Kitabı oku: «TODESJAGD», sayfa 3

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Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, überprüfte sie sogleich das Postfach des E-Mail-Accounts, den sie unter falschem Namen eingerichtet hatte.

»Wer sagt’s denn?«, murmelte sie. Neben einer Begrüßungsmail des Betreibers, die sie ungelesen löschte, hatte sie noch eine weitere Nachricht erhalten. Sie stammte von jemandem, der sich Nemesis nannte, wobei unklar blieb, ob sich dahinter eine Frau oder ein Mann verbarg. Anja erinnerte sich an den Abschiedsbrief des vermissten Studenten. Darin hatte er ebenfalls einen Todesengel namens Nemesis erwähnt.

Anja las die E-Mail.

Hallo, Laura,

Freut mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast und bereit bist, dich der »Suicide-Challenge« zu stellen. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.

Ich heiße Nemesis und bin dein Todesengel. Als Erstes werde ich dir die Regeln erklären. Anschließend begleite ich dich durch die gesamte Challenge, indem ich dir die Aufgaben stelle, die du zu bewältigen hast. Außerdem bin ich für die nächsten 24 Stunden dein Ansprechpartner und werde dir all deine Fragen beantworten, sofern ich dazu in der Lage bin.

Hier nun die Regeln, die strikt zu befolgen sind:

1. Die »Suicide-Challenge« besteht aus 24 Aufgaben, die innerhalb von ebenso vielen Stunden erfolgreich absolviert werden müssen.

2. Du darfst keiner Menschenseele etwas davon erzählen. Nicht einmal deiner besten Freundin oder deinen Eltern.

3. Du musst jede Aufgabe, die ich dir stellen werde, sorgfältig und wortgetreu erfüllen!

4. Sobald du eine Aufgabe erfolgreich absolviert und abgeschlossen hast, sendest du mir eine Nachricht mit einem Beweisfoto.

5. Nach jeder erfolgreich bestandenen Aufgabe erfolgt zur jeweils vollen Stunde die nächste, bis schließlich alle erfüllt wurden.

6. Am Ende der Challenge geht dein Todeswunsch in Erfüllung, und du wirst sterben! Damit hast du die Suicide-Challenge erfolgreich bewältigt. Dann wird auch dein Foto in die »Suicidal Hall of Fame« aufgenommen.

Du kannst mir dafür gern ein Foto von dir mailen. Wenn nicht, ist das auch nicht tragisch. Dann nehme ich einfach ein Foto aus der Zeitung. Beispielsweise, wenn du vermisst wirst und nach dir gesucht wird. Oder aus deiner Todesanzeige.

Das war’s auch schon für den Anfang.

Bist du bereit?

Anja verfasste sofort eine Antwort.

Hallo Nemesis,

herzlichen Dank für die freundlichen Worte und deine Hilfe. Tut mir echt leid, aber ich weiß noch gar nicht, ob ich überhaupt schon bereit bin zu sterben. Ich habe Angst! Was, wenn ich mittendrin aussteigen und die Challenge abbrechen will. Geht das?

Anja schickte die Nachricht ab. Während sie auf eine Antwort wartete, öffnete sie die Akte des vermissten Fernfahrers Stefan Greinwald, der an Lungenkrebs litt und als Erster verschwunden war.

Doch sie kam mit dem Aktenstudium nicht weit, denn als sie nach einer Minute zum ersten Mal aufblickte, hatte sie bereits eine Antwort von Nemesis bekommen.

Du kannst jetzt nicht mehr aufhören und die »Suicide-Challenge« abbrechen, denn die hat bereits mit deiner Anmeldung begonnen. Von nun an gibt es weder einen Ausstieg noch einen Weg zurück.

Anja lächelte grimmig. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Die Betreiber des Clubs der toten Gesichter bedienten sich haargenau derselben Mittel wie andere Selbstmordclubs oder -spiele auch. Offensichtlich kopierten sie nur das Vorgehen ihrer Vorgänger. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich andere derartige Seiten ausschließlich an Jugendliche richteten, die natürlich leichter zu beeinflussen waren, und nicht an Erwachsene. Doch die Ruhmeshalle des Clubs bewies, dass der Masche mit der Suicide-Challenge auch Erwachsene auf den Leim gingen. Vermutlich, weil sie extrem verzweifelt waren und sich den Tod wünschten.

