Kitabı oku: «TODESJAGD», sayfa 7
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Auf der Fahrt zur Donnersbergerbrücke dachte Anja über das nach, was sie zuletzt von Baumgartner erfahren hatte.
Es irritierte sie, dass ihr Onkel etwas derart Profanes getan und eine Sterbegeldversicherung abgeschlossen haben sollte. Schließlich hielt sie ihn für einen skrupellosen Killer, der neben vielen anderen Untaten sogar den eigenen Bruder umgebracht hatte und Jagd auf seine Nichte machte. Es ließ ihn so normal und harmlos wie Otto Normalverbraucher erscheinen, denn es passte einfach nicht zu einem Serienkiller, sich Gedanken um die eigene Sterblichkeit und Sterbegeld zu machen.
Vielleicht habe ich mich ja doch in ihm getäuscht.
Dabei hatte alles so perfekt gepasst; vor allem der zeitliche Ablauf. Und jetzt sah es immer mehr danach aus, als hätte sie sich in eine fixe Idee verrannt und ihn zu Unrecht verdächtigt.
Doch noch war Anja nicht bereit, diese Möglichkeit zu akzeptieren. Denn wenn ihr Onkel als Verdächtiger ausschied, stand sie wieder mit leeren Händen da und musste erneut von vorn anfangen. Der Mörder ihres Vaters konnte dann nahezu jeder sein. Und Anja hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, wo sie mit der Suche nach ihm beginnen sollte.
Aus diesem Grund klammerte sie sich weiterhin an ihren Verdacht wie ein verzweifelter Schiffbrüchiger an ein Stück Treibholz, das ihn vor dem Ertrinken bewahrte, indem es ihn gerade so über Wasser hielt.
Außerdem war der Killer, der es aus einem bislang unbekannten Grund auf sie abgesehen hatte, extrem intelligent. Das hatte er in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen. Es war also durchaus denkbar, dass er mit Baumgartner und ihr nur spielte und sich heimlich ins Fäustchen lachte.
Die Überwachung durch den ehemaligen Kriminalbeamten hatte zwar bislang nichts ergeben, allerdings war sie auch lückenhaft. Und wenn ihr Onkel tatsächlich ahnte, dass er beobachtet wurde, konnte er seinem Überwacher leicht den harmlosen Geschäftsmann vorspielen, während er insgeheim die nächste unangenehme Überraschung für Anja plante. Unter Umständen war der Besuch dieser Versicherungsgemeinschaft ebenfalls eine Finte, mit der er Anjas Verdacht zerstreuen wollte. Und sobald sie die Überwachung aufgaben, arbeitete er wieder verstärkt daran, Anja demnächst das Leben zur Hölle zu machen.
Schon allein aus diesem Grund war die Entscheidung richtig gewesen, ihn fürs Erste weiterhin durch Baumgartner beobachten zu lassen. Anja hoffte nur, dass Baumgartner sich ihren Rat zu Herzen nahm und tatsächlich vorsichtig war. Falls ihm etwas zustieß, weil er ihr half, ihren Onkel zu überführen, könnte sie sich das nie verzeihen.
Sie stellte ihre Überlegungen in dieser Angelegenheit ein, als sie die Donnersbergerbrücke erreichte. In der Nähe der Trambahnhaltestelle Trappentreustraße parkte sie ihren Wagen am Straßenrand. Anschließend marschierte sie auf dem Gehweg die Auffahrt zur Brücke hinauf.
Als sie nach ihrer Schätzung am Scheitelpunkt der Brücke angekommen war, blieb sie stehen. Sie drehte sich zum Geländer, hielt aber sicherheitshalber mehr als einen Meter Abstand. Ihr Erlebnis auf dem Hochhausdach stand ihr noch deutlich in Erinnerung. Sie hatte nicht vor, es zu wiederholen. Hinter ihr rauschte der Verkehr vorbei. Sie achtete jedoch nicht darauf, sondern blickte hinunter auf den Fluss aus Schienen, der unter der Brücke hindurchführte. Aus Richtung Hauptbahnhof kam in langsamer Fahrt ein ICE. Die Brücke war zwar besonders hoch; kein Vergleich zum Dach des Hochhauses. Aber wenn man im richtigen Moment absprang und von einem Zug erfasst wurde, war ein Sprung ebenso tödlich.
