Kitabı oku: «DER REGENMANN», sayfa 6

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»Ich hab’s gehört.« Er öffnete sein Notizbuch und nahm den dazugehörigen Kugelschreiber aus der Schlaufe. »Zuerst sagen Sie mir aber noch Ihre Adresse.«

Anja nannte ihm ihre Anschrift.

Er notierte sich ihre Angaben, dann klappte er das Buch zu. »Am besten, Sie holen jetzt die Nachricht, die Sie bekommen haben, während ich zu meiner Kollegin gehe und nachsehe, was sie von mir will.«

»Zu Befehl«, sagte Anja und salutierte zum Spaß.

Plattner lachte leise, dann drehte er sich um und ging an der Seite des Hauses entlang, um zur Rückseite zu gelangen.

Anja hingegen wandte sich vom Haus ab und verließ das Grundstück.

13

Zehn Minuten später war sie wieder zurück. Sie hatte nicht nur die Klarsichthülle geholt, in der sich neben der Nachricht und dem Umschlag auch die ursprüngliche Klarsichthülle befand, sondern die Gelegenheit auch gleich genutzt, um kurz ins Bad zu gehen und anschließend ein Glas Wasser zu trinken. Danach hatte sie nach Yin gerufen und das Haus nach ihm abgesucht. Da das Schicksal von Carina Arendts schwarzer Katze noch immer ungeklärt war, machte sie sich Sorgen um ihren Kater. Doch der war unauffindbar gewesen. Offensichtlich war er draußen und durchstreifte nun, nachdem es endlich zu regnen gehört hatte, die Nachbarschaft, um sein Revier gegen aufdringliche Rivalen zu verteidigen oder einsame Katzendamen zu umgarnen.

Da vor dem Haus niemand war, ging sie nach hinten. Aber auch dort fand sie niemanden. Wie es aussah, hatten die Kriminaltechniker grünes Licht gegeben und die beiden KDD-Beamten ins Haus gelassen.

Die kaputte Terrassentür, die ins immer noch hell erleuchtete, aber menschenleere Wohnzimmer führte, stand einen Spaltbreit offen. Doch Anja wagte es nicht, das Haus ohne Erlaubnis der zuständigen Kollegen zu betreten. Also ging sie wieder nach vorn und wartete dort.

Mittlerweile hatten die Anwohner auf der rechten Seite mitbekommen, dass auf dem Nachbargrundstück etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Ein älteres Ehepaar stand am Fenster und beobachtete Anja argwöhnisch. Sie setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und winkte den beiden alten Leuten zu. Diese zogen sich daraufhin geradezu fluchtartig zurück, als wären sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Sie schlossen die Vorhänge und löschten das Licht.

Während sie wartete, vertrieb sich Anja die Zeit, indem sie im Licht der Lampe über der Eingangstür das Foto von Carina Arendt mit ihrer Katze noch einmal genauer unter die Lupe nahm. Alle paar Minuten ging das Licht aus, sodass Anja eine Bewegung machen musste, damit es wieder anging. Doch obwohl sie die ausgedruckte Fotografie Millimeter für Millimeter unter die Lupe nahm, fiel ihr nichts Ungewöhnliches daran auf.

Auf diese Weise waren weitere zehn Minuten vergangen, bis Anja hinter sich plötzlich ein Räuspern vernahm. Sie zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum.

»Tut mir leid«, sagte Andreas Plattner, der in der offenen Haustür stand. Allerdings konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen über ihre Reaktion nicht verkneifen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Lügner!«, meinte Anja, lächelte dabei aber, um zu zeigen, dass sie es nicht böse meinte.

»Ertappt.« Plattner zuckte entschuldigend mit dem Achseln. »Haben Sie die Nachricht geholt?«

Anja nickte und reichte ihm die Klarsichthülle.

Er warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor er sich wieder ihr zuwandte. »Und haben Sie auch Ihre Überschuhe noch dabei?«

»Habe ich.« Sie klopfte auf die Tasche, in der sie steckten. »Wieso fragen Sie?«

Doch anstatt ihre Frage zu beantworten, meinte er nur: »Ziehen Sie sie bitte an und kommen Sie dann rein.«

Anja zuckte mit den Schultern und tat, was er gesagt hatte.

»Sind die Kriminaltechniker bereits fertig?«, fragte sie, als sie schließlich im Hausflur neben ihm stand.