Grundsätzlich war Anja der Ansicht, dass jeder Erwachsene das Recht hatte, über das eigene Leben und den eigenen Körper zu bestimmen. Aus diesem Grund konnte er sich gegebenenfalls selbst das Leben nehmen, wenn er sich für diesen Weg entschlossen hatte. Auch in ihrem Leben hatte es eine Phase gegeben, in der sie immer wieder mit dem Tod geliebäugelt hatte, den sie in Gestalt einer Packung Schlaftabletten im Spiegelschrank ihres Badezimmers aufbewahrt hatte. Doch im Laufe ihrer Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers hatte sie diese latente Todessehnsucht erfolgreich überwunden.

Die Hintermänner des Clubs der toten Gesichter richteten sich aber nicht nur an Erwachsene. Auch Kinder und Jugendliche konnten auf die Webseite gelangen und sie lesen. Und sie konnten sich sogar problemlos anmelden, denn auch Anja hatte sich bei ihrer Anmeldung als fünfzehnjähriges Mädchen ausgegeben. Und dennoch hatte sich der Todesengel Nemesis bei ihr gemeldet, damit sie die Challenge durchführte. Sie war daher fest entschlossen, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Doch dazu musste sie unbedingt herausfinden, wer hinter diesem Internetauftritt steckte und wer sich hinter ihrem Todesengel verbarg.

Sie schrieb eine kurze E-Mail an Nemesis.

Was, wenn ich trotzdem aussteigen will?

Die Antwort kam weniger als zwei Minuten später.

Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass du nicht aussteigen kannst. Dein Weg ist von nun an vorgezeichnet und führt ohne Umwege in den Tod. Das wolltest du doch! Deshalb hast du dich doch in unserem Club angemeldet! Glaub mir, jeder hat ein bisschen Muffensausen, wenn der Tod endlich greifbar nahe ist. Das ist völlig normal und sollte dich daher auch nicht beunruhigen.

Vertrau mir!

Vertraust du mir?

Anja antwortete:

Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Ich kenne dich doch gar nicht! Wer bist du eigentlich? Wenn ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe, würde es mir vermutlich leichter fallen. Erzähl mir bitte etwas von dir.

Nemesis schrieb nahezu postwendend zurück.

Tut mir leid, aber ich darf dir nichts über mich erzählen, so gerne ich’s auch täte. Es verstößt gegen die Regeln, wenn ein Todesengel gegenüber einem Teilnehmer der Challenge seine wahre Identität oder Informationen über sich preisgibt.

Du musst mir einfach blind vertrauen! Schließlich wollen wir doch beide dasselbe: deinen Tod.

Also lass uns nicht länger zögern, sondern endlich anfangen. Die Zeit läuft!

Bist du jetzt bereit?

Anja schüttelte den Kopf.

»So einfach mache ich es dir nicht, Schätzchen!«, murmelte sie.

Wäre schön gewesen, wenn Nemesis ihr etwas über sich selbst verraten hätte. Allerdings hatte Anja nicht ernsthaft damit gerechnet.

Sie überlegte kurz und verfasste dann eine Antwort-Mail.

Ich weiß nicht, ob ich bereit bin. Als ich mich angemeldet habe, habe ich nicht erwartet, dass es sofort losgeht. Können wir es nicht noch etwas verschieben?

Nemesis’ Reaktion erfolgte innerhalb kürzester Zeit.

Anja hatte das Gefühl, dass ihr Todesengel allmählich wütend wurde. Aber genau das hatte sie beabsichtigt. Sie wollte ihn aus der Reserve locken. Womöglich machte er in seiner Wut einen Fehler und verriet mehr, als er ursprünglich wollte, sodass Anja endlich einen Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen in die Hand bekam.

Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass es kein Zurück mehr gibt. Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich angemeldet hast.

Zweifel und Ängste sind normal, aber die musst du jetzt überwinden und hinter dir lassen. Und genau dafür ist die Challenge da.

Du willst doch sterben, sonst hättest du nicht die Seite unseres Clubs besucht und dich angemeldet.

Und meine Aufgabe ist es, dir dabei zu helfen, dich umzubringen.

Mit der Anmeldung hast du in gewissem Sinne einen unkündbaren Vertrag mit uns abgeschlossen. Ziel dieses Vertrages ist dein Tod. Und der wird hundertprozentig spätestens in 23 Stunden und 34 Minuten eintreten, ob nun mit deiner Hilfe oder auch ohne dein Zutun.

Endlich ließ Nemesis die Katze aus dem Sack, denn das war eine eindeutige Todesdrohung.

Doch als Laura gab sich Anja weiterhin ahnungslos.

Was meinst du mit »auch ohne dein Zutun«? Was hat das zu bedeuten?

In ihrer nächsten Nachricht wurde Nemesis konkreter.

Stell dich bitte nicht dümmer, als du bist, Laura!

Wir wissen schließlich durch die Daten deiner Anmeldung, wo du wohnst. Also kannst du dich auch nicht vor uns verstecken. Wenn du nicht zur Challenge antrittst oder vor der finalen Aufgabe aussteigst, sind wir gezwungen, selbst die Initiative zu ergreifen.

Kann ja sein, dass du einen Bruder oder eine Schwester hast, die du liebst. Du möchtest doch nicht, dass ihm oder ihr etwas zustößt, oder? Auf dem Weg in die Schule oder den Kindergarten kann schließlich viel passieren.

Und was ist mit deinen Eltern?

Und wage es bloß nicht, jemandem etwas von uns zu erzählen. Vor allem deinen Eltern, Lehrern und der Polizei solltest du unter keinen Umständen etwas sagen. Wir werden auf jeden Fall davon erfahren. Dann wirst es nicht nur du bereuen, sondern alle, die dir etwas bedeuten, werden dafür büßen.

Aber jetzt haben wir lange genug geplaudert und kostbare Zeit vertrödelt. Lass uns endlich anfangen.

Hier ist deine erste Aufgabe. Sie ist nicht schlimm und sollte daher auch für dich kein Problem sein.

Schreibe dir mit einem wasserfesten Stift die Ziffern 4:20 auf den Unterarm.

Du hast noch eine halbe Stunde Zeit, um die Aufgabe zu bewältigen. Und vergiss nicht, mir ein Beweisfoto zu schicken.

Anja wusste, dass die Teilnehmer der Blue Whale Challenge oft aufgefordert worden waren, um 4:20 Uhr in der Nacht aufzustehen und irgendwelche haarsträubenden Dinge zu tun. Die Ziffern hatten die Betreiber der Suicide-Challenge also einfach von ihrem berühmt-berüchtigten Vorgänger übernommen. Doch Laura konnte das unter Umständen nicht wissen, deshalb gab sich Anja ahnungslos.

Was bedeuten die Ziffern 4:20?

Anja grinste, als sie die Mail abschickte.

Die Antwort erfolgte prompt.

Stell gefälligst nicht weiterhin überflüssige Fragen, sondern tu endlich, was ich dir mitgeteilt habe! Wir haben genug Zeit verschwendet. Außerdem habe ich auch noch andere Teilnehmer, um die ich mich kümmern muss. Das ist schließlich kein Debattier-, sondern ein Selbstmordclub.

Ich warte!

