Kitabı oku: «DER WIDERSACHER», sayfa 2
Kapitel 2
Ralf Kohler wischte den Spiegel ab, der nach dem Duschen beschlagen war, und betrachtete dann sein darin leicht verschwommen sichtbares Ebenbild. Mit dem, was er sah, war er höchst zufrieden, sodass er nicht anders konnte, als breit zu grinsen. An den strahlend weißen Zähnen in seinem Gesicht mit den männlich markanten Zügen, die das Bild der Perfektion ergänzten, das er abgab, hatte sein Zahnarzt ein kleines Vermögen verdient. Kein Wunder, dass der Mann jetzt einen Porsche fuhr. Aber nach Kohlers Meinung hatte er sich das Geld redlich verdient, denn er hatte wahrhaftig hervorragende Arbeit geleistet.
Kohler hob die Arme und spannte die Muskeln an. Er wandte den Kopf zuerst nach rechts und dann nach links und betrachtete selbstgefällig seine ausgeprägten Bizepse, für deren Aufbau er nicht nur lange schweißtreibende Stunden in der Muckibude verbracht, sondern auch haufenweise Proteine und Anabolika geschluckt hatte. Doch auch das hatte sich, wie er fand, ausgezahlt.
Er entspannte seine Muskeln wieder und ließ die Arme sinken. Anschließend kehrte sein Blick zu seinem Spiegelbild zurück. Mit argwöhnischer Miene und zusammengekniffenen Augen, denn er war etwas kurzsichtig, suchte er seinen nur mit einem um die Hüften geschlungenen Badetuch bekleideten Körper nach einem Makel ab. Er konnte jedoch keinen finden. Mit einer Körpergröße von zwei Metern und zwei Zentimetern – auf die beiden Zentimeter legte er großen Wert, denn sie hoben ihn von all den gewöhnlichen Zweimetermännern ab – und dem muskulösen Körper eines durchtrainierten Bodybuilders sah er nicht nur äußerst eindrucksvoll, sondern geradezu ehrfurchtgebietend aus. So mancher hatte ihn schon mit dem jungen Arnold Schwarzenegger verglichen, auch wenn Kohler der Meinung war, dass ihm der Vergleich nicht wirklich schmeichelte, weil er viel besser aussah als Arnie zu seinen besten Zeiten.
Begegnete Kohler anderen Männern, erfüllte es ihn jedes Mal mit Genugtuung und Stolz, wenn sie nach einem ängstlichen Blick auf seine Körpergröße und enorme Muskelmasse sofort respektvoll zur Seite traten, um ihm Platz zu machen. Er liebte es, von anderen geachtet und gleichzeitig gefürchtet zu werden. Aus diesem Grund war es nur naheliegend gewesen, dass er sich nach dem Abschluss der Mittelschule bei einem Münchner Wach- und Sicherheitsdienst als Personenschützer beworben hatte. Und obwohl er keine militärische oder polizeiliche Ausbildung genossen hatte und keine einzige Form der waffenlosen Selbstverteidigung beherrschte, war er sofort eingestellt worden, denn in der Regel genügte schon sein bloßer Anblick, um andere Menschen einzuschüchtern und nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.
Kohler war hauptsächlich im Personenschutz, bei Bedarf aber auch immer mal wieder als Chauffeur sowie im Objekt- und Veranstaltungsschutz tätig. Von seinen Bekannten wurde er wegen seines Jobs als Schutzengel der Reichen und Berühmten Angel genannt. Allerdings erst, als er eines Abends selbst den Namen ins Spiel gebracht hatte.
Nachdem er keinen offensichtlichen Makel in seiner äußeren Erscheinung gefunden hatte, hob Kohler die rechte Hand und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkelbraunes Haar, das noch nass und eine seiner wenigen Schwachstellen war. Obwohl er erst dreißig Jahre alt war, hatte sein Kopfhaar bereits frühzeitig damit begonnen, zu ergrauen und sich an der Stirn und am Oberkopf deutlich sichtbar zu lichten. Der plastische Chirurg hatte ihm erklärt, dass der Haarausfall und das Ergrauen in seinem Fall neben den Steroiden, die er zu sich nahm, auch genetische Gründe hatten. Es war ein Erbe seines Vaters, der bereits mit fünfunddreißig Jahren nur noch einen mickrigen silbernen Haarkranz besessen hatte, der ihn um mindestens fünfzehn Jahre älter gemacht hatte. Da Kohler darauf absolut keine Lust hatte, hatte er sich 1.500 Haarwurzeln aus dem Hinterkopf entnehmen und im Stirnbereich und am Oberkopf einsetzen lassen. Außerdem ließ er seine Haare regelmäßig färben. Mit dem Ergebnis war er vollauf zufrieden, denn mittlerweile merkte niemand mehr, dass sein Haar einmal eine seiner Problemzonen gewesen war.