Plattner schüttelte den Kopf. »Noch nicht überall. Aber wir haben grünes Licht bekommen, uns in bestimmten Bereichen des Hauses frei bewegen zu können.«

»Und?«

Er zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was meinen Sie?«

»Wurde die Leiche der Frau bereits gefunden?«

»Ach so.« Er lachte, was Anja in dieser Hinsicht für unangebracht hielt, und schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Frauenleiche im ganzen Haus.«

Anja war beruhigt und fühlte sich daraufhin nicht mehr so unwohl hier drin. »Und was ist mit der Katze?«

»Die haben wir. Einer der Kriminaltechniker hat sie gefunden.«

»Wo war sie denn?«

»Im Keller.«

»Sie muss sich dort versteckt haben, als der Eindringling während des Regens ins Haus kam.«

»Das glaube ich kaum«, meinte Plattner mit einem schiefen Grinsen.

»Warum?«

»Sie wurde im Gefrierschrank gefunden«, antwortete er. »Von der Nase bis zur Schwanzspitze völlig steif gefroren.«

»Oh!«

»Wenn sie sich tatsächlich dort versteckt hätte, dann wäre das ein denkbar ungünstiges Versteck gewesen. Allerdings ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sie es ohne fremde Hilfe geschafft hat, die Tür des Gefrierschranks zu öffnen und in eins der Fächer zu klettern. Außerdem sieht es so aus, als hätte ihr jemand vorher das Genick gebrochen.«

Als ausgesprochene Katzenfreundin verzog Anja mitfühlend das Gesicht. Sie musste dabei natürlich an Yin denken, der momentan draußen herumstromerte. Hoffentlich ging es ihm gut.

»Immerhin haben wir jetzt eine Leiche«, sagte Plattner grinsend. »Auch wenn es nur die einer Katze ist.«

»Ich kenne Carina Arendt zwar nicht«, meinte Anja, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es war, die ihrer Katze das angetan hat. Also haben wir hier neben den Fuß- und Wasserspuren und dem blutigen und durchlöcherten Bademantel ein weiteres Indiz, dass jemand ins Haus eingedrungen ist. Fragt sich, was er mit der verletzten Carina Arendt oder ihrer Leiche gemacht hat, nachdem er sie angegriffen hatte.«

»Womöglich erfahren wir ja bald, was sich im Badezimmer abgespielt hat.«

»Wie das?«

»Kommen Sie!«, forderte er sie mit einer Kopfbewegung auf und marschierte voraus in Richtung Treppe. Dabei achtete er sorgsam darauf, nicht auf die Fußspuren auf dem Boden zu treten, die inzwischen teilweise mit nummerierten Beweistäfelchen versehen worden waren.

Anja folgte ihm. »Wohin gehen wir?«

»Nach oben«, sagte er nur, als hätte sie das nicht schon selbst erraten. »Beeilen Sie sich, sonst verpassen wir noch die Show.«

Die Show?

Doch Anja fragte nicht nach, denn allem Anschein nach wollte Plattner so lange wie möglich ein Geheimnis daraus machen. Auf halber Höhe der Treppe sah er sich nach ihr um und grinste wie ein kleiner Junge, der sich auf die Bescherung an Weihnachten freut. Dann konzentrierte er sich wieder darauf, nicht auf die Spuren zu treten, die der Eindringling hinterlassen hatte. Anja zuckte mit den Schultern. Sollte er ruhig seinen Spaß haben. Früher oder später würde sie schon erfahren, was es mit der von ihm erwähnten Show auf sich hatte.

Sie gingen denselben Weg, den Anja zuvor allein zurückgelegt hatte, indem sie sich stets neben den Spuren hielten, und erreichten schließlich das Badezimmer.

Melissa Schubert stand mit verschränkten Armen breitbeinig vor der Tür und sah hinein. Als sie Plattner und Anja kommen hörte, warf sie über die Schulter einen Blick nach hinten. »Da sind Sie ja endlich«, sagte sie zu Anja. Dann, an Plattner gewandt: »Hast du die Nachricht, die auf ihrer Türschwelle lag?«

Plattner nickte und zeigte ihr die Klarsichthülle.

»Gut«, sagte seine Kollegin. Dann ging sie ein Stück zur Seite, sodass Anja und Plattner, die neben ihr stehen blieben, ebenfalls ins Badezimmer schauen konnten.

Als Anja die beiden Kriminaltechniker sah, die sämtliche Oberflächen mit einer Flüssigkeit besprühten, fiel bei ihr endlich der Groschen. Jetzt wusste sie, was Plattner mit der Show gemeint hatte.

Bei der Sprühflüssigkeit handelte es sich um ein Gemisch aus Luminol in Natronlauge und verdünnter Wasserstoffperoxid-Lösung. Damit konnten latente Blutspuren, die für das bloße Auge unsichtbar waren, weil sie nur in geringen Mengen vorhanden oder durch Reinigungsmaßnahmen nahezu vollständig beseitigt worden waren, sichtbar gemacht werden. Das Luminol erzeugte bei Kontakt mit dem Blutfarbstoff Hämoglobin eine chemische Reaktion, worauf es kurzzeitig zu einer Chemolumineszenz, einem bläulichen Leuchten kam.

Schließlich waren die beiden Kriminaltechniker, einer von ihnen war der Teamleiter, mit dem Einsprühen aller Flächen fertig und positionierten sich in der Nähe der Tür. »Licht aus!«, sagte der Leiter, worauf sein Kollege das Licht im Badezimmer löschte. Und auch Melissa Schubert griff mit ihrer behandschuhten Hand nach dem Lichtschalter des Flurlichts und schaltete es aus.

»Wow«, sagte Plattner, als es dunkel und wie bei einer Lightshow ein blaues Leuchten sichtbar wurde.

Als Anja bei ihrem ersten Besuch in diesem Haus im Badezimmer gewesen war, hatte sie angenommen, es wäre gründlich gereinigt worden. Doch nun sah sie, dass diese Reinigung in Wahrheit nur oberflächlich erfolgt war. Allerdings war es nahezu unmöglich, Blutspuren komplett zu beseitigen. Das menschliche Auge ließ sich zwar täuschen, denn die sichtbaren Blutspuren waren nahezu vollständig entfernt worden. Doch mithilfe des Luminols erkannte sie nun, dass noch genügend latente Spuren vorhanden waren, die eine chemische Reaktion ausgelöst hatten.

An den Wänden und sogar an der Decke gab es unzählige verwischte, blau leuchtende Blutspritzer. Auf den Bodenfliesen in der Mitte des Badezimmers, an den Innenwänden der Dusche und in der Duschwanne selbst war die Chemolumineszenz besonders intensiv, weil dort großflächig Blut vergossen und anschließend aufgewischt worden sein musste. Ein dunkles Rechteck ohne Lumineszenz am Boden zeigte die Stelle, an der eine Badematte gelegen hatte, die der Täter vermutlich zusammen mit dem Opfer beseitigt hatte.

Der blutbefleckte Bademantel hatte Anja bereits erahnen lassen, dass an diesem Ort eine Menge Blut vergossen worden war. Die Intensität und großflächige Verteilung des bläulichen Leuchtens ließ diese Ahnung nun zur Gewissheit werden.

In diesem Moment kam wieder Leben in die beiden Kriminaltechniker. Sie holten Fotoapparate aus einem Einsatzkoffer und begannen damit, alle leuchtenden Oberflächen zu fotografieren, um die Spuren später auswerten zu können. Angesichts der Menge an Blutspuren, die das Luminol zum Vorschein gebracht hatte, würde das mit Sicherheit eine Weile dauern.

Anja drehte sich um. Das Licht der Lampe, die über der Treppe an der Wand hing, genügte ihr, um ihren Weg zu finden, ohne auf die Fußspuren des Täters zu treten. Die beiden KDD-Beamten folgten ihr. Erst als sie im erleuchteten Erdgeschossflur angekommen war, blieb sie stehen. Sie wandte sich um und wartete auf Schubert und Plattner.

Sie sah, dass die Tür zum Wohnzimmer offen stand und die anderen beiden Kriminaltechniker darin zugange waren. Die Frau fotografierte die Fußspuren, während der Mann bestimmte Bereiche der Terrassentür mit Rußpulver einstäubte, um Fingerabdrücke zu sichern. Anja bezweifelte, dass er dort auch die des Täters finden würde, und war froh, dass sie selbst in diesem Haus nichts mit bloßen Händen angefasst hatte.

»Nun?«, fragte Melissa Schubert, sobald sie und ihr Kollege Anja erreicht hatten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Anja an, als erwartete sie endlich das längst überfällige Geständnis von ihr.

Anja zuckte mit den Schultern. »Was wollen Sie von mir wissen?«

»Was halten Sie von dem, was wir gesehen haben?«

Anja hob überrascht die Augenbrauen; sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Kollegin sie nach ihrer Meinung fragen würde. Sie sortierte rasch ihre Gedanken, bevor sie antwortete: »Der Zustand des Bademantels ließ bereits darauf schließen, dass dort oben eine Menge Blut vergossen wurde. Der Einsatz des Luminols hat das meiner Meinung nach bestätigt. Aufgrund der momentanen Sachlage, die sich aus alldem ergibt, gehe ich daher davon aus, dass dort oben jemand nach dem Duschen mit einem Messer angegriffen und mindestens schwer verletzt, wenn nicht sogar getötet wurde. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei dem Opfer um Carina Arendt. Und der Täter ist die Person, die auch die Fußabdrücke und Tropfspuren im Haus hinterlassen hat.«

Schubert nickte nachdenklich, als wäre sie mit Anja einer Meinung, während Plattner wie immer grinste.

»Womit haben wir es hier Ihrer Meinung nach also zu tun?«, fragte Schubert.

Anja seufzte. »Mit letztendlicher Sicherheit lässt sich das natürlich momentan noch nicht sagen. Auf jeden Fall scheint zumindest eine gefährliche Körperverletzung vorzuliegen. So viel steht aufgrund der Blutspuren und der Löcher im Bademantel meiner Meinung nach schon einmal fest. Ob Carina Arendt, falls sie tatsächlich das Opfer war, den Angriff überlebt hat oder nicht, lässt sich hingegen nicht verlässlich feststellen. Im Augenblick können wir daher noch nicht zwangsläufig von einem Tötungsdelikt ausgehen. Unter Umständen können Ihnen in dieser Hinsicht ja die Blutspurenanalysten weiterhelfen, falls sie anhand der durch das Luminol sichtbar gewordenen Spuren feststellen können, wie viel Blut das Opfer in etwa verloren hat und ob dieser Blutverlust letztendlich tödlich war.«

Anja verstummte einen Moment, während sie rekapitulierte, was sie darüber wusste. Eine durchschnittliche Frau besitzt ungefähr vier bis fünf Liter Blut. Verliert sie sehr schnell eine große Menge Blut, ist bereits ein Verlust von 20 Prozent, also etwa ein Liter kritisch.

»Da das Opfer spurlos verschwunden ist«, fuhr Anja fort, »egal, ob es noch lebt oder nicht, liegt zumindest eindeutig ein Vermisstenfall vor.«

»Also schlagen Sie uns vor, den Fall morgen früh zur weiteren Bearbeitung an die Vermisstenstelle weiterzuleiten?«, wollte Schubert wissen.

Erneut zuckte Anja mit den Schultern. »Ohne das Opfer ist nicht einmal die Körperverletzung erwiesen. Aber da es definitiv verschwunden ist, liegt auf jeden Fall ein Vermisstenfall vor. Von daher ist es momentan naheliegend, den Fall an die Vermisstenstelle zu übergeben. Sie beide wissen natürlich selbst, was in so einem Fall zu tun ist. Zunächst einmal muss anhand einer DNA-Analyse des Blutes am Bademantel überprüft werden, ob es sich bei dem mutmaßlichen Opfer tatsächlich um die Bewohnerin des Hauses handelt. Außerdem müssen Nachforschungen in den Krankenhäusern der Umgebung vorgenommen und sämtliche Angehörige und Bekannte der Frau befragt werden. Vielleicht ist es ihr ja gelungen, schwer verletzt aus dem Haus zu fliehen, und sie wurde dann irgendwo aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht. Oder sie konnte sich zu Freunden flüchten.«

Schubert schüttelte den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Dann hätte sie sich ja vorher den Bademantel ausziehen und nackt weglaufen müssen.«

»In ihrer Todesangst wäre ihr das vermutlich egal gewesen«, meinte Anja.

»Allerdings hätte sie in dem Fall auf ihrem Weg durchs Haus Blutspuren hinterlassen müssen«, entgegnete die andere Frau. »Es wurden aber keine gefunden.«

Anja nickte, denn das war ein schlagkräftiges Argument, an das sie nicht gedacht hatte. Trotzdem widersprach sie: »Vielleicht hat der Täter diese Spuren ebenfalls weggewischt.«

»Und wieso hat er dann seine eigenen Fußspuren nicht beseitigt?«

Anja hob ratlos die Schultern und ließ sie wieder sinken. Das war eine der Schlüsselfragen, die den Fall so mysteriös machten. »Ich weiß nicht, warum er die Blutspuren im Bad, aber nicht seine eigenen Fußspuren im Haus beseitigt hat. Und ich habe auch keine Ahnung, warum er die blutige Badematte mitgenommen, dafür aber den blutbefleckten Bademantel hiergelassen hat. Das alles ergibt für mich ebenfalls keinen Sinn. Aber unter Umständen hat es für den Täter durchaus eine Bedeutung.«

Schubert seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durch ihr Haar. Sie wirkte müde. »Danke für Ihre Einschätzung, Frau Kollegin«, sagte sie dann und schenkte Anja zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wenigstens die vage Andeutung eines Lächelns. »So wie ich das sehe, werden wir diesen Fall heute Nacht ohnehin nicht aufklären können und am Ende unserer Schicht an die Kollegen von der Vermisstenabteilung übergeben. Da Sie allerdings den Tatort entdeckt haben und damit unmittelbar in den Fall involviert sind, würde ich sagen, dass Sie befangen sind.«

»Frau Spangenberg hat momentan ohnehin Urlaub«, warf Plattner ein.

Seine Kollegin nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. »Kennen Sie Carina Arendt eigentlich persönlich? Immerhin wohnen Sie in der Nähe.«

Anja schüttelte den Kopf. »Ich bin der Frau meines Wissens nach nie begegnet. Allerdings haben wir, außer dass wir beide in unmittelbarer Nachbarschaft zum Waldfriedhof wohnen, noch mindestens eine weitere Gemeinsamkeit.«

»Und welche ist das?«, fragte die KDD-Ermittlerin interessiert.

»Wir besitzen beide eine schwarze Katze«, sagte Anja. »Es fiel mir bereits auf, sobald ich das Blatt mit dem Fotoausdruck aus dem Umschlag genommen hatte, denn auf den ersten Blick hätte es auch ein Foto von mir und Yin sein können.«

»Yin?«, fragte Plattner.

»So heißt mein Kater.«

Melissa Schubert sah Anja erneut mit durchdringendem Blick an, als verdächtigte sie die andere Frau, ihr diese Information bislang bewusst vorenthalten zu haben.

»Das ist mir eben erst wieder eingefallen«, rechtfertigte sich Anja, die sich eigentlich nicht rechtfertigen wollte und über sich selbst ärgerte, dass sie es dennoch tat.

»Vielleicht haben Sie ja auch deshalb die Nachricht bekommen«, meinte Plattner. »Gewissermaßen als Warnung oder Drohung, dass Ihnen dasselbe blühen könnte.«

Anja schüttelte den Kopf. Das wollte und konnte sie nicht glauben. Außerdem widersprach es ihrer begründeten Vermutung, dass ein alter Bekannter ihr die Nachricht geschickt hatte, um erneut eine mörderische Schnitzeljagd mit ihr zu veranstalten.

Auch Melissa Schubert schien von diesem Gedanken nicht angetan zu sein. »Das hieße ja, dass wir es hier mit jemandem zu tun haben, der es auf Frauen mit schwarzen Katzen abgesehen hat.« Sie tat die Idee mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Tatsachen. Und die besagen, dass wir ein schwer verletztes, möglicherweise totes Opfer haben, das spurlos verschwunden ist.« Sie richtete ihren Blick wieder auf Anja. »Können Sie uns sonst noch etwas sagen, das uns bei unseren Ermittlungen weiterhilft, Frau Spangenberg?«

»Tut mir leid, aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich darüber weiß.«

»Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie bitte meinen Kollegen an. Er wird Ihnen seine Karte geben.«

Plattner griff gehorsam in die Innentasche seines Sakkos und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein. Er reichte sie Anja mit dem obligatorischen Grinsen, das sie nun schon allzu gut kannte und das ihr allmählich ein wenig auf die Nerven ging.