Erneut glaubte Anja, einen leichten Sog zu verspüren, der sie in Richtung Brückengeländer und zu dem Abgrund zog, der dahinter gähnte. Außerdem wurde die Melodie von »Gloomy Sunday« in ihrem Kopf lauter.
… klettere über die Brüstung und sieh nach unten.
So lautete Nemesis’ Anweisung.
Anja gehorchte ihrem Todesengel und trat ans Geländer.
Der ICE fuhr noch immer langsam. Er kam aber beständig näher. Bald hätte er die Brücke erreicht. Also musste sie rasch handeln.
Der Abgrund hinter dem Geländer war alles andere als tief; ein Fall aus dieser Höhe wäre nur kurz. Dennoch lockte er sie flüsternd, sich in ihn zu stürzen.
Das Gleis, auf dem der ICE fuhr, führte direkt unter ihr hindurch, sodass sie nicht einmal die Position auf der Brücke verändern musste. Allerdings drängte allmählich die Zeit, denn der Zug war bald da.
Anja hob ein Bein und schwang es über das Geländer. Sobald sie es auf der anderen Seite auf den schmalen Absatz gestellt und wieder einen festen Stand hatte, folgte das zweite Bein. Dann drehte sie sich um, hielt sich aber weiterhin mit beiden Händen an der Brüstung hinter ihr fest.
Sie spürte einen leichten Windstoß. Er stammte von der Luft, die der ICE bei seiner Fahrt vor sich herschob. Sie schloss die Augen. Jetzt musste sie nur noch im richtigen Moment loslassen und sich nach vorn fallen lassen.
Hinter ihr hupte ein Auto. Anja erschrak. Sie stand nicht auf der anderen Seite des Geländers; das hatte sie sich wieder nur eingebildet. Doch ihr rechtes Bein lag auf der Brüstung.
Beinahe hätte sie Nemesis’ Anweisung befolgt. Dabei hatte sie das gar nicht vorgehabt.
In diesem Augenblick fuhr der ICE unter ihr durch den Brückenbogen.
Rasch nahm Anja ihr Bein vom Geländer und trat einen Schritt zurück. Sie schüttelte energisch den Kopf, um ihren Verstand zu klären, worauf der Sog, den sie sich vermutlich ohnehin nur eingebildet hatte, nachließ.
In ihrem Hinterkopf spielte noch immer die Melodie von »Gloomy Sunday«, jetzt allerdings wieder leiser. Das Lied war der schlimmste Ohrwurm, der ihr jemals untergekommen war. Vielleicht hatte sich der eine oder andere einfach nur umgebracht, damit es ihm nicht länger im Kopf herumspukte.
Anja beeilte sich und machte ein Foto. Sie ließ es so aussehen, als stünde sie auf der anderen Seite der Brüstung, und schickte es als Anhang einer Mail mit einem kurzen Kommentar an Nemesis. Dann drehte sie sich um, ohne noch einen weiteren Blick von der Brücke auf die Gleisanlage zu werfen, und machte sie sich eilig auf den Rückweg zu ihrem Wagen.
Doch noch bevor sie die Hälfte des Weges geschafft hatte, klingelte ihr Telefon.
Anja nahm es aus der Innentasche ihrer Jacke. Sie warf einen Blick auf das Display. Die Nummer, die angezeigt wurde, kannte sie nicht.
Wer kann das sein?
Ihr kam der Verdacht, dass Nemesis es irgendwie geschafft hatte, ihren echten Namen und ihre Telefonnummer herauszufinden. Aber wie sollte dem Todesengel das gelungen sein? Sie war doch extrem vorsichtig gewesen.