Den Hinweis auf andere Teilnehmer fand Anja interessant. Es musste ihr gelingen, an Nemesis heranzukommen und mehr über sie zu erfahren, um ihre wahre Identität herauszufinden. Denn je eher diesen Leuten das Handwerk gelegt wurde, desto besser. Doch momentan schien Nemesis nicht in der Stimmung zu sein, etwas über sich zu verraten. Deshalb beschloss Anja, ihr den Gefallen zu tun und die erste Aufgabe zu erfüllen. Unter Umständen ergab sich im weiteren Verlauf der Challenge eine Möglichkeit, mehr zu erfahren, wenn Nemesis der Meinung war, Lauras Widerstand wäre gebrochen und sie würde jetzt endlich alles tun, was sie sagte. Deshalb würde Anja erst einmal mitspielen und sich bemühen, die Aufgaben zur Zufriedenheit ihres Todesengels zu erfüllen. Vorausgesetzt, sie schadete damit weder anderen noch sich selbst.

Anja hatte allerdings nicht vor, die erste Challenge buchstabengetreu zu erfüllen. Es musste schließlich nur überzeugend genug wirken, um Nemesis zu täuschen und zufriedenzustellen.

Anstelle eines wasserfesten Stifts nahm sie daher einen Folienschreiber mit abwaschbarer schwarzer Tinte und schrieb 4:20 auf ihren linken Unterarm. Dann machte sie mit ihrem Smartphone ein Foto und schickte es an die Mail-Adresse ihres imaginären Lockvogels Laura. Anschließend hängte sie es an die Nachricht, die sie Nemesis schrieb.

Ich kann es nicht glauben, aber ich hab es tatsächlich getan! Anliegend das Beweisfoto, das du verlangt hast. Irgendwie fühle ich mich jetzt sogar ein bisschen besser. Befreit sozusagen. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?

Nemesis antwortete:

Natürlich ergibt das einen Sinn. Du wirst dich mit jeder Aufgabe, die du erfolgreich absolviert hast, und mit jeder Stufe, die dich deinem Ziel – dem Tod – näher bringt, besser und befreiter fühlen.

Ich habe das schon oft bei anderen erlebt, die ich in den Tod begleiten durfte. Wirf doch mal einen Blick in die »Suicidal Hall of Fame«. Den Leuten, die du dort siehst, erging es anfangs ähnlich wie dir. Dennoch haben sie es schließlich geschafft. Und schon bald wird dein Foto neben den anderen zu sehen sein.

Bravo! Die erste Aufgabe hast du geschafft. In 22 Minuten werde ich dir die nächste stellen. Mach dich bereit!

Sobald Anja Nemesis’ letzte Nachricht gelesen hatte, wischte sie sich mit Speichel und einem Papiertaschentuch die Schrift vom Unterarm. Anschließend ging sie ins Internet und suchte nach Informationen über den Namen ihres Todesengels.

Nemesis war in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Heutzutage verstand man darunter allerdings eher einen ewigen Gegenspieler oder Erzrivalen. Außerdem stand der Name Nemesis für einen persönlichen Todesengel oder Todfeind, einen personifizierten Todesbringer oder eine tödliche Bedrohung.

Die Wahl des Namens passte also, denn diejenigen, die bei anderen Selbstmordspielen Vormund genannt wurden, waren hier im wahrsten Sinne des Wortes personifizierte Todesbringer.

Anja schloss den Browser und griff zum Telefon. Sie rief bei einem Kollegen in der Cybercrime-Abteilung an, mit dem sie ein paar Mal zu tun gehabt hatte und den sie ein bisschen besser kannte als seine Kollegen. Cybercrime war unter anderem für die EDV-Beweismittelsicherung und -auswertung und die Telekommunikationsüberwachung zuständig. Sie setzte ihn davon in Kenntnis, dass sie den Laptop eines vermissten Studenten vorbeibringen lassen würde, damit er auf Herz und Nieren untersucht werden konnte. Außerdem gab sie ihm die Internetadresse des Clubs der toten Gesichter und bat ihn, mehr über den oder die Betreiber der Seite herauszufinden.

Als es an der Zeit für Nemesis’ nächste Nachricht mit der zweiten Aufgabe der Suicide-Challenge war, sah sie in Lauras Postfach und öffnete die Mail, die vor wenigen Augenblicken dort eingegangen war.

Hallo, Laura,

zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Bewältigung der ersten Challenge. Du kannst echt stolz auf dich sein. Doch das war erst der Anfang, denn 23 Aufgaben liegen noch vor dir. Aber keine Bange. Du hast gezeigt, dass du entschlossen genug bist, dein Ziel kompromisslos zu verfolgen, auch wenn dich, wie nicht anders zu erwarten war, im Moment noch Zweifel und Ängste plagen.

Hier also die zweite Aufgabe.

Sieh dir innerhalb der nächsten Stunde im Internet mindesten fünfmal das Video zu dem Lied »Gloomy Sunday« an. Mach dich zudem mit seiner Hintergrundgeschichte vertraut. Fasse für mich anschließend in einer kurzen Mail die Geschichte des Songs zusammen.

Anja runzelte verwirrt die Stirn, denn der Titel des Liedes sagte ihr nichts. Auf den ersten Blick gab es nicht einmal einen Bezug zum Thema Selbstmord. Außerdem war es keine schwere Aufgabe, die ein großes Opfer von ihr verlangte. Entweder hatte Nemesis gemerkt, dass sie Laura nicht gleich am Anfang überfordern durfte, und fing deshalb behutsam an. Oder die Suicide-Challenge des Clubs begann immer so harmlos, steigerte sich dann aber unter Umständen umso mehr, wenn sie dem Höhepunkt zustrebte.

Sie machte sich im Internet über »Gloomy Sunday« schlau. Dabei handelte es sich um den englischen Titel eines Liedes, das der ungarische Pianist Reszö Seress 1932 geschrieben hatte, nachdem er von seiner Verlobten verlassen worden war. Der ungarische Titel lautete Szomorú Vasárnap, was übersetzt »Trauriger Sonntag« hieß. Es ging darin um einen Mann, dessen Freundin kürzlich verstorben war, und der nun darüber nachdachte, Selbstmord zu begehen, um wieder mit ihr vereint zu sein. Berühmt wurde das Lied vor allem als sogenanntes »Lied der Selbstmörder«, da alsbald eine Reihe von Suiziden damit in Verbindung gebracht wurde. So sollte im Frühjahr 1933 in einem Budapester Café ein junger Mann die Kapelle gebeten haben, Szomorú Vasárnap zu spielen. Anschließend ging er nach Hause und erschoss sich. In einem anderen Fall schluckte eine junge Frau eine Überdosis Tabletten, während ihr Grammophon ständig Szomorú Vasárnap spielte. Als die Nachbarn schließlich genervt die Wohnungstür aufbrachen, da auf ihr Klopfen niemand reagiert hatte, fanden sie die Frau tot vor. Einige Radiosender weigerten sich daraufhin, das Lied zu spielen. Seress selbst beging im Januar 1968 Selbstmord; er sprang aus dem Fenster seiner Budapester Wohnung. Und das Mädchen, das ihn verlassen und damit erst zu dem Lied inspiriert hatte, hatte sich schon viel früher umgebracht. Neben ihrem Leichnam fand man angeblich ein Blatt Papier, auf dem »Gloomy Sunday« stand. Erst mit dem deutsch-ungarischen Film »Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday« aus dem Jahr 1999 wurde das Lied wiederentdeckt.

Anja sah sich anschließend Videos des Originalsongs, der deutschen Version »Das Lied vom traurigen Sonntag« aus dem Film »Ein Lied von Leben und Tod« und die englischsprachige Interpretation »Gloomy Sunday« von Sinéad O’Connor an. Das Lied war melancholisch und durchaus in der Lage, jemanden noch trauriger zu machen, der sich ohnehin in depressiver Stimmung befand. Doch Anja hatte anschließend nicht das Bedürfnis, sich umzubringen. Bis vor etwa zehn Monaten wäre das noch anders gewesen. Damals hatte sie oft den Lockruf verspürt, den der Abgrund jenseits des Todes, wie sie es nannte, auf sie ausgeübt hatte. Vermutlich musste man depressiv, ohnehin suizidgefährdet oder zumindest extrem niedergeschlagen und traurig sein, um von dem Lied dazu verführt zu werden, sich selbst das Leben nehmen zu wollen.

Da Nemesis ihr aufgetragen hatte, sich das Video mindestens fünfmal anzusehen, hatte Anja noch genügend Zeit, bevor sie ihrem Todesengel eine Mail mit der Zusammenfassung der Geschichte des Liedes schicken musste. Außerdem wollte sie ihn ein bisschen auf die Folter spannen und zappeln lassen. Nemesis sollte sich nach Möglichkeit nie allzu sicher sein, dass sie Laura vollständig unter Kontrolle hatte. Gegebenenfalls ließ sie sich ja eher Antworten auf Lauras Fragen entlocken, wenn sie sie damit bei der Stange halten musste.

Um die Wartezeit zu überbrücken, arbeitete sich Anja durch die Akten der Vermisstenfälle, die sie von ihren Kollegen bekommen hatte. Sie enthielten jedoch nichts Neues; das Wichtigste hatten die Kollegen ihr bereits bei ihren Gesprächen mitgeteilt.

Anschließend verglich sie die Vermisstenfälle miteinander und suchte nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Stefan Greinwald, Martina Schreiber, Erhard Bader und Markus Lehner hatten im Gegensatz zu Christian Stumpf, dem aktuellsten Fall, weder Abschiedsbriefe noch Hinweise auf den Club der toten Gesichter hinterlassen. Außerdem lebten sie, anders als der Student, allein und waren todkrank oder schon länger depressiv oder lebensmüde.

Der Umstand, dass zwei der Vermissten an Krebs erkrankt waren, erinnerte Anja an den Apokalypse-Killer. Der Serienmörder hatte todkranke Frauen entführt und umgebracht, um ihre Leichen anschließend als makabre Abziehbilder der apokalyptischen Reiter zu inszenieren. Doch der Apokalypse-Killer war zum Glück tot und konnte daher nicht länger sein Unwesen treiben!

Sie dachte intensiv über die verschiedenen Vermisstenfälle nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Irgendetwas störte sie; sie konnte aber nicht sagen, um was es sich konkret handelte. Nach einer Weile fand sie es allmählich an der Zeit, ihre nächste Nachricht an Nemesis zu schicken. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die zweite volle Stunde ihrer Challenge und damit die Zeit endete, in der sie die nächste Aufgabe absolviert haben musste. Sie schrieb eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie über »Gloomy Sunday« erfahren hatte, bevor sie die Nachricht abschickte.

Die Antwort ihres Todesengels kam ein paar Minuten später.

Gratulation! Du hast auch die zweite Aufgabe mit Bravour bewältigt. War doch gar nicht so schwer, oder?

Nun bist du bereit für die nächste Challenge.

Deine dritte Aufgabe ist die folgende: Zeichne einen »Todesengel« auf ein Stück Papier. Mach anschließend ein Foto und maile es mir.

Anja runzelte die Stirn. Auch die dritte Challenge war leicht durchführbar und kein großes Opfer. Sie hatte erwartet, dass die Aufgaben immer härter werden würden. Andererseits war sie natürlich froh. Sie hatte nicht vor, sich zu verletzen, indem sie sich beispielsweise die Haut aufritzte, Nadeln in den Arm stach oder die Lippen zerschnitt, was bei anderen Selbstmordspielen teilweise verlangt worden war.

Allerdings hielt sie die Zeit für gekommen, dass Laura sich wieder einmal ein wenig störrisch benahm. Deshalb schrieb sie eine weitere Nachricht an Nemesis.

Ich weiß nicht, wie ein Todesengel aussieht. Kannst du mir helfen, Nemesis? Du bist doch ein Todesengel. Wie siehst du aus?

Erneut konnte sich Anja ein Lächeln nicht verkneifen, als sie die Mail abschickte, denn die würde Nemesis mit Sicherheit nicht gefallen.

Als sie fast umgehend die Antwort erhielt, glaubte sie sogar, das Wutschnauben des vermeintlichen Todesengels zu hören, während sie las, was Nemesis geschrieben hatte.

Offensichtlich hast du die Regeln noch immer nicht kapiert, sonst würdest du mir keine derartig dummen Fragen stellen.

Es funktioniert wie folgt: Ich sage dir, was du zu tun hast, und du machst es anschließend, ohne es ständig zu hinterfragen! Hast du mich jetzt endlich verstanden?

Deine dritte Aufgabe besteht darin, einen »Todesengel« zu zeichnen. Das kann doch nicht so schwer sein! Andere Teilnehmer, die ich bislang begleitet habe, stellten sich nicht so dämlich an.

Es geht nicht darum, wie ein »Todesengel« aussieht, sondern darum, wie du dir einen vorstellst. Und den zeichnest du dann.

Verstanden?

Und schick mir gefälligst keine weiteren Nachrichten, bevor du die Aufgabe erfüllt hast!

Die Zeit läuft! Ich warte!

»Ich auch«, murmelte Anja und ließ die Nachricht fürs Erste unbeantwortet.

Sie hatte noch eine Menge weiterer Vermisstenfälle, die darauf warteten, von ihr bearbeitet zu werden. Und am heutigen Tag war sie bislang zu nichts anderem gekommen, als ausschließlich die Fälle von Vermissten zu bearbeiten, deren Fotos in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs hingen.

Sie öffnete daher die Akte eines vierzehnjährigen Mädchens namens Leonie Wagner. Leonie war vor drei Tagen verschwunden. Allerdings war das nichts Neues. Das Kind riss regelmäßig von zu Hause aus, wurde aber ebenso regelmäßig wenige Tage später in der Innenstadt, meist in der Nähe des Hauptbahnhofs, wieder aufgegriffen. Dennoch musste sie jedes Mal erneut zur Fahndung ausgeschrieben werden. Denn auch wenn allen klar war, dass sie nicht in Gefahr schwebte, durfte sie als Minderjährige ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Im Gegensatz zu Erwachsenen galten Kinder und Jugendliche schon dann als vermisst, wenn ihr Aufenthaltsort unbekannt war.

Der Fall war mittlerweile abgeschlossen, denn Leonie war gestern Abend von zwei Bundespolizisten innerhalb des Bahnhofs entdeckt worden. Die Beamten kannten das Mädchen inzwischen. Sobald Anja sie darüber informierte, dass Leonie wieder einmal abgängig war, hielten sie nach ihr Ausschau. Anja hatte sie noch am gleichen Abend bei der Bundespolizeiinspektion am Hauptbahnhof abgeholt und nach Hause gebracht. Auf der Fahrt hatte sie dem Mädchen, wie sie es immer tat, ins Gewissen geredet. Sie glaubte allerdings nicht, dass sie diesmal damit erfolgreicher gewesen war als die unzähligen Male zuvor. Leonie hatte so demonstrativ gelangweilt, wie es nur vierzehnjährige Mädchen können, aus dem Fenster gestarrt und mit keiner Regung auf Anjas Worte reagiert. Für Anja war es frustrierend. Doch was sollte sie sonst tun? Das Kind zu Hause anketten? Wohl kaum. Und so war beiden bewusst gewesen, dass sie sich unter ganz ähnlichen Bedingungen erneut begegnen würden. So lange, bis Leonie nicht mehr davonlief oder endlich volljährig war und damit tun und lassen konnte, was sie wollte.

Danach war Anja gleich nach Hause gefahren und nicht mehr dazu gekommen, den Abschluss des Falls in der Akte zu dokumentieren. Das holte sie jetzt nach.

Als sie zwanzig Minuten später aufsah und Lauras E-Mail-Account checkte, sah sie, dass Nemesis ihr eine weitere Nachricht geschickt hatte.

Laura? Warum meldest du dich nicht?

Es kann doch nicht so lange dauern, einen Todesengel zu zeichnen.

Schreib mir bitte umgehend zurück!

»Darauf kannst du lange warten, Arschloch«, sagte Anja und widmete sich einer anderen Vermisstenakte.

Nach zehn weiteren Minuten traf die nächste Mail von Nemesis ein.

Laura? Was ist los mit dir?

Ich hoffe, ich hab dich mit meiner schroffen Art nicht vor den Kopf gestoßen. Aber es ist unbedingt notwendig, dass die Teilnehmer der »Suicide-Challenge« die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen, ohne sie ständig zu hinterfragen. Anders funktioniert die Challenge nicht.

Bitte melde dich.

»Na schön«, sagte Anja und seufzte. »Dann will ich dir den Gefallen mal tun.«

Sie formulierte eine Antwort und schickte sie weg.

Tut mir leid, Nemesis, aber ich konnte nicht früher antworten. Ich habe geweint, denn ich bin traurig und verwirrt. Warum darf ich keine Fragen stellen? Ich dachte, du bist mein Ansprechpartner, den ich alles fragen kann. Ich möchte doch nur wissen, mit wem ich es zu tun habe. Schließlich weißt du ja auch, wer ich bin. Es würde mir ja schon reichen, wenn du mir schreibst, wie alt du bist, ob du männlich oder weiblich bist und welche Farbe deine Haare haben. Danach tue ich alles, was du mir sagst, ohne dämliche Fragen zu stellen. Versprochen!

Nemesis’ Reaktion erfolgte prompt.

Na schön, Laura. Dann werde ich dir eben mitteilen, was du wissen willst. Aber danach ist Schluss, und du musst tun, was ich dir geschrieben habe. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die vierte Aufgabe an der Reihe ist.

Also. Ich bin weiblich und 20 Jahre alt. Meine Haarfarbe ist ein rötliches Kastanienbraun.

Endlich zufrieden?

Dann beeil dich jetzt bitte und erledige Aufgabe Nummer 3, bevor ich es bereue, gegen die Regeln verstoßen zu haben.

Anja notierte sich die Angaben. Natürlich konnte Nemesis gelogen haben, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Sie nahm sich ein Blatt Druckerpapier und zeichnete mit dem Folienstift die Umrisslinie eines engelsartigen Wesens mit riesigen Flügeln, Hörnern und einem Teufelsschwanz. Anschließend malte sie den Umriss schwarz aus. Sie machte ein Foto, schickte es erneut zuerst an Lauras Account und dann als Anhang einer Mail an Nemesis.

Danke, dass du meine Fragen beantwortet hast, mein lieber Todesengel. Jetzt habe ich schon viel, viel mehr Vertrauen in dich. Ich bin gespannt, was als Nächstes auf mich zukommt.

Anja seufzte. Die Selbstmord-Challenge und der Schriftwechsel mit Nemesis nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Sie hielt es aber für notwendig, den Kontakt aufrechtzuerhalten, denn gegebenenfalls kam sie auf diesem Weg an die Hintermänner des Clubs heran.

Sie bearbeitete zwei weitere Akten; in diesen Fällen hatte sich allerdings nichts Neues ergeben. Dann war es auch schon wieder Zeit für die nächste Aufgabe.

Anja öffnete Nemesis’ Mail und las:

Jetzt wird es allmählich Zeit für die erste richtige Herausforderung.

Hier ist deine 4. Challenge: Geh auf das Dach eines hohen Gebäudes. Je höher, desto besser! Stell dich direkt an den Rand oder ans Geländer. Blicke mindestens zehn Minuten lang in den Abgrund. Mach ein Foto und maile es mir.

Anja sah auf die Uhr. Es war Zeit, für heute Feierabend zu machen. Wegen dieser blöden Challenge kam sie ohnehin zu kaum etwas anderem. Außerdem war sie am Abend noch zum Essen verabredet.

Sie schaltete ihren Computer aus und klappte den Laptop des vermissten Studenten zu. Bevor sie in die Tiefgarage zu ihrem Wagen ging, wollte sie noch rasch dafür sorgen, dass das Gerät zu David Mollberger bei Cybercrime gebracht wurde.

Während sie ihre Lederjacke anzog, überlegte sie, auf welches hohe Gebäude sie steigen sollte, um dort die nächste Aufgabe hinter sich zu bringen.

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