzentriert und alles andere ignoriert, sondern ergebnisoffen in sämtliche Richtungen ermittelt. Dabei hatte sie jede verfügbare Erkenntnis berücksichtigt. Dass sie Nadine nicht gefunden hatte, lag nicht daran, dass sie bei ihrer Arbeit einen Fehler gemacht oder schlampig gearbeitet hatte. Es lag vielmehr daran, dass es keine einzige Spur und keinen noch so vagen Hinweis darauf gegeben hatte, was mit der Frau geschehen war. Der Fall war von Anfang an mysteriös gewesen. Und nun, nach dem Fund der Leiche mit all seinen makabren Begleitumständen, war er noch geheimnisumwitterter.
Dennoch hatte Anja weiterhin das Gefühl, sie hätte Nadine im Stich gelassen. Und das, obwohl sie augenscheinlich nichts hatte tun können, um sie rechtzeitig zu finden und ihren Tod zu verhindern.
Sie seufzte, als sie aus dem Wagen stieg und ihn versperrte. Dann ging sie zum Aufzug, um in den zweiten Stock zu fahren, wo sich die Büros der Vermisstenstelle befanden.
Der Freistaat Bayern hat in diesem Bürokomplex in der Hansastraße für die Münchener Polizei etwa 8.900 Quadratmeter Bürofläche angemietet, da das denkmalgeschützte Polizeipräsidium in der Ettstraße, das von vielen Münchnern noch immer Löwengrube genannt wird und 2013 sein 100-jähriges Dienstjubiläum feierte, umfassend saniert wird. Hier hat das Kriminalfachdezernat 1 »Tötungs-/Brand-/Sexualdelikte« seinen Sitz, zu dem außer dem Kommissariat 14 die Kommissariate für »vorsätzliche Tötungsdelikte«, »Todesermittlungen«, »Brand, gemeingefährliche Delikte«, »Sexualdelikte« und »Operative Fallanalyse Bayern« gehören. Letztere sind die sogenannten Profiler. Außerdem befinden sich hier auch die Büros der Kriminalfachdezernate 4 »Staatsschutzdelikte/Personenschutz« und 8 »Rauschgift«.
Auf dem Flur begegnete ihr niemand. Hinter den geschlossenen Türen rechts und links konnte sie allerdings die Stimmen ihrer Kolleginnen und Kollegen hören, die auf der Suche nach vermissten Personen telefonierten. Dem Leiter der Vermisstenstelle unterstanden zehn Mitarbeiter, die die ständig wachsende Zahl von Vermisstenanzeigen bewältigen mussten.
Anja erreichte die Tür ihres Büros, öffnete sie und trat ein.
»Auch schon da?«, fragte Kriminaloberkommissar Daniel Braun, mit dem sie sich das Büro teilte, und warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr. Er kam ständig zu spät. Deshalb ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, Anja ihr Zuspätkommen unter die Nase zu reiben, falls sie ausnahmsweise nach ihm ins Büro kam.
Sie verdrehte ebenso demonstrativ die Augen über sein kindisches Verhalten, bevor sie antwortete: »Auch wenn ich heute noch nicht hier war, habe ich dennoch wie immer vor dir zu arbeiten angefangen.« Sie zog ihr Blouson aus, um es über einen Kleiderbügel und an den Garderobenständer zu hängen.
»Ach ja?« Braun zog fragend die Augenbrauen nach oben. »Und wo warst du?«
»Riech einfach an meiner Jacke, dann errätst du es sofort.«
Er verzog das Gesicht und rollte mit dem Drehstuhl nach hinten, um mehr Abstand zwischen ihnen zu schaffen, sollte sie ihre Drohung wahrmachen und ihm ihr Blouson unter die Nase halten. Der Geruch, der ihren Kleidern nach einem Besuch im Sezierraum anhaftete, war kaum wahrnehmbar. Gleichwohl glaubte Anja jedes Mal, sie würden penetrant nach Verwesung und Formaldehyd stinken.
»Was hast du so früh in der Rechtsmedizin gemacht?«
Die Frage war eigentlich überflüssig. Sie beide kannten nur einen einzigen vernünftigen Grund, warum ein Mitarbeiter der Vermisstenstelle einen Sezierraum betrat.
»Eine meiner Vermissten ist wieder aufgetaucht.« Sie hängte den Bügel an den Garderobenständer und ging zu ihrem Schreibtisch. Er stand dem von Braun direkt gegenüber, sodass sie sich bei der Arbeit ansehen konnten, so sie denn wollten. »Nach drei Monaten.«
Er nickte, erwiderte jedoch nichts darauf, sondern presste die Lippen aufeinander, sodass sie einen dünnen Strich bildeten. Jeder Mitarbeiter der Vermisstenstelle hoffte, dass die vermissten Personen, für die er zuständig war, wieder auftauchten. Und zwar je früher, desto besser. Aber nicht als Leiche. Obwohl alle bemüht waren, Distanz zu ihren Fällen zu wahren, gingen sogar den erfahrensten und hartgesottensten Ermittlern die persönlichen Schicksale der Vermissten oftmals nahe. Außerdem brachte es die Bearbeitung der Vermisstenfälle automatisch mit sich, dass sich die Ermittler intensiv mit den vermissten Personen beschäftigten, sofern sie nicht schon am nächsten Tag wieder auftauchten. Dabei lernte man die Personen, nach denen man suchte, oftmals besser kennen als Verwandte oder Freunde, da man Einblick in die privatesten und intimsten Bereiche ihres Lebens erhielt. Man freute sich daher, wenn die Suche glücklich endete. Andererseits war man enttäuscht und traurig, wenn alle Bemühungen erfolglos blieben. Und wenn man als letzte Maßnahmen vor der Erledigung des Falles eine Leiche identifizieren und die Angehörigen vom Tod der vermissten Person unterrichten musste. Zum Glück war ihr Letzteres in diesem Fall erspart geblieben.
Während Braun mit seinem Stuhl zurück zu seinem Schreibtisch rollte, nahm Anja hinter ihrem Platz. Sie musterte argwöhnisch die Akte, die vor ihr lag.
»Was ist das denn?«, fragte sie. »Ein neuer Fall?«
Braun nickte. Er hatte kurzes dunkelbraunes Haar, einen Vollbart und eine Hakennase. Er war sechs Jahre jünger als Anja, dafür ganze zehn Zentimeter größer und hatte eine asketische, hagere Statur. In seiner Freizeit lief er am liebsten sogenannte Ultramarathons. Deren Laufstrecken waren länger als die normale Marathondistanz. Die Sportler liefen hundert oder mehr Kilometer am Stück oder in Tagesetappen. Oder sie absolvierten Stundenläufe, die 72 Stunden oder länger dauern konnten. Anja drehte jeden Tag, sofern es ihr möglich und das Wetter nicht allzu ungemütlich war, ihre Runden durch den Westpark und legte pro Runde etwa sechs Kilometer zurück. Sie fand alles übertrieben, was darüber hinausging. Doch Braun konnte seine Begeisterung für längere Distanzen kaum zügeln. Seine braunen Augen funkelten jedes Mal, wenn er von einem Ultramarathon zurückkehrte, den er erfolgreich absolviert hatte. Oder wenn er von legendären Läufen sprach, die er noch machen wollte. Er träumte beispielsweise vom Badwater Ultramarathon in Kalifornien. Bei diesem Lauf musste man innerhalb von 60 Stunden 217 Kilometer vom Death Valley bis zum Mount Whitney zurücklegen, gleichzeitig aber auch über 4.000 Höhenmeter überwinden. Oder dem Vier-Wüsten-Rennen durch die trockenste, windigste, heißeste und kälteste Wüste der Welt. Dabei durchquerte man zuerst die Atacamawüste in Chile, dann die Wüste Gobi in China, anschließend die Sahara in Ägypten und zu guter Letzt die Eiswüste der Antarktis und legte in jeweils sieben Tagesetappen je 250 Kilometer zurück. Bislang hatten nur wenige Teilnehmer alle vier Läufe in einem Jahr geschafft. Der Ultramarathon und das intensive Training darauf waren Brauns Ausgleich für die Arbeit in der Vermisstenstelle.
»Kam vor ein paar Minuten rein«, sagte er. »Ich hab auch einen neuen Fall.« Er wies auf die aufgeschlagene Akte, die auf seinem Schreibtisch lag und in der er bis zu Anjas Kommen gelesen hatte.