Da Rätselraten sie nicht weiterbrachte, nahm sie den Anruf kurzerhand entgegen und sagte mit heftig klopfendem Herzen: »Ja?«
Sie blieb stehen und drehte den vorbeifahrenden Autos den Rücken zu, um den Lärm abzuschirmen und den Anrufer besser zu verstehen.
»Spreche ich mit Anja Spangenberg?« Es war die Stimme eines Mannes.
Anja runzelte die Stirn. »Ja. Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Franz Gstettner«, stellte er sich vor. »Wir kennen uns noch nicht, aber ich bin ein Kollege von Ihnen.«
»Von welchem Kommissariat?«
»K 12.«
»Dann sind Sie für Todesermittlungen zuständig.«
»Das ist korrekt.«
Todesermittler sind zunächst für all diejenigen Todesfälle zuständig, bei denen eine nicht natürliche oder zumindest ungeklärte Todesursache festgestellt wurde. Sie untersuchen den Leichnam, die Lebensumstände der verstorbenen Person und die Umstände ihres Todes und versuchen auf diesem Weg zu ermitteln, ob ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden kann. Solange sie dazu nicht in der Lage sind, geben sie den Leichnam nicht frei und regen im Zweifelsfall sogar an, eine Obduktion durchzuführen. Kommen Sie am Ende ihrer Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein Tötungsdelikt vorliegt, übergeben sie den Fall an die Kollegen von der Mordkommission.
Anja beneidete die Todesermittler nicht um ihre Arbeit. Im Gegenteil! Allein die Vorstellung, sie hätte es Tag für Tag mit Leichen zu tun, ließ sie vor Unbehagen erzittern und ihr Herz schneller schlagen. Wegen ihrer Angst vor toten Menschen wäre sie für diesen Job absolut ungeeignet. Denn ein Todesermittler musste nicht nur den Anblick und den Geruch von Leichnamen ertragen, egal, ob sie entstellt, zerstückelt, von Maden befallen, halb verwest waren oder sogar wochenlang im Wasser gelegen hatten. Sie mussten die Toten auch anfassen, um sie beispielsweise umzudrehen und zu entkleiden. Außerdem mussten sie die Leichen untersuchen, sich ihre Körperöffnungen ansehen und die Körpertemperatur messen, um den Todeszeitpunkt eingrenzen zu können. Zu allem Überfluss waren sie gezwungen, das Leid der Hinterbliebenen hautnah mitzuerleben. Und dafür wurden sie auch noch schlechter bezahlt als ihre Kollegen von den anderen Dienststellen.
Hin und wieder hatte Anja mit Todesermittlern zu tun. Das war meist dann der Fall, wenn einer ihrer Vermissten als Leiche auftauchte. Allerdings kannte sie deshalb noch längst nicht jeden Kollegen persönlich, der im Kommissariat K 12 arbeitete.
»Warum rufen Sie mich an?«, fragte Anja, obwohl bereits eine düstere Ahnung in ihr emporstieg und sie erschaudern ließ.
»Wie Sie sich gewiss schon denken können, verehrte Frau Kollegin, ist natürlich ein Leichenfund der Grund meines Anrufs. Als wir den Namen des jungen Mannes in die Datenbank eingaben, um zu überprüfen, ob er vermisst wird, tauchte prompt Ihr Name als zuständige Ermittlerin der Vermisstenstelle auf.«
»Wie heißt er?« Noch bevor Gstettner ihr eine Antwort gab, verfestigte sich die Ahnung zu trauriger Gewissheit.
»Christian Stumpf.«
Anja schloss die Augen und seufzte tief.
»Okay. Ich komme.«
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte Anja kaum noch Hoffnung gehabt, Christian Stumpf lebend zu finden. Der Abschiedsbrief und sein Bild in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs hatten sie erahnen lassen, dass dieser Vermisstenfall letztendlich auf einen Leichenfund aufgrund von Suizid hinauslief. Von daher war es keine große Überraschung, dass es tatsächlich die Leiche des zwanzigjährigen Studenten war, die an einem orangefarbenen Seil von einem rostigen Abwasserrohr im Keller eines zum Abriss bestimmten leerstehenden Hauses im Stadtteil Giesing baumelte.