Problem Nummer zwei waren seine Augen. Er litt seit seinem zwanzigsten Lebensjahr unter einer leichten Kurzsichtigkeit, die sich in letzter Zeit zu verschlimmern schien. Allerdings war er zu eitel, um eine Brille zu tragen. Außerdem fand er, dass ein Personenschützer mit Brille auf der Nase höchst uncool war. Deshalb hatte er es mit Kontaktlinsen versucht. Doch er schaffte es einfach nicht, sich die Linsen in die Augen zu setzen. Sein Lidschlussreflex, der das Augenlid jedes Mal unmittelbar vor dem Einsetzen automatisch schloss, machte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Das wunderte ihn allerdings nicht, denn seine Augen waren schon immer seine sensible Zone gewesen. Bereits als Kind hatte er Probleme gehabt, sich Tropfen ins Auge zu träufeln. Vor allem im Job bemühte er sich daher, sich von seiner Kurzsichtigkeit nichts anmerken zu lassen und sich irgendwie durchzumogeln. Bisher war ihm das gelungen, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte, doch wenn sich die Sehschwierigkeiten verstärkten, musste er wohl oder übel allmählich doch über eine Brille nachdenken.
Kohler seufzte. Nachdem sein nahezu perfekter Adoniskörper ihn vor wenigen Augenblicken noch mit so viel Freude erfüllt hatte, wollte er sich den Abend nicht vermiesen lassen, indem er noch länger über seine Kurzsichtigkeit nachgrübelte. Deshalb verdrängte er das Thema kurzerhand aus seinem Bewusstsein. Doch da eins meist zum anderen führte, machte er sich plötzlich Gedanken über seine Erektionsstörungen, womit er unversehens und ungewollt beim Problembereich Nummer drei angelangt war. Er hatte den starken Verdacht, dass es vor allem an den Anabolika lag, dass er nicht nur ordentlich Muskeln aufgebaut, sondern inzwischen immer größere Schwierigkeiten hatte, einen Ständer zu bekommen. Doch da er gegenüber Frauen ohnehin unerwartet schüchtern war, war es bislang kein riesiges Problem für ihn gewesen. Dennoch machte er sich gelegentlich Gedanken, ob es nicht doch besser wäre, auf Steroide zu verzichten. Aber dann, so befürchtete er, würde er einen Teil seiner eindrucksvollen Muskelmasse und vielleicht sogar seinen Job verlieren. Außerdem fürchtete er mögliche Entzugserscheinungen. Also kam ein Verzicht auf Anabolika für ihn im Grunde überhaupt nicht infrage, sodass es sich gar nicht lohnte, darüber nachzugrübeln.
Erneut seufzte Kohler tief, bevor er all die negativen Gedanken aus seinem Bewusstsein verdrängte. Ein letzter Blick in den Spiegel auf seinen athletisch wirkenden gebräunten Körper hob seine Stimmung sofort wieder und ließ ihn erneut breit grinsen, sodass seine unnatürlich weißen Zähne im Lichtschein der Beleuchtung aufblitzten. Dann wandte er sich ab, verließ das Badezimmer und schaltete das Licht aus.
Auf dem Weg durch den Flur zum Schlafzimmer, wo er seine Kleidung für diesen Abend bereits vor dem Duschen ausgewählt und aufs Bett gelegt hatte, sang er leise vor sich hin: »I’m too sexy for my love, too sexy for my love …«
Doch als er gerade die Kommode passierte, auf der sein Smartphone lag, gab dieses plötzlich die Tonfolge für einen eingehenden Anruf von sich, sodass er unwillkürlich erschrak und verstummte.
»Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt«, murmelte er, wovor er tatsächlich große Angst hatte. Denn der längerfristige Konsum anaboler Steroide führte nach Meinung anerkannter Experten nicht nur zu einer gestörten Spermienproduktion, Schrumpfhoden und Unfruchtbarkeit, sondern erhöhte auch das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Doch ebenso wie ein nikotinabhängiger Raucher, den auch keine noch so furchtbaren Schockbilder möglicher gesundheitlicher Folgen auf Zigarettenschachteln vom Rauchen abhielten, ignorierte Kohler sämtliche Risiken, die die Einnahme von Anabolika für ihn bedeuten konnten.
Er griff nach seinem Handy und warf einen Blick auf das Display, um zu sehen, wer ihn anrief. Es handelte sich jedoch um eine unbekannte Nummer. Da er auf dem Telefon allerdings nur wenige Kontakte gespeichert hatte, kam das oft vor. Deshalb dachte er sich nichts dabei und nahm den Anruf entgegen.
»Ja?«
»Spreche ich mit Ralf Kohler, der von seinen wenigen Freunden auch Angel genannt wird?«, fragte die tiefe Bassstimme eines Mannes.
Kohler runzelte verwirrt die Stirn. Er kannte die Stimme nicht, die aufgrund ihrer Tiefe auf ihn allerdings unwillkürlich einschüchternd wirkte. Aber vielleicht erlaubte sich einer seiner Bekannten einen Spaß mit ihm und hatte einen Freund gebeten, ihn anzurufen. Deshalb beschloss er, erst einmal mitzuspielen, um den Spieß dann umzudrehen und dem Anrufer und seinem Freund den Spaß zu verderben.
»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin der Tod!«
Kohler machte ein verdutztes Gesicht und sah sich dabei in dem mannshohen Spiegel an, der im Flur hing. Es gab noch weitere Spiegel, die in der ganzen Wohnung verteilt waren, ebenso wie unzählige Fotografien von ihm selbst, denn Kohler konnte nicht genug von seinem Ebenbild bekommen. Als er jetzt seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah, musste er unwillkürlich grinsen. Zuerst hatten ihn die Worte des Anrufers, vor allem wegen der tiefen Stimme und seiner Ernsthaftigkeit, erschreckt, doch jetzt fand er es nur noch lächerlich. Aber anstatt der Farce ein schnelles Ende zu bereiten, indem er das Gespräch beendete, spielte er den Ahnungslosen.
»Wer, sagten Sie, sind Sie noch mal? Ich hab es leider akustisch nicht richtig verstanden. Es klang doch tatsächlich so, als behaupteten Sie, Sie wären … der Tod.«
»Du hast schon richtig verstanden, Angel«, antwortete die tiefe Stimme, in der keine Spur von Humor mitschwang, was Kohler, auch wenn er noch immer überzeugt war, dass er hier nach Strich und Faden verarscht werden sollte, dennoch ein unwohles Gefühl und eine Gänsehaut bescherte. »Ich bin tatsächlich der Tod!«
Kohler lachte, obwohl es etwas aufgesetzt klang. »Und weswegen rufen Sie mich an, Herr … Tod?« Er bemühte sich, das letzte Wort möglichst hämisch auszusprechen, doch da seine Stimme dabei leicht zitterte, misslang sein Vorhaben.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich in diesem Moment auf dem Weg zu dir bin, um dich zu holen, Angel.«
Kohler konnte im Spiegel mitansehen, wie das unechte Lächeln auf seinem Gesicht zerfloss und sich in einen Ausdruck der Wut verwandelte, denn allmählich ging der Anrufer entschieden zu weit. Für einen Spaß war Kohler immer zu haben, solange er nicht auf seine Kosten ging. Aber was der Kerl hier tat, war kein Spaß mehr. »Jetzt hör mir mal gut zu, du dummes Arschloch«, sagte er daher, spannte die Muskeln an und ballte die linke Hand unwillkürlich zur Faust. »Das ist nicht witzig. Also hör sofort auf damit und sag mir, was dieser Scheiß soll!«
»Ich sagte dir doch schon, was ich vorhabe. Ich komme, um dich zu holen.«
Kohler schnaubte verächtlich. Die absolut humorfreie tiefe Stimme erfüllte ihn zwar immer stärker mit Unbehagen, doch er hatte nicht vor, sich davon beeindrucken zu lassen. Immerhin war er ausgebildeter Personenschützer und würde sich daher von irgendeinem dahergelaufenen Idioten nicht ins Bockshorn jagen lassen. »Hör zu, Arschloch. Ich glaube nicht, dass du wirklich den Mumm hast, zu mir zu kommen, denn in Wahrheit bist du nur ein perverser Schwächling, der am Telefon eine große Klappe hat, aber den Schwanz einzieht, wenn es darauf ankommt. Aber komm ruhig her, wenn du dich traust. Mach dich allerdings darauf gefasst, dass ich dir dann deine hässliche Fresse poliere und anschließend den Boden damit aufwische.« Den letzten Satz hatte Kohler mal irgendwo gehört und sich gemerkt, um ihn irgendwann selbst zum Besten geben zu können.
»Bis gleich!«, erwiderte der Anrufer daraufhin nur und legte auf.
Kohler nahm das Telefon vom Ohr und starrte es für ein paar Sekunden ungläubig an. Dann schnaubte er noch einmal kopfschüttelnd und legte es zurück auf die Kommode.
»Was war das denn, verdammt noch mal?«, fragte er sein Spiegelbild, das ebenso ratlos aussah, wie er sich fühlte. Das unbehagliche Gefühl, das ihm die tiefe Stimme und die Worte des Anrufers bereitet hatten, erfüllte ihn noch immer. Doch da er davon überzeugt war, dass der Kerl nur heiße Luft von sich gegeben hatte, schüttelte er es einfach ab. Immerhin hatte er diesem Perversling gehörig den Spaß verdorben, indem er sich am Telefon unbeeindruckt gezeigt hatte. Vermutlich rief der Kerl in diesem Moment bereits die nächste Nummer auf seiner Liste an und hoffte, dass er damit mehr Erfolg hatte.
Kohler beschloss, den merkwürdigen Anruf so schnell wie möglich wieder zu vergessen, was ihm in der Regel leichtfiel, und überlegte stattdessen konzentriert, was er eigentlich vorgehabt hatte, bevor das Telefon ihn dabei gestört hatte. Bei einem erneuten Blick auf sein eindrucksvolles Spiegelbild fiel es ihm wieder ein, denn er trug noch immer nicht mehr als ein Badetuch um die Hüften.
Er eilte daher ins Schlafzimmer, riss das Handtuch von seinem Körper und ließ es einfach zu Boden fallen, wie er es immer tat. Die Putzfrau, die zweimal in der Woche kam, würde sich schon darum kümmern. Dann nahm er seine Armbanduhr, eine Rolex Oyster Perpetual 34, und legte sie an. Es war zwar ein günstigeres Modell, das ihn, da er es unter der Hand erworben hatte, nur 2.000 Euro gekostet hatte, aber immerhin war es eine echte Rolex und machte etwas her. Als er einen Blick auf das schwarze Ziffernblatt warf, sah er, dass er noch genug Zeit hatte. Er war an diesem Abend mit zwei seiner Kollegen verabredet. Sie wollten zusammen in einen Club gehen. Und da er am nächsten Tag nicht arbeiten musste, würde es vermutlich spät werden.
Vor der verspiegelten Front des riesigen Kleiderschranks zog er sich einen knappen weißen Slip und weiße Socken an, die sich deutlich von seiner gebräunten Haut abhoben. Er nahm verschiedene Posen ein, ließ die Muskeln spielen und betrachtete sich dabei im Spiegel. Anschließend schlüpfte er in eine hellgraue Leinenhose, ein naturweißes Hemd, das wie angegossen passte und daher seine ausgeprägte Brust- und Schultermuskulatur besonders hervorhob, und schließlich ein hellgraues Leinensakko. Die Sachen hatte er erst vor wenigen Tagen gekauft. Als er sich anschließend im Spiegel betrachtete, kehrten sowohl seine gute Laune als auch sein breites Grinsen zurück, und der merkwürdige Telefonanruf war längst vergessen.
»Wow, siehst du heute Abend aber wieder mal gut aus!«, sagte er zu seinem Spiegelbild und zwinkerte ihm zu. Als er das Schlafzimmer verließ, sang er erneut ein paar der wenigen Zeilen des Liedes I’m Too Sexy von Right Said Fred, die er auswendig kannte: »I’m too sexy for my shirt, too sexy for my …«
Doch er verstummte wie abgeschnitten und blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen, als er im erleuchteten Flur angekommen war und plötzlich eine Gestalt im dunklen Wohnzimmer stehen sah.