»Danke.« Anja steckte die Karte ein, ohne einen Blick darauf zu werfen.

»Nochmals vielen Dank, dass Sie uns Ihre Einschätzung des Falls mitgeteilt haben«, sagte die KDD-Beamtin zum Abschluss. »Wir werden Ihren Hinweisen natürlich nachgehen und in den Krankenhäusern nachfragen, ob heute Nacht eine Frau mit Stichwunden eingeliefert wurde. Und wir werden sämtliche Angehörigen, Freunde und die Nachbarn befragen. Allerdings habe ich, ehrlich gesagt, nicht allzu viel Hoffnung, dass wir den Fall bis zum Ende unserer Schicht lösen werden, sodass Ihre Kollegen von der Vermisstenstelle sich morgen früh nach Dienstbeginn damit herumschlagen dürfen.«

»Die werden sich sicherlich freuen«, sagte Anja.

Zum ersten Mal, seit Anja sie kannte, zeigte ihr Melissa Schubert ein echtes Lächeln. »Das glaube ich auch.«

14

Wieder zu Hause suchte Anja, sobald sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, als Erstes sämtliche Lieblingsaufenthaltsorte ihres Katers ab. Die zusammengefaltete Decke auf der Couch im Wohnzimmer, die Yin vor allem für seine ausgiebigen Nickerchen während des Tages benutzte, war leer. Auch Anjas Bett im Obergeschoss, in dem das Tier gewöhnlich schlief, nachdem es von seinen anstrengenden nächtlichen Streifzügen zurückgekehrt war, war verwaist. Er saß auch nicht auf dem Fensterbrett ihres Arbeitszimmers, das sie kaum noch betrat, weil es zu viele unangenehme Erinnerungen an ihren an diesem Ort verstorbenen Mann erweckte. Yin wiederum nutzte es gern als Aussichtspunkt, denn von dort hatte er einen hervorragenden Ausblick über sein Reich, das vermutlich aus ihrem Grundstück und den angrenzenden Gärten der Nachbarn bestand. Vor der Terrassentür, wo er immer dann teils sehnsüchtig, teils missmutig hinaus starrte, wenn es draußen zu ungemütlich für ihn war, weil es regnete, stürmte, blitzte oder donnerte, hockte er ebenfalls nicht. Er war auch nicht in der Küche, einem weiteren seiner Lieblingsorte, weil dort unter dem Fenster seine Näpfe mit Wasser und Katzenfutter standen. Und auch sonst war nirgends eine Spur von Yin zu entdecken. Sie ging daher davon aus, dass er noch immer draußen unterwegs war.

Angesichts des Schicksals, das die Katze der verschwundenen, vermutlich getöteten Carina Arendt getroffen hatte, machte sie sich inzwischen natürlich große Sorgen um den Kater. Allerdings rief sie sich in Erinnerung, dass das andere Tier nicht draußen, sondern von jemandem getötet worden war, der ins Haus eingedrungen war. Das gab ihr die Hoffnung, dass Yin nichts passierte, solange er im Freien unterwegs war. Und die Wahrscheinlichkeit, dass derselbe Täter auch in ihr Haus eindrang, war vermutlich eher gering.

Bist du dir sicher?

Ihre innere Stimme hatte die Angewohnheit, ihr ausgerechnet die Fragen zu stellen, die Anja nicht hören und auf die sie lieber keine Antwort haben wollte. Sie ignorierte sie deshalb einfach, was in der Regel aber nicht lange funktionierte.

Da sie momentan nichts anderes tun konnte, als darauf zu warten, dass Yin zurückkam, saß Anja am Küchentisch und grübelte.

Sie musste immer wieder an die Nachricht denken, die sie bekommen hatte. Und natürlich an das Polaroidfoto, das noch immer in der Innentasche ihrer Lederjacke steckte. Das Foto hatte jeden Zweifel darüber beseitigt, wer ihr den Umschlag vor die Tür gelegt hatte. Wie sie es von Anfang an vermutet hatte, steckte der Mörder ihres Vaters dahinter. Die Polaroidaufnahme war der Beweis, dass es sich um mehr als eine bloße Vermutung handelte. Sie hatte seit dem letzten Mal eine geraume Weile nichts mehr von ihm gehört, aber ständig insgeheim damit gerechnet, dass er sie früher oder später wieder aufs Korn nahm.

Damit war klar, dass der Mann, der sich Jack nannte, hinter der Geschichte steckte.

Aber wer ist die Person, die Carina Arendt in ihrem Badezimmer angegriffen und höchstwahrscheinlich getötet hat?

Wie in den früheren Fällen, in denen Anja es mit dem Mörder ihres Vaters zu tun bekommen hatte, bediente er sich offensichtlich auch hier wieder eines willfährigen Helfers, der für ihn die blutige Arbeit erledigte.

Aber wieso hatte er ihr die Nachricht geschickt und damit auf die Tat seines Handlangers aufmerksam gemacht, nachdem er sich andererseits zuvor so viel Mühe gegeben hatte, die Blutspuren im Bad zu entfernen? Außerdem hatte er auch den Bademantel hängen lassen und die Fußspuren nicht beseitigt. Wozu? Wollte er Anja in die Ermittlungen hineinziehen und erreichen, dass sie seinen Gehilfen jagte?

Der Gedanke war abenteuerlich, aber nicht grundsätzlich abwegig. Von daher behielt Anja ihn vorerst im Hinterkopf.

Stattdessen dachte sie über Plattner, den Kollegen vom Kriminaldauerdienst nach. Für ihre Begriffe hatte er zu oft gegrinst oder gelächelt. Vor allem angesichts dessen, was in dem Haus möglicherweise passiert war. Außerdem irritierte sie seine Faszination für Todesfälle, die sie weder begreifen noch begrüßen konnte.

Bevor sie allerdings noch länger über den KDD-Beamten nachdenken konnte, klingelte ihr Festnetztelefon. Sie wunderte sich, wer so spät noch anrief. Doch als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, sah sie, dass es noch gar nicht so spät war, wie sie gedacht hatte. Es war ihr nur so vorgekommen, weil in den letzten zweieinhalb Stunden so viel passiert war.

Während Anja in den Flur ging, dachte sie darüber nach, wer der Anrufer sein könnte. Vielleicht war es Tanja, die wissen wollte, was Anja herausgefunden hatte und ob es ihr gutging.

Doch als Anja das schnurlose Telefon nahm, stand auf dem Display nicht der Vorname ihrer Cousine, sondern der ihrer Mutter. Da Dagmar wusste, dass Anja selten vor Mitternacht schlafen ging, rief sie manchmal sogar noch spätabends an.

Anja seufzte. Während es ein weiteres Mal klingelte, überlegte sie, ob sie den Anruf entgegennehmen oder so tun sollte, als wäre sie nicht zu Hause.

Die Gründe, die für ein Telefongespräch mit Dagmar sprachen, überwogen schließlich. Erstens würde das Telefonat sie vom Nachgrübeln abhalten, das vermutlich ohnehin zu nichts führte. Außerdem verging die Zeit dann rascher, bis Yin nach Hause kam. Im Übrigen hatte sie seit fast einer Woche nicht mehr mit ihrer Mutter telefoniert. Ein Gespräch war daher längst überfällig, denn Dagmar erwartete, dass sie regelmäßig miteinander sprachen.

»Hallo, Mama«, sagte Anja, sobald die Verbindung stand. »Wie geht’s dir?«

Dagmar Fröhlich erwiderte die Begrüßung. Sie erging sich zunächst in der Schilderung diverser kleinerer körperlicher Beschwerden, die Anja allesamt nicht besonders schwerwiegend vorkamen. Anschließend listete sie eine Reihe von Problemen auf, die Anja angesichts dessen, was sie heute in Carina Arendts Haus vorgefunden hatte, wie Kinderkram erschienen. Sie ließ ihre Mutter dennoch munter drauflos schwadronieren, steuerte ab und zu einen einsilbigen Kommentar bei, hörte in Wahrheit aber überhaupt nicht richtig zu.

Dagmar war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet. Ihr Ehemann Josef Fröhlich betrieb eine Druckerei, in der sie im Büro tätig war. Durch die Heirat hatte Anja nicht nur einen Stiefvater bekommen, den sie gern hatte, sondern mit seinem Sohn Sebastian darüber hinaus auch einen Stiefbruder, den sie von Anfang an nicht besonders leiden konnte.