Bei 2.700 Vermisstenanzeigen pro Jahr bekam jeder der zehn Ermittler durchschnittlich einen neuen Fall pro Arbeitstag auf den Tisch. Zum Glück tauchten die meisten Vermissten schon bald wieder auf. Dadurch erledigte sich die überwiegende Anzahl der Fälle rasch, und die Akten konnten geschlossen werden. Dennoch hatten Anja und ihre Kollegen einen Stapel aktueller Fälle auf ihren Schreibtischen. Gleichzeitig lagerten in den Regalen ihrer Büros die Altfälle. Sie wurden regelmäßig daraufhin überprüft, ob sich zwischenzeitlich neue Ansatzpunkte ergeben hatten.
Braun senkte den Kopf. Er fuhr fort, die neu hereingekommene Vermisstenmeldung zu studieren.
Auch Anja wollte sich umgehend mit ihrem neuen Fall befassen. Doch zuerst nahm sie Nadine Weinharts Akte aus einem Stapel auf ihrem Schreibtisch, um sie offiziell abzuschließen. Denn durch Nadines Tod hatte sich der Fall erledigt. Zumindest für die Vermisstenstelle. Weitere Erledigungsgründe waren die Rückkehr des Vermissten, die Feststellung des Aufenthaltsortes, die Ingewahrsamnahme und das Aufgreifen als hilflose Person, sofern zweifelsfrei feststand, dass es sich tatsächlich um die vermisste Person handelte. Noch nicht abgeschlossen war der Fall hingegen, wenn der Vermisste auf Antrag der Angehörigen vom Gericht für tot erklärt wurde. Aus polizeilicher Sicht galt die vermisste Person nach wie vor als vermisst.
Der Leichenfund mit all seinen makabren und mysteriösen Begleitumständen beschäftigte Anja weiterhin. Auch das Bild der abgemagerten toten Frau mit den obszön wirkenden, nachgemachten Pestbeulen stand ihr ständig ungewollt vor Augen. Wäre der neue Fall nicht gewesen, um den sie sich kümmern musste, hätte sie Nadine Weinharts Akte am liebsten noch einmal von vorn bis hinten durchgeblättert. Sie hatte zwar alle ermittlungsrelevanten Fakten im Kopf, aber angesichts der Vielzahl an Fällen, die sie zu bearbeiten hatte, konnte sie sich nicht jede Einzelheit merken. Doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Außerdem war es nicht mehr ihr Fall. Es handelte sich nicht länger um einen Vermisstenfall, sondern inzwischen vermutlich um einen Mordfall. Und für den waren die Kollegen von der Mordkommission zuständig. Also klappte Anja die Akte schweren Herzens zu und legte sie seufzend beiseite, um sie später ins Büro der siamesischen Zwillinge zu bringen.
Braun sah auf. Sie ignorierte ihn und konzentrierte sich auf den neuen Fall.
Karin Rudianus, las Anja den Namen der Vermissten, der in schwarzen Druckbuchstaben auf dem Deckblatt stand. Sie öffnete die Akte und stieß als Erstes auf drei Fotos der Frau. Eines davon zeigte sie in Soldatenuniform, ein anderes beim Bergsteigen und das dritte auf dem Rücken eines Pferdes. Anscheinend war die Vermisste sehr aktiv und sportlich. Sie hatte lockiges rotes Haar, das ihr über die Schultern fiel, und graue Augen. Außerdem war sie großgewachsen, hatte für eine Frau erstaunlich breite Schultern und eine sportliche, durchtrainierte Figur.
Anja legte die Fotos zur Seite und las aufmerksam die Einträge in der Vermisstenanzeige. Demnach war Karin Rudianus 30 Jahre alt und unverheiratet. Sie wohnte im Stadtteil Am Hart im Münchner Norden und war Zeitsoldatin bei der Bundeswehr. Nachdem sie sich auf zwölf Jahre verpflichtet hatte und mittlerweile den Dienstgrad eines Hauptfeldwebels bekleidete, würde sie in acht Monaten aus dem Dienst ausscheiden. Deshalb besuchte sie momentan die Bundeswehrfachschule in der Fürst-Wrede-Kaserne in München-Freimann. Dort wollte sie in einer 12-monatigen Ausbildung die Fachhochschulreife für Wirtschaft erlangen. Sie wurde seit zwei Tagen vermisst.