Der Eindringling wandte ihm den Rücken zu und sah aus dem Fenster auf die Straße, als gäbe es dort etwas besonders Interessantes zu sehen. Entweder hatte der Mann noch nicht bemerkt, dass Kohler aus dem Schlafzimmer gekommen war, was eher unwahrscheinlich war, nachdem dessen Gesang soeben abrupt geendet hatte, oder es kümmerte ihn überhaupt nicht.
Sobald Kohler verstummt war, war in der Wohnung Stille eingekehrt. Außerdem bewegte sich keiner der beiden Männer, als spielten sie ein kindisches Spiel, bei dem der Erste, der sich rührte, verlor. Kohler hatte daher Zeit, den Mann, dem es gelungen war, in seine Wohnung einzudringen, in aller Ruhe zu mustern. Der Kerl war einen Kopf kleiner als er, aber von stämmiger, gedrungener Gestalt und machte daher einen kräftigen Eindruck, auch wenn er natürlich längst nicht so muskulös wie Kohler war. Das lange dunkelbraune Haar hatte er zu einem Zopf geflochten, der so schnurgerade an seinem Rücken herunterhing, als wäre er mithilfe einer Wasserwaage ausgerichtet worden. Er trug eine schwarze Übergangsjacke, eine blaue Jeanshose, robuste schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe aus dünnem Leder.
Es dauerte nicht lange, bis Kohler sich einen ersten Eindruck von dem Eindringling verschafft und sich zudem von seinem Schrecken erholt hatte. Was er vor sich sah, machte keinen besonderen Eindruck auf ihn. Er war nicht nur größer, sondern auch viel muskulöser als der Kerl und würde ihm zuerst die Fresse polieren und anschließend den Boden mit ihm wischen, so wie er es ihm am Telefon versprochen hatte. Denn für Kohler bestand nicht der geringste Zweifel, dass er den Mann mit der tiefen Stimme vor sich hatte, der sich als Tod bezeichnet und gedroht hatte, er würde vorbeikommen, um ihn zu holen. Also hatte er tatsächlich den Mut gefunden, seine Drohung wahrzumachen, auch wenn ihm das schlecht bekommen würde. Kohler bedauerte lediglich, dass sein neuer Anzug bei der bevorstehenden Auseinandersetzung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Aber eventuell war es ja gar nicht nötig, dass er handgreiflich wurde. Vielleicht sah der Kerl ein, dass er sich mit dem Falschen angelegt hatte, sobald er sich umdrehte und einen Blick auf Kohler warf, schließlich hatte er bislang noch nicht gesehen, wen er vor sich hatte.
»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, stellte Kohler die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam, und brach damit das Schweigen. Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und setzte einen bedrohlich wirkenden Gesichtsausdruck auf, den er unzählige Male vor dem Spiegel eingeübt und dann als Personenschützer perfektioniert hatte.
Der Mann reagierte allerdings nicht sofort auf Kohlers Worte, beinahe so, als hätte er ihn gar nicht gehört. Kohler öffnete bereits den Mund, um seine Frage zu wiederholen, da seufzte der andere vernehmlich und wandte sich um.
Im Licht, das aus dem Flur auf ihn fiel, sah Kohler, dass der Eindringling sowohl einen Schnauz- als auch einen Kinnbart trug. Außerdem besaß er eine lange, spitze Nase und eng beieinanderstehende Augen. Er sah gar nicht wie der Verrückte aus, für den Kohler ihn hielt, sondern im Grunde völlig normal. Beinahe wie ein Künstler, dachte Kohler. Er konnte ihn sich zwar nicht unbedingt mit Pinsel und Palette vor einer Leinwand vorstellen, dafür aber mit Hammer und Meißel vor einem Marmorblock oder mit einer Kettensäge vor einem Baumstamm, um gekonnt eine Skulptur aus dem Material herauszuarbeiten.
»Willst du wirklich, dass wir die kurze Zeit, die uns miteinander verbleibt, mit solchen Nebensächlichkeiten vertrödeln, Angel?«, fragte der Mann mit derselben tiefen Stimme, die Kohler bereits von ihrem Telefonat kannte. Er beseitigte damit nicht nur jeglichen Zweifel darüber, ob er der Anrufer war, sondern riss Kohler auch aus seinen Überlegungen. Dann schnaubte er und schüttelte den Kopf, um sein Unverständnis zum Ausdruck zu bringen.
Kohler gefiel es, wenn seine Freunde – der Kerl hatte am Telefon recht gehabt, er hatte tatsächlich nur wenige – ihn Angel nannten. Deshalb hatte er ihnen diesen Namen ja auch vorgeschlagen. Doch aus dem Mund dieses Mannes, der den Spitznamen ständig mit einem höhnischen Unterton aussprach, hörte es sich lächerlich an.
»Mein Name ist Ralf Kohler«, sagte er daher. »Ich empfehle Ihnen also, mich auch so anzusprechen.« Wie er es in der Ausbildung gelernt hatte, blieb er weiterhin höflich und sachlich, auch wenn es ihm schwerfiel. »Und jetzt sagen Sie mir gefälligst, wie Sie in meine Wohnung gekommen sind.«
Der Fremde stieß deutlich hörbar die Luft aus und machte einen gelangweilten Gesichtsausdruck. »Na schön, wenn du es unbedingt wissen und deine restliche Lebenszeit mit diesem Unsinn verplempern willst, dann sage ich es dir eben: Ich habe mir erlaubt, einen Nachschlüssel sowohl für deine Wohnung als auch für die Haustür unten anzufertigen.« Er griff mit der rechten Hand in die Jackentasche und holte einen Ring heraus, an dem nur zwei Schlüssel hingen.
»Was?«, fragte Kohler entgeistert. Er fiel aus allen Wolken und konnte nicht glauben, dass der Kerl tatsächlich einen Schlüssel für seine Wohnung besaß. »Aber wieso haben Sie das gemacht?«
»Was glaubst du denn, Einstein?« Er klimperte mit den Schlüsseln, bevor er sie wieder einsteckte. »Natürlich, damit ich deine Wohnung betreten kann, um dich zu holen, so wie ich es dir bei unserem kurzen Telefonat versprochen habe. Erinnerst du dich? Du hättest mir besser glauben und abhauen oder die Polizei rufen sollen, solange du noch die Gelegenheit dazu hattest. Aber dafür ist es jetzt zu spät!«
»Moment mal«, sagte Kohler, hob beide Hände und schüttelte verwirrt den Kopf. »Wieso sind Sie nicht einfach eingebrochen?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das ist nun mal nicht mein Stil. Außerdem hättest du es dann unweigerlich bemerkt, als ich vorgestern hier war.«
»Wie bitte?« Kohler riss vor Überraschung die Augen weit auf. »Sie waren schon mal in meiner Wohnung?«
Der Mann nickte. »Das sagte ich doch soeben.«
»Aber aus welchem Grund?«
»Um die Abhörgeräte zu installieren.«
»Abhörgeräte?«
Erneut nickte der Mann. »Schließlich musste ich wissen, wie du auf meine telefonische Ankündigung reagierst. Hättest du die Polizei gerufen, dann hätte ich dich in Ruhe gelassen und mir eine andere Herausforderung gesucht. Aber du hast das Ganze ja für einen Witz gehalten und dich nicht an die Polizei gewandt. Also bin ich jetzt hier, und wir können allmählich anfangen.«
»Anfangen?« Kohler schwirrte bereits der Kopf von all dem Unsinn, den der Eindringling erzählte. Seiner Meinung nach war der Kerl sogar noch verrückter, als er gedacht hatte, auch wenn er nicht danach aussah. »Anfangen womit?«
»Mit unserem Kampf natürlich«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Ich fordere dich hiermit zu einem fairen Kampf auf Leben und Tod heraus. Aber da ich, wie ich dir bereits am Telefon sagte, der Tod bin, wird es für dich schwer werden, mich zu besiegen.«
Zum ersten Mal veränderte sich die neutrale Miene des Eindringlings, als nun ein zuversichtliches Lächeln in seinem Gesicht auftauchte, das Kohler eine Gänsehaut bescherte.
»Sie sind ja vollkommen irre!«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Der andere Mann wiegte, noch immer lächelnd, den Kopf hin und her. »Das ist Ansichtssache, würde ich mal sagen. Aber jetzt lass uns nicht noch mehr Zeit vergeuden und endlich anfangen, Angel.« Sobald er ein weiteres Mal Kohlers Spitznamen auf seine unnachahmlich herablassende Weise ausgesprochen hatte, setzte er sich auch schon in Bewegung und kam näher.
Kohler zögerte einen Moment. Rein körperlich gesehen hatte er weder Angst noch Bedenken, den anderen zu besiegen. Doch dessen Selbstsicherheit und resolutes Auftreten erzeugten ein mulmiges Gefühl in ihm. Und nachdem der Kerl selbst mehrere Male von der Polizei gesprochen hatte, erschien es Angel inzwischen gar nicht mehr so abwegig, dort anzurufen. Er wandte daher kurz den Blick von dem Eindringling und suchte auf der Kommode neben sich nach seinem Handy. Aber es war nicht mehr da.
»Suchst du das hier?«, fragte der andere Mann. Er war unmittelbar jenseits der Türschwelle im Wohnzimmer stehen geblieben und damit nur noch wenige Meter entfernt. In der erhobenen linken Hand hielt er Kohlers Smartphone.
»Geben Sie das sofort her! Das gehört mir!« Noch während Kohler es sagte, kamen ihm seine Worte lächerlich vor. Wie zwei Fünfjährige, die sich im Sandkasten um einen Eimer stritten.
Die Reaktion des Eindringlings fiel auch tatsächlich so aus, wie Kohler befürchtet hatte. »Geben Sie das sofort her! Das gehört mir!«, äffte er ihn nach und machte dabei sehr überzeugend die Stimme eines kleinen Jungen nach. Dann sprach er mit seiner normalen Stimme weiter: »Na, dann hol es dir doch, Angel.«
Doch noch ehe Kohler sich in Bewegung setzen konnte, sagte er »Ups!« und ließ das Handy fallen. Als es auf dem Parkettboden aufkam, verzog Kohler unwillkürlich das Gesicht. Aber das Telefon, das direkt vor den Füßen des Eindringlings zu liegen gekommen war, schien den Aufprall unbeschadet überstanden zu haben, und so atmete Kohler auf. Doch er hatte sich zu früh gefreut, denn unvermittelt hob der Fremde den rechten Fuß und ließ den Stiefelabsatz auf das Display des Smartphones krachen, das sofort zersplitterte. »Nochmal ups!«, sagte er, zuckte in gespieltem Bedauern mit den Schultern, konnte sich dabei aber ein Grinsen nicht verkneifen.
Jeder Gedanke daran, die Polizei zu rufen, war jäh vergessen. Glühender Zorn erfüllte Kohler und ließ ihn rot sehen, jede Furcht vergessen und jegliche Vorsicht über Bord werfen.
»Das wirst du mir büßen, Arschloch«, knurrte Kohler, der nun ebenfalls auf jede Form von Höflichkeit verzichtete und zum Du überging. »Dafür nehme ich dich auseinander, Freundchen.« Und damit stampfte er auf den fremden Mann zu.
Normalerweise wichen andere ängstlich zurück oder bemühten sich zumindest um beschwichtigende, Unterwerfung signalisierende Gesten, wenn ein in Rage geratener Ralf Kohler mit hochrotem Kopf und finsterem, Mord verheißendem Gesichtsausdruck wie ein außer Kontrolle geratener Gefahrgutlastwagen auf sie zu rauschte. Sogar Männer, die ihm sowohl in der Größe als auch in der Statur nahekamen, überlegten es sich unwillkürlich zweimal, ob es tatsächlich so wichtig war, auf ihrem Standpunkt zu beharren, oder sie in diesem Fall nicht doch lieber eine Ausnahme machen und nachgeben sollten. Der Eindringling schien allerdings keine derartigen Bedenken zu haben. Im Gegenteil. Er lächelte strahlend, als bereitete ihm die Aussicht auf einen Ringkampf mit diesem zornigen Muskelberg allergrößtes Vergnügen, und wartete scheinbar gelassen und entspannt auf seinen Gegner.
Kohler, dem jede Kampfsporttechnik fremd war, vertraute stattdessen auf seine Muskelmasse, die Reichweite seiner langen Arme und seine Kraft. Aus Erfahrung wusste er, dass es am besten war, wenn er mit der Wucht einer Dampframme über seinen Gegner herfiel und jeden möglichen Widerstand unverzüglich im Keim erstickte. Er lief daher ins Wohnzimmer und schlug mit der zur Faust geballten Rechten ansatzlos nach dem Kopf des anderen. Hinter dem Schlag lag zwar nicht so viel Kraft, als wenn er vorher ausgeholt hätte, doch es dürfte dennoch genügen, um Nasenbein oder Kiefer des Gegners zu zertrümmern und ihn halb bewusstlos zu schlagen. Das Wichtigste war allerdings, dass der andere den Hieb erst gar nicht kommen sah. Auf diese Weise wollte Kohler den Eindringling überrumpeln und den Kampf bereits in den ersten Augenblicken für sich entscheiden. Denn obwohl er sich dem Mann körperlich weit überlegen fühlte, hatte ihn dessen forsches Auftreten und Unerschrockenheit dennoch tief beeindruckt.
Als sein Gegner überhaupt keine Anstalten machte, sich zur Wehr zu setzen, sah sich der Personenschützer bereits auf der Siegerstraße. Doch unmittelbar bevor seine Faust ins Schwarze traf, riss sein Widersacher mit einer Schnelligkeit, die Kohler nicht erwartet hatte, den Kopf zur Seite, sodass der Hieb ins Leere ging und Kohler unvermittelt nach vorn taumelte. Bereits im nächsten Augenblick rammte der andere ihm die rechte Faust in die Magengrube, sodass Kohler unvermittelt das Gefühl hatte, er wäre von einer Dampframme getroffen worden. Unmittelbar gefolgt von einem Leberhaken, ausgeführt mit der anderen Faust, der so schmerzhaft war, dass Kohler augenblicklich pechschwarz vor Augen wurde. Von einer Sekunde zur anderen hatte er massive Kreislaufprobleme und geriet ins Wanken.
Er hatte Angst, der andere könnte sofort nachsetzen, seine momentane Schwäche und Hilflosigkeit ausnutzen und ihn kurzerhand niederschlagen. Doch der Eindringling zog sich stattdessen zurück und ließ seinem Gegner Zeit, sich zu erholen.
Kohler schnaufte schwer, als ginge der Kampf bereits über mehrere Runden. Er war sichtlich angeschlagen und kämpfte darum, nicht in die Knie zu gehen. Schwer atmend richtete er sich auf, rieb sich mit der rechten Hand die Seite, die noch immer wahnsinnig wehtat, denn Leberhaken waren sogar bei Profiboxern gefürchtet. Manch einer war bereits nach einem einzigen davon zu Boden gegangen.
Der Eindringling lächelte noch immer und wirkte weiterhin völlig entspannt. Der bisherige Kampfverlauf hatte ihn weder ins Schwitzen gebracht, noch seinen Zopf in Unordnung gebracht. Er atmete nicht einmal wesentlich schneller.
»Warum gehen Sie nicht einfach, und wir vergessen, dass Sie hier eingedrungen sind und mein Handy kaputtgemacht haben«, schlug Kohler vor, sobald er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, als wäre die Situation andersherum und er würde nach Punkten führen. Nach den beiden Schlägen, die er eingesteckt hatte, war er jetzt allerdings wieder um Höflichkeit bemüht. »Die Nachschlüssel müssen Sie allerdings hier lassen.«
Der Eindringling lachte leise. »Du bist nicht besonders helle, oder?«
Kohler ging nicht auf die Frage ein. »Ich will nur nicht, dass jemand ernsthaft verletzt wird.«
»Mit jemand kannst du nur dich selbst meinen«, sagte der andere. »Aber anscheinend hast du es noch immer nicht begriffen, dass es hier genau darum geht. Wie ich schon sagte, kämpfen wir um Leben und Tod. Das beinhaltet automatisch, dass jemand – in diesem Fall du – ernsthaft verletzt wird.«
Kohler schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Wieso tun Sie das?«
»Weil es mir Spaß macht«, erwiderte der Eindringling lächelnd. »Gibt es denn einen besseren Grund? Und wenn du dich genug ausgeruht hast, können wir ja allmählich in die zweite Runde gehen.«
Während der kurzen Kampfpause hatte sich Kohler wieder etwas erholt, auch wenn er noch immer heftige Schmerzen in der rechten Seite hatte. Er hatte fieberhaft überlegt, was er tun sollte. So angeschlagen, wie er war, und angesichts der kämpferischen Fähigkeiten, die sein Gegner bislang an den Tag gelegt hatte, war seine Siegesgewissheit geschmolzen wie ein Schneemann in der Wüste. Jetzt ging es ihm nur noch darum, ohne größere Blessuren und mit dem Leben davonzukommen.