Anja blieb so weit von der Leiche entfernt stehen, wie es in dem Kellerraum möglich war, ohne dass es verdächtig wirkte. Zu behaupten, dass sie keine Leichen mochte, war noch untertrieben. Sobald sie sich einer näherte, fing sie zu schwitzen und zu zittern an, während ihr Herz raste. Gleichzeitig litt sie unter Schwindelgefühlen und Atemnot. Die Symptome erinnerten an eine Nekrophobie, der krankhaft übersteigerten Angst vor Toten und toten Dingen wie Leichnamen und Kadavern. Doch im Gegensatz zu Menschen, die an Nekrophobie litten, hatte Anja kein Problem damit, sich beispielsweise Todkranken oder Sterbenden zu nähern, auf Friedhöfe zu gehen oder Beerdigungen zu besuchen. Vermutlich war ihr traumatischstes Kindheitserlebnis für ihre Angst verantwortlich, als sie die Leiche ihres Vaters entdeckt hatte. Außerdem erinnerte sie jeder Leichnam, den sie zu sehen bekam, automatisch an ihren toten Vater und beschwor den Anblick seines von der Decke baumelnden leblosen Körpers herauf, worauf sie natürlich auch liebend gern verzichtet hätte. In diesem konkreten Fall sogar noch mehr als sonst, denn Christian Stumpf hing ebenfalls an einem Seil, womit die Ähnlichkeit zu ihrem verstorbenen Vater noch deutlicher war.
Allerdings durchschnitt soeben ein Mitarbeiter der Kriminaltechnik das Seil. Zwei seiner Kollegen hielten den Leichnam fest und legten ihn anschließend behutsam auf eine Plane, die sie auf dem schmutzigen Betonboden ausgebreitet hatten. Dr. Brenner vom Institut für Rechtsmedizin wartete bereits ungeduldig darauf, endlich in Aktion treten und die Leiche untersuchen zu können.
Fast alle Anwesenden kannte Anja, wenn auch zum größten Teil nicht namentlich, sondern nur vom Sehen an anderen Tatorten, und hatte sie bei ihrer Ankunft mit einem knappen Nicken begrüßt. Beispielsweise die beiden Streifenpolizisten, die dafür sorgten, dass ausschließlich die richtigen Personen Zutritt zum Haus bekamen. Oder der Rechtsmediziner, der jetzt neben der Leiche kniete, um sie einer ersten Untersuchung zu unterziehen. Und schließlich die Kollegen von der Kriminaltechnik, die den Keller penibel absuchten und alles eintüteten, was ihnen wichtig oder zumindest verdächtig vorkam. Sollte sich herausstellen, dass es sich hier nicht um einen Suizid, sondern um ein Tötungsdelikt handelte, würden sie ihre Funde später im Labor genauer untersuchen.
Auf den ersten Blick sprach allerdings alles für Selbstmord. Auch wenn es keinen Abschiedsbrief gegeben hätte und Stumpfs Foto nicht ausgerechnet auf der Webseite eines Selbstmordclubs aufgetaucht wäre, wiesen die Auffindesituation der Leiche und der erste Augenschein zunächst einmal eindeutig auf Suizid hin. Das lag vor allem an dem alten, wurmstichigen Holzstuhl, der umgekippt in der Nähe der Stelle lag, an welcher der junge Mann gehangen hatte. Eine Kriminaltechnikerin kauerte neben dem Stuhl und suchte ihn nach Fingerabdrücken ab.
Der zuständige Todesermittler trat neben sie. Er war die einzige Person hier, die Anja noch nie zuvor gesehen hatte.
»Sie sind die Ermittlerin der Vermisstenstelle, habe ich recht?«
»Sie sind ja ein ganz Schlauer«, sagte Anