Kitabı oku: «DER REGENMANN», sayfa 8
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Der Regenmann beendete das Gespräch abrupt, indem er eilig den Hörer vom Ohr nahm und auf das Telefon legte. Dabei handelte es sich allerdings nicht um ein hochmodernes Tastentelefon, sondern um einen sogenannten Fernsprechtischapparat, ein restauriertes Gerät in hellrot-orange mit Wählscheibe aus den 1970er Jahren. Es stand vor ihm auf der Schreibplatte des nachgebauten Schreibschranks aus furniertem Kirschbaumholz im Biedermeierstil.
Der Regenmann liebte Dinge, die alt waren oder zumindest danach aussahen, und umgab sich aus diesem Grund auch gern mit ihnen. Seine Wohnung bestand lediglich aus zwei Zimmern, einer Küche und einem Bad. Sie war angefüllt mit echten und nachgemachten Antiquitäten, mit alten Apparaturen, die teilweise sogar noch funktionierten, und mit voll funktionstüchtigen, aber betagt wirkenden Gerätenachbauten, die in ihrem Innern dennoch die neueste Technik beherbergten.
Das Schlafzimmer war funktional und spartanisch eingerichtet. Es enthielt nur ein antikes Bett aus der Gründerzeit, ein Nachtschränkchen mit Marmorplatte aus dem Jugendstil und einen alten wurmstichigen Bauernschrank. Optisch passten die Möbelstücke zwar nicht unbedingt zueinander, aber dem Regenmann gefiel es trotzdem, und er fühlte sich darin wohl. Und das war für ihn die Hauptsache, denn außer ihm bekam seine Einrichtung ohnehin niemand zu sehen, da er nie Besuch empfing.
Das zweite Zimmer, in dem der Regenmann in diesem Moment saß, war größer und in vier exakt gleichgroße Bereiche aufgeteilt, die höchst unterschiedliche Funktionen erfüllten. Um sie auch optisch von ihren unmittelbaren Nachbarn abzugrenzen, lag in jedem Viertel ein anderer Teppich, sodass der Regenmann auf störende Trennwände oder Raumteiler verzichten konnte.
In der Ecke, in der sich auch die Tür befand, lag das Wohnzimmerviertel, das neben einer antiken Sitzgarnitur, bestehend aus einem kleinen Sofa und zwei Stühlen, einen rechteckigen Tisch enthielt. Es gab kein Fernsehgerät, dafür stand auf einem Beistelltisch neben dem Sofa ein Apparat, der wie ein Radiogerät aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts aussah. Das Echtholzgehäuse täuschte allerdings geschickt über die Tatsache hinweg, dass es die modernste Technik enthielt: einen halbautomatischen Plattenspieler, ein Stereoradio und einen CD-Player. Aus den integrierten Lautsprechern kam noch immer die Melodie des Liedes »Marmor, Stein und Eisen bricht«, zu welcher der Regenmann der Frau am anderen Ende der Leitung soeben zum ersten Mal die von ihm leicht abgeänderte Zeile vorgesungen hatte.
Dem Wohnzimmerbereich schloss sich im Uhrzeigersinn das Arbeitszimmerviertel an, in dem der Regenmann noch immer auf einem antiken Stuhl vor dem geöffneten Schreibschrank saß, der Musik lauschte und gedankenverloren auf das Telefon blickte. Dieser Bereich enthielt darüber hinaus einen wuchtigen Bücherschrank aus dunklem Nussbaumholz mit Schnitzereien und Löwenfüßen, in dem er vor allem wichtige Dokumente und Unterlagen aufbewahrte. Hinter den beiden Glastüren befand sich auch eine umfangreiche Sammlung großformatiger Notizbücher mit schwarzen Einbänden, bei denen es sich um die Tagebücher des Regenmannes handelte. Er war ein fleißiger Tagebuchschreiber und füllte jeden Tag mehrere eng beschriebene Seiten mit seinen Erlebnissen, Gedanken und Eindrücken. Außerdem gab es einen mehr als fünfzehn Zentimeter hohen Stapel loser Blätter. Dabei handelte es sich um das mit unzähligen Korrekturen versehene Manuskript für eine umfassende Abhandlung über den Regen, an dem der Regenmann sein mehreren Jahren schrieb. Es bestand bereits aus über 1.500 eng beschriebenen Seiten, war aber noch immer nicht vollendet. Er tippte die Manuskriptseiten auf einer Adler Favorit 1 aus dem Jahr 1938. Die Schreibmaschine stand, wenn er sie nicht benötigte, abgedeckt auf dem Bücherschrank.
Es folgte die Bibliothek. Mehrere antike Regale, die bis zur Decke reichten, waren angefüllt mit Büchern, darunter vor allem Nachschlagewerke und Romane sowie Fachzeitschriften, die sich mit dem Thema Regen befassten oder das Wort zumindest im Titel führten. Vor den Bücherregalen standen ein bequemer Ohrensessel aus dunkelbraunem Leder im Chesterfield-Stil, eine lederbezogene Fußbank und ein mit Intarsien und Schnitzereien verzierter orientalischer Teetisch aus Palisander.
Als Letztes kam der Essbereich, bestehend aus einem quadratischen Tisch aus altem wurmstichigen Holz, vier einfachen antiken Bauernstühlen und einem Buffetschrank aus der Gründerzeit.
Lediglich in der Küche und im Badezimmer konnte der Regenmann nicht auf modern aussehende Geräte verzichten. Und da sich seine Aversion nur auf das Aussehen beschränkte und nicht die modernste Technik selbst betraf, die er bei Bedarf durchaus verwendete, besaß er sogar einen Laptop. Allerdings hatte er das Gerät in die Küche verbannt. Dort befanden sich auch die einzigen Pflanzen in der ganzen Wohnung: Ein halbes Dutzend fleischfressende Pflanzen, die auf der Fensterbank standen und die er hingebungsvoll mit lebenden Fliegen, Grillen, Heimchen und Mehlwürmern aus dem Zoofachgeschäft fütterte.
Schließlich verstummte das Lied, und der Regenmann wurde durch die Stille, die sich daraufhin in der Wohnung ausbreitete, aus seinen Überlegungen gerissen. Er stand auf und ging in den Wohnzimmerbereich. Nachdem er die CD mit dem Schlager von Drafi Deutscher aus dem Player genommen und in der danebenliegenden Hülle verstaut hatte, legte er eine Disc ein, die er mithilfe seines Computers selbst gebrannt hatte. Er blieb neben dem Gerät stehen und wartete, bis die ersten Töne hörbar wurden. Es handelte sich um Geplätscher, das zunächst noch leise, beinahe zaghaft klang, aber von Sekunde zu Sekunde immer lauter und mächtiger wurde, bis es sich zu einem heftigen sommerlichen Regenguss steigerte.
Der Regenmann lächelte, als er dem Regen zuhörte, der zu ihm sprach und ihm eine Geschichte erzählte. Er hatte unzählige Aufnahmen, auf denen stundenlang zu hören war, wie es regnete oder sogar gewitterte. Viele davon hatte er selbst aufgenommen, andere aus dem Internet heruntergeladen und anschließend auf CD gebrannt. Er hörte sie sich immer wieder an, so wie andere Leute andächtig klassischer Musik lauschten. Auf diese Weise konnte er seinen Mentor, den Regen, sogar dann hören, wenn es draußen gerade nicht regnete, was bedauerlicherweise viel zu oft der Fall war.
Er setzte sich auf das Sofa und atmete einmal tief durch. Das Plätschern aus den Lautsprechern hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Obwohl das Telefonat ihn erregt hatte, gelang es ihm nun, sich vollkommen zu entspannen. Und da er die aufgenommenen Worte des Regens längst auswendig kannte, musste er nicht mehr aufmerksam zuhören, sondern konnte seine Gedanken auf Wanderschaft gehen lassen.
Der Regenmann dachte zunächst darüber nach, was er an diesem Abend vollbracht hatte. Er musste sich dabei mit bloßen Erinnerungen zufriedengeben, die nicht einmal halb so gut waren wie das Erlebnis selbst. Doch als er seine Tat noch einmal in Gedanken in voller Länge und in allen Einzelheiten durchlebte, erschauderte er gleichwohl vor Wonne.
Obwohl er ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, sogar was kleinste Details anging, waren die Erinnerungen dennoch trügerisch. Deshalb hätte er am liebsten eine Videoaufnahme seiner Tat zur Verfügung gehabt. Dafür hätte er sogar ein hochmodernes Fernsehgerät in seiner Wohnung in Kauf genommen. Aber natürlich würde er nie eine Aufnahme anfertigen, denn wegen solcher Dinge wurden die Leute am Ende erwischt und eingesperrt. Oder wenn sie zur Erinnerung Souvenirs ihrer Opfer mitnahmen, beispielsweise Unterwäsche – Igitt! –, Schmuck oder sogar Teile des Körpers. Da konnte man auch gleich ein Geständnis unterschreiben und mit seiner vollständigen Adresse an die Polizei schicken. Das hatte zumindest der Regen ihm gesagt; und da der Regen ihn noch nie belogen und stets recht behalten hatte, hatte der Regenmann auch keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.
Die Szenen seiner heutigen Tat, so erfüllend sie auch waren, verblassten dennoch rasch wieder. An ihre Stelle traten andere Bilder und Geräusche. Sie führten den Regenmann weit in die eigene Vergangenheit zurück, standen ihm aber noch immer genauso lebhaft und deutlich vor Augen wie das, was erst vor wenigen Stunden geschehen war.
Zuerst kam die Erinnerung an die Musik, denn im Radio sang Michael Holm mit Tränen lügen nicht seinen größten Hit.
Das Autoradio war wie immer auf einen Sender eingestellt, der ausschließlich deutsche Schlagermusik spielte. Die Eltern des Jungen liebten Schlager über alles und konnten einfach nicht genug davon bekommen. Er und seine Schwester waren daher mehr oder weniger gezwungen, sich die Lieder ebenfalls anzuhören, vor allem, wenn sie wie heute eine längere Fahrt im Auto unternahmen.
Der Regenmann – der zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht der Regenmann war, denn zu dem würde er erst Jahre nach diesem Tag werden, sondern nur ein achtjähriger Junge, der den Regen liebte – wusste gar nicht so genau, ob er Schlagermusik mochte oder nicht. Zumindest verabscheute er sie nicht, denn sonst wäre die lange Fahrt unerträglich gewesen.
Er hatte auch keine Ahnung, ob seine Schwester Patricia, die drei Jahre älter als er war, die Musik tatsächlich so sehr liebte, wie sie immer behauptete. Oder ob nur so tat, als ob, um sich damit bei Mama und Papa einzuschleimen und Pluspunkte zu sammeln. Andererseits konnte es durchaus sein, dass sie ein Schlagerfan war, denn Patricia war vollkommen anders als er und kam im Hinblick auf ihr Aussehen und ihre Interessen nach ihren Eltern. Außerdem war sie seiner Meinung nach ziemlich doof.
Nach der Musik kamen allmählich auch die Bilder.
Mama, die auf dem Beifahrersitz saß, sang den Schlagertext mit. Eingeschränkt durch den Sicherheitsgurt bewegte sie nur den Oberkörper und die Arme zur Musik. Sie war klein und zierlich, hatte dunkelbraunes, kurz geschnittenes Haar und trug eine Brille mit ovalen Gläsern.
Papa, der hinter dem Steuer saß, hatte rotes Haar, das an der Stirn und an seinem Hinterkopf bereits die Waffen gestreckt und den Rückzug angetreten hatte. Als wollte er einen Ausgleich dazu schaffen, hatte er sich in den letzten Monaten einen Vollbart stehen lassen. Er war das genaue Gegenteil seiner Frau, denn er war groß, stämmig und kräftig. Da er ein übervorsichtiger Fahrer war, der die Hände kaum einmal vom Lenkrad nahm, vor allem wenn es wie jetzt wie aus Eimern schüttete, nickte er nur mit dem Kopf im Takt.
»Los, ihr zwei!«, rief Mama und warf über die Schulter einen lächelnden Blick nach hinten zu den beiden Kindern. »Singt mit!«
Patricia gehorchte – das tat sie immer, aber auch nur dann, wenn die Eltern oder andere Erwachsene dabei waren - und trällerte sofort los, was das Zeug hielt. Ebenso wie ihre Mutter hatte sie eine schöne Singstimme. Manchmal wunderte er sich, dass aus ihrem Mund, der ihn so oft ankeifte oder anfauchte, auch derart angenehme Töne herauskommen konnten. Auch sonst war sie, was die Farbe ihrer Haare und ihrer Augen sowie ihre Größe und Statur anging, beinahe das Ebenbild ihrer Mutter.
Er selbst konnte überhaupt nicht singen und ließ es deshalb in der Regel auch bleiben. Sogar nachdem Mama ihm einen zweiten auffordernden Blick zugeworfen hatte, presste er daher störrisch die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wandte rasch den Blick ab und sah nach draußen.
Es regnete so heftig, dass alles, was weiter als hundert Meter entfernt war, von den dichten Regenschleiern verborgen wurde. Der sichtbare Teil der Welt außerhalb des Autos wirkte daher grau und trostlos. Dennoch gefiel ihm, was er sah. Er hatte den Regen schon immer gemocht. Er fand ihn aufregend und gleichzeitig tröstlich und war zum Entsetzen seiner Eltern sogar dann gerne draußen, wenn es, wie sie sagten, Bindfäden oder junge Hunde regnete. Je heftiger, desto besser. Außerdem liebte er es, durch Pfützen zu springen, sodass das Wasser in alle Richtungen spritzte.
Er blendete den Gesang und die Musik innerhalb des Autos so gut wie möglich aus, um sich auf das Geräusch zu konzentrieren, das der Regen machte. Die Gesamtheit aller Regentropfen, die vom Himmel fielen, bildete ein permanentes Hintergrundrauschen. Außerdem erzeugte jeder einzelne Tropfen ein unverwechselbares Klopfen, wenn er in der Nähe auf einen festen Gegenstand traf. Beinahe glaubte der Junge, neben dem allgegenwärtigen Rauschen auch die individuellen Tropfen herauszuhören, die auf das Blech der Motorhaube, des Dachs und des Kofferraums ihres BMW prasselten. Sie schufen eine völlig eigene Melodie, anders als das, was aus dem Radio und den Mündern seiner Mutter und seiner Schwester kam. Er konnte zwar nicht sagen, ob er Schlagermusik mochte; er wusste allerdings ganz genau, dass er die Musik des Regens entschieden lieber hörte.
Es war Samstag und die vier waren zu einer Trauung unterwegs. Mamas beste Freundin Susanne war vor zwei Jahren zu ihrem Freund nach Köln gezogen. Jetzt heirateten die beiden und hatten Mama und ihre Familie zur Hochzeit eingeladen. Alle freuten sich darauf – nur er nicht.
Er wollte heute lieber draußen sein und durch den Regen laufen. Es hatte jetzt seit Wochen kaum geregnet – und wenn, dann nur nachts –, und er hatte sehnsüchtig darauf gewartet, dass endlich wieder einmal so richtig heftiger Regen fiel. Und wo es heute dann schließlich so weit war, ging es nach Köln, wo laut Wetterbericht »die Sonne lachte«, wie Mama freudestrahlend verkündet hatte. Das war seiner Meinung nach fies und ungerecht. Außerdem konnte er es nicht leiden, wenn die Sonne lachte, denn die Sonne war der natürliche Feind des Regens. Sie waren wie Feuer und Wasser oder wie Batman und der Joker.
Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte er auch noch das weiße Hemd mit dem kratzigen Kragen und den blöden Anzug, anziehen müssen, in dem er laut Mama »wie ein richtiger kleiner Mann« aussah. Dabei wollte er gar nicht wie ein richtiger kleiner Mann aussehen. Wieso auch? Er war ein achtjähriger Junge und sollte in Gummistiefeln und Regenjacke durch den Regen laufen und in Pfützen springen.
Patricia, die immer so tat, als wäre sie nicht nur drei, sondern dreißig Jahre älter als er, konnte es natürlich nicht lassen, ihn damit aufzuziehen. »In den Klamotten siehst du nicht wie ein richtiger kleiner Mann aus, sondern wie ein richtiger kleiner Idiot«, sagte sie zu ihm und lächelte bösartig. Allerdings achtete sie darauf, dass ihre Eltern nicht im Zimmer waren und es mitbekamen. Sie hatte natürlich recht, denn auch er fand, dass er darin bescheuert aussah. Trotzdem durfte sie so etwas nicht ungestraft zu ihm sagen. Deshalb schlug er ihr mit seiner kleinen geballten Faust auf den Arm. Obwohl er nicht fest zuschlagen konnte, schrie sie vor Schmerz. Dann lief sie weinend zu ihrer Mutter und verpetzte ihn. Mama schimpfte mit ihm und erteilte ihm für morgen Hausarrest, dabei sollte es morgen wieder regnen. Deshalb hatte er bis zur Abfahrt schmollend in seinem Zimmer an seinem Schreibtisch gesessen, durch das Fenster nach draußen in den Regen gestarrt und aufmerksam der Melodie der Regentropfen gelauscht. Beinahe hörte es sich für ihn wie ein Flüstern an. Was würde der Regen ihm wohl erzählen, wenn er in der Lage wäre, dieses Flüstern zu verstehen.
Ich hasse sie!
Zuerst dachte er, der Regen hätte ihm die Worte eingeflüstert. Aber das konnte nicht sein, denn es war nur ein Wunschtraum. Deshalb musste es sein eigener Gedanke gewesen sein, auch wenn es sich nicht so angefühlt hatte.
Im ersten Moment war er schockiert darüber, denn so deutlich hatte er den Gedanken noch nie formuliert. Aber dann erkannte er, dass es die Wahrheit war. Er hasste seine Eltern und seine Schwester. Sie waren vollkommen anders als er und verstanden ihn überhaupt nicht. Manchmal konnte er gar nicht glauben, dass er tatsächlich ihr Kind war.
Vor ein paar Monaten hatte er seine Mutter daher gefragt, ob sie ihn adoptiert hätten.
»Wie kommst du denn bloß darauf?« Mama spülte in der Küche das Geschirr, während im Radio Nicole Ein bisschen Frieden sang. Sie hielt inne und sah ihn überrascht an.
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. So halt.«
»Du musst doch einen Grund haben, warum du so eine Frage stellst.« Seine Mutter sah ihn mit gerunzelter Stirn forschend an. Sie sah so aus und hörte sich auch so an, als hätte die Frage, mit der er an ihrer Mutterschaft zweifelte, sie zutiefst verletzt.
»Weil … weil ich so anders bin als ihr.«
Jetzt entspannte sich ihr Gesicht wieder. Sie schüttelte amüsiert den Kopf und lachte. »Kinder sind oft ganz anders als ihre Eltern, manchmal sogar das genaue Gegenteil. Und das ist auch gut so. Wer will denn schon einen kleinen Klon von sich selbst haben? Und auch Geschwister können, selbst wenn sie die gleichen Eltern und damit dasselbe Erbgut haben, grundverschieden sein. Das hat also überhaupt nichts zu bedeuten. Ich kann dir nämlich versichern, dass du garantiert nicht adoptiert wurdest, sondern von mir und deinem Papa stammst und aus meinem Bauch gekommen bist. Wenn du willst, kann ich dir die Ultraschallbilder zeigen. Darauf bist du zu sehen, als du noch gar nicht geboren warst. Haben wir das Thema damit geklärt?«
Er nickte und bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. Es fiel ihm leicht, schließlich hatte er Übung darin. Allerdings waren die Zweifel über seine Abstammung damit noch lange nicht ausgeräumt. Im Gegenteil. War es nicht vielmehr zu erwarten gewesen, dass sie es rundheraus abstreiten würde? Und wer sagte ihm, dass diese Überschallbilder überhaupt ihn zeigten oder wirklich aus Mamas Bauch stammten.
»Dann kannst du ja jetzt wieder spielen gehen«, sagte Mama. »Was treibst du denn gerade?«
»Ich male ein Bild.« Das Bild war natürlich ein Regenbild. Bis vorhin, als ihm die Idee gekommen war, seine Mutter zu fragen, ob er adoptiert worden war, hatte er bereits 658 blaue Regentropfen unterschiedlicher Größe gemalt, die von einem wolkenverhangenen Himmel schräg auf eine grüne Wiese fielen. Insgesamt sollten es tausend werden, deshalb hatte er noch einiges zu tun.
Mama warf einen Blick aus dem Fenster. »Warum spielst du nicht im Garten? Es ist heute so schön draußen.«
Er folgte ihrem Blick. Die Sonne schien von einem Himmel, an dem keine einzige Wolke zu sehen war. Das Wetter war tatsächlich herrlich, zumindest für all diejenigen, die Sonnenschein und wolkenlosen Himmel mochten. Er mochte es definitiv nicht.
»Ich möchte aber lieber mein Bild fertig malen«, wandte er daher rasch ein.
»Okay.« Mama verzog das Gesicht und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, als würde sie bedauern, dass er ihren Ratschlag nicht befolgte, seine Entscheidung aber dennoch respektieren. »Dann geh schon. Ich hab dich lieb.«
Er hatte sich bereits abgewandt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Aus diesem Grund ging ihm die Lüge leichter über die Lippen: »Ich dich auch, Mama.«
Der Gedanke, Mama und Papa wären nicht seine leiblichen Eltern und Patricia nicht seine richtige Schwester, hatte ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Er war irgendwie tröstlich, denn so ließ sich zumindest erklären, warum er so anders als sie war und nicht die geringste Liebe für sie empfand.
Doch dass er sie regelrecht hasste, hatte er sich soeben zum ersten Mal eingestanden. Natürlich spielten die besonderen Umstände eine Rolle, dass er ausgerechnet in diesem Moment so empfand. Schließlich konnte er nicht im Regen draußen sein, sondern musste stattdessen zu einer langweiligen Hochzeit an einem Ort fahren, an dem auch noch die Sonne schien. Außerdem forderte Mama ihn ständig auf, ihre blöden Schlagerlieder mitzusingen. Und dann behandelte seine Schwester ihn immer von oben herab, ärgerte und schlug ihn, wenn seine Eltern es nicht bemerkten, und verpetzte ihn sofort, wenn er es wagte, sich nicht alles gefallen zu lassen und zur Wehr zu setzen. Sein Unmut über all das staute sich allmählich in ihm auf. Allerdings gab es für ihn keine Möglichkeit, sich anderweitig abzureagieren.
Ich wünschte, sie wären tot!
Er blinzelte überrascht. Erneut war es ihm so vorgekommen, als hätte der Gedanke nicht in ihm selbst seinen Ursprung gehabt, sondern als wäre er von außen an ihn herangetragen worden, beispielsweise durch das Flüstern des Regens auf der Karosserie des Wagens. Er starrte auf die Seitenscheibe, gegen die der Regen prasselte. Der heftige Fahrtwind sorgte dafür, dass die Tropfen nicht nach unten, sondern beinahe waagerecht von links nach rechts über die Scheibe flossen.
Obwohl er gern weiterhin dem Regen zugesehen hätte, riss er sich vom Anblick der regennassen Scheibe los. Er konzentrierte sich wieder auf das, was im Wagen geschah und sah sich um.
Im Radio kam längst ein anderes Lied. Jürgen Markus sang Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, nananananana.
Mama und Patricia sangen lauthals mit, als wollten sie gegen das Prasseln des Regens ansingen, der immer heftiger wurde. Er nahm schon beinahe wolkenbruchartige Ausmaße an, was das Herz des Jungen vor Freude unwillkürlich schneller schlagen ließ.
Mama wandte sich ein weiteres Mal zu ihm um. »Na los, sing schon mit! Sei doch kein Spielverderber.«
Er schüttelte trotzig den Kopf.
»Warum denn nicht?«
»Weil ich dein saublödes Schlagerlied nicht singen will!« Er hatte gar nicht beabsichtigt gehabt, etwas Derartiges zu sagen. Und noch weniger hatte er vorgehabt, dabei so laut zu schreien, wie er nur konnte. Doch sobald er es getan hatte, wusste er, dass es richtig gewesen war, denn danach fühlte er sich viel besser, irgendwie befreiter.
Mama starrte ihn mit großen Augen und offenem Mund an, als könnte sie nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Sie war in der Bewegung erstarrt und schien nicht zu wissen, wie sie auf seinen Ausbruch reagieren sollte. Patricia verstummte von einer Sekunde zur anderen und sah ihren Bruder mit verblüffter Miene an. Anscheinend hätte sie ihm so etwas nie und nimmer zugetraut. Papas Kopf war wie von einer gespannten Feder gezogen blitzschnell herumgeschnellt, damit er seinen Sohn, der schräg hinter ihm saß, ansehen konnte. Seine Stirn war gerunzelt, und an seinem dicken Hals schwoll eine Ader an, was immer ein schlechtes Zeichen war. Nur Jürgen Markus blieb gänzlich unbeeindruckt und gab weiterhin seinen größten Hit zum Besten. Allerdings waren es die letzten Zeilen, sodass er bald von einem anderen Interpreten abgelöst werden würde.