Als ihre Mutter daher von Sebastian erzählte, der in einer Einliegerwohnung in seinem Elternhaus lebte und Sanitäter war, zog Anja eine Grimasse und schaltete auf Durchzug. Sie stand mit dem Telefon am Ohr im Flur und starrte auf die Katzenklappe neben der Haustür, als könnte sie durch pure Willenskraft bewirken, dass die Klappe aufging und ihr Kater durch die Öffnung schlüpfte. Doch das passierte natürlich nicht.

Schließlich beendete Dagmar ihren Monolog und fragte: »Und wie geht’s dir so?« Eine Frage, die automatisch eine aktivere Beteiligung Anjas an der Unterhaltung nach sich zog.

»Mir geht’s gut«, gab Anja daraufhin ihre Standardantwort. Bis sie heute Abend den Umschlag auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, war das sogar im Großen und Ganzen die Wahrheit gewesen. Ihre Arbeit machte ihr wie immer Spaß; abgesehen natürlich von den zum Glück spärlich gesäten Tagen, an denen sie es mit Leichen zu tun hatte. Außerdem hatte nun schon eine ganze Weile niemand mehr versucht, sie zu töten, was sich ebenfalls positiv auf ihren Gemütszustand auswirkte. Einzig ihr Privatleben könnte etwas abwechslungsreicher sein, vor allem in Bezug auf das Thema Männer. Sie war in den letzten Monaten mit mehreren Männern ausgegangen, doch mehr als ein Restaurantbesuch war daraus nie geworden. In dieser Hinsicht war sie ein gebranntes Kind und deshalb extrem vorsichtig geworden. Aber wenigstens war sie nicht ganz allein, sondern hatte Yin.

Allerdings warf das, was sie am heutigen Abend erlebt hatte, einen tiefdunklen Schatten auf ihr Leben. Nicht nur, dass sie durch eine anonyme Nachricht erneut gegen ihren Willen in die Ermittlungen in einem möglichen Mordfall verwickelt wurde, musste sie sich nun auch noch Sorgen um ihren Kater machen. Außerdem hatte sie in den letzten Stunden mehrere Male das Gefühl gehabt, dass jemand sie aus dem Verborgenen beobachtete. Und schließlich war sie durch den Umschlag vor ihrer Tür an schreckliche Ereignisse aus ihrer Vergangenheit erinnert worden und musste seitdem auch wieder verstärkt an den Mörder ihres Vaters denken.

Apropos …

»Ich wollte dich eigentlich schon längst etwas fragen«, platzte Anja heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

»Was denn?«

Anja überlegte sich ihre Worte gut. Ihre Mutter und sie sprachen nie über den Tod ihres Vaters. Sie beide hatten bislang instinktiv davor zurückgescheut, so als wäre es ein Tabuthema, über das man einfach nicht redete. Außerdem gab es dazu im Grunde auch nichts zu sagen. Anja hatte damals seine Leiche gefunden und wusste daher über die Umstände seines vermeintlichen Selbstmordes bestens Bescheid. Zumindest hatte sie gedacht, alles darüber zu wissen, bis die Polaroidaufnahme ihres Vaters, die wenige Minuten oder Sekunden vor seinem Tod aufgenommen worden war, sie eines Besseren belehrt hatte. Seitdem wusste sie, dass er ermordet worden war, und der Mörder sich sogar noch im Haus aufgehalten hatte, als sie den Leichnam im Arbeitszimmer entdeckt hatte. Allerdings hatte sie ihrer Mutter nichts davon erzählt. Wieso sollte Anja sie auch mit diesem Wissen belasten, so wie es sie belastete, und sie beunruhigen? Noch dazu, wo sie den Bruder ihres Vaters dieses Mordes und zahlreicher weiterer Straftaten verdächtigte.

Doch nun, wo sie, ausgelöst durch die jüngsten Ereignisse, schon einmal damit angefangen hatte, wollte sie auch keinen Rückzieher mehr machen, sondern das Thema, das ihr bereits seit einiger Zeit auf den Nägeln brannte, endlich zur Sprache bringen.

»Anja? Bist du noch dran?«

Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte lange überlegt und geschwiegen.

»Ja, natürlich.«

»Du wolltest mich etwas fragen.« Eine Spur von Ungeduld schwang in der Stimme ihrer Mutter mit, genauso wie früher, wenn Anja nicht gleich mit der Sprache herausgerückt war.

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