»Was fällt dir bloß ein?«, fragte Papa grollend, und die Zornesader pulsierte im Takt seiner Worte, als könnte sie jeden Moment aufplatzen. Entgegen seiner Gewohnheit nahm er die rechte Hand vom Lenkrad und machte Anstalten, nach hinten zu langen, um seinem Sohn eine rasche Ohrfeige zu versetzen.
»Moritz, nicht!«, sagte Mama, die jede Form von körperlicher Gewalt zutiefst verabscheute.
Jürgen Markus verstummte und wurde ohne Pause von Drafi Deutscher abgelöst, der Marmor, Stein und Eisen bricht sang.
Papa erstarrte, den finsteren Blick noch immer auf seinen Sohn gerichtet, und schien zu überlegen, ob er auf seine Frau oder auf seine Instinkte als Vater hören sollte.
Doch noch ehe er eine Entscheidung treffen konnte, hörten alle vier ein ohrenbetäubend lautes Hupen.
In der Erinnerung des Regenmanns spielte sich das, was danach passierte, wie in Zeitlupe ab. In Wirklichkeit währte es hingegen nur wenige Augenblicke.
Alle Insassen des Wagens rissen gleichzeitig die Köpfe herum. Aus riesengroßen schreckgeweiteten Augen starrten sie durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie wurden vom Licht eines Scheinwerferpaars geblendet, das rasend schnell immer größer wurde.
Papas rechte Hand kehrte reflexartig und wie von einem Magneten angezogen ans Lenkrad zurück. Er riss das Steuer nach rechts, um auszuweichen und wieder auf seine Spur zurückzukehren. Die hatte er, während er abgelenkt gewesen war, unbeabsichtigt verlassen, weil die Fahrbahn an dieser Stelle leicht nach rechts schwenkte. Doch für ein Ausweichmanöver war es längst zu spät. Außerdem war die Fahrbahn durch den heftigen Regen extrem rutschig geworden, sodass die Reifen für das abrupte Manöver nicht genügend Halt fanden.
Das Auto kam augenblicklich ins Schleudern. Es vollführte eine halbe Drehung und krachte daher hauptsächlich mit der Fahrertür in die linke vordere Ecke des Lkws. Dessen Fahrer hatte es ebenfalls nicht mehr geschafft, den Zusammenprall zu verhindern, weil er sich bis soeben am Telefon mit seiner Freundin gestritten hatte, von der seine Frau nichts wusste, und deshalb gleichermaßen abgelenkt gewesen war.
Das Krachen der aufeinanderprallenden Fahrzeuge war so laut wie ein Donnerschlag, und der Junge befürchtete, er könnte davon taub werden. Das Auto wurde im Bruchteil eines Augenblicks von einer Geschwindigkeit von 70 Stundenkilometern auf null heruntergebremst. Das führte dazu, dass die Bewegungsenergie größtenteils in Verformungsenergie umgewandelt werden musste, was sich auf den erheblich kleineren und leichteren Pkw wesentlich ungünstiger auswirkte als auf den massigen Lkw. Wie ein Rammbock bohrte sich die Ecke des Lasters in die Fahrertür. Dabei verformte sich das Metall der Karosserie und des Fahrgestells, als bestünde es aus Pappe.
Papa wurde gleichermaßen verformt und war augenblicklich mausetot.
Sämtliche Fensterscheiben zerbarsten nahezu gleichzeitig. Außerdem entfalteten sich die Airbags explosionsartig und trugen damit ihr Scherflein zu der infernalischen Geräuschkulisse bei. Und auch sonst herrschte im Wageninneren das reinste Chaos.
Da der Lastwagen sich noch immer vorwärtsbewegte, wurde das Auto erneut herumgeschleudert, dieses Mal allerdings in die andere Richtung, und löste sich von der Frontpartie des Lasters. Dabei wurden die hintere linke Tür und ein Teil der Karosserie auf der Fahrerseite abgerissen. Darunter war auch die Halterung für den Sicherheitsgurt.
Der Junge sah zu seiner ungeliebten Schwester, die den Mund aufgerissen hatte und gellend schrie. Doch ihr Schrei ging in all dem Krachen, Klirren, Bersten und Knallen rundherum komplett unter und blieb daher ungehört. Es war das letzte Bild, das er von ihr in Erinnerung behalten sollte. In der einen Sekunde war sie noch da, aber bereits in der nächsten Sekunde war sie verschwunden, als wäre sie von einem geschickten Bühnenmagier einfach weggezaubert worden. Die Fliehkräfte hatten sie zusammen mit ihrer Sitzerhöhung aus dem kreiselnden Auto gerissen. Sie geriet unter den Frontreifen des Lkw und wurde von ihm zermalmt.
Das Auto war aber noch immer nicht am Ende seiner Reise angekommen. Es schleuderte auf der rutschigen regennassen Fahrbahn weiter. Dabei drehte es sich mehrere Male um die eigene Achse, sodass die beiden verbliebenen lebenden Insassen vollkommen die Orientierung verloren. Lose Gegenstände und abgerissene Fahrzeugteile flogen wie Geschosse durch den Innenraum und aus den zerborstenen Fenstern nach draußen. Doch keins davon traf den Jungen in seinem Kindersitz auf der Rückbank; es war, als hielte jemand oder etwas seine schützende Hand über ihn.
Dann schlitterte der Wagen von der Straße. Er kippte eine Böschung hinunter und überschlug sich mehrere Male, bis er mit der Beifahrerseite gegen einen Baum krachte, dessen massiver Stamm das Wrack schließlich zum Stillstand brachte. Dabei brach ein daumendicker Ast des Baumes. Das spitze Ende bohrte sich in Mamas Hals. Sie erstickte in wenigen Augenblicken an ihrem eigenen Blut.
Einzig der Junge auf dem Rücksitz hatte den Crash wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer überstanden. Er war natürlich durch den heftigen Aufprall auf den Laster, den damit einhergehenden infernalischen Lärm und die anschließende Schleuderpartie noch reichlich benommen, doch ansonsten ging es ihm erstaunlich gut. Und dass er soeben seine komplette Familie verloren hatte, denn andere Angehörige gab es nicht mehr, wusste er in diesem Moment noch nicht.
Durch die zerstörten Fenster fiel der Regen ins Fahrzeuginnere. Der Junge fröstelte zwar, als er durchnässt wurde, er empfand die Regentropfen auf seiner Haut aber dennoch als angenehm und tröstlich. Nach dem infernalischen Lärm des Unfalls war endlich Ruhe eingekehrt. Der Motor des Wagens lief nicht mehr, und auch das Radio und Drafi Deutscher waren längst verstummt. In Gedanken hörte der Junge allerdings noch immer die Melodie. Sie würde von nun an in seiner Erinnerung untrennbar mit diesem Unfall verbunden sein. Neben dem Ticken der abkühlenden Fahrzeugteile waren nur das Rauschen des Regens und das Geräusch der Tropfen auf der aufgerissenen und zerstörten Karosserie zu hören. Auch sie spendeten dem Jungen Trost.
Er erinnerte sich an seine Gedanken vor dem Unfall.
Ich wünschte, sie wären tot!
Kurz darauf war es zum Crash gekommen. Und jetzt rührten sich Mama und Papa auf dem Vordersitz nicht mehr, und Patricia war spurlos verschwunden.
Er war allein.
Nicht ganz allein!
Erneut hatte er das Gefühl, als wäre es nicht sein eigener Gedanke. Es kam ihm eher so vor, als hätte er etwas in einer anderen Sprache gehört und dann automatisch im Kopf übersetzt, damit es für ihn verständlich wurde. Als würde der Regen durch den Rhythmus seiner Tropfen endlich zu ihm sprechen. Er lauschte aufmerksam, bemühte sich intensiv, noch mehr von der Regentropfensprache zu verstehen, doch es funktionierte nicht.
Und vermutlich hatte er es sich ohnehin nur eingebildet. Schließlich war der Regen kein lebendes und denkendes Wesen, das mittels seiner Tropfen mit anderen kommunizieren konnte, auch wenn es ihm manchmal so vorkam. Und es ging entschieden zu weit, auch nur anzunehmen, der Regen hätte seinen gedanklich geäußerten Wunsch, dass seine Familienangehörigen sterben sollten, verstanden und ihm dabei geholfen, ihn in die Tat umzusetzen.
Trotzdem …
Der Regen auf seiner Stirn und seinen Haaren fühlte sich beinahe so an, als striche ihm jemand zärtlich über den Kopf. Und die Tropfen auf dem Rest seines Körpers fühlten sich wie eine nasse, aber gleichwohl tröstende Umarmung an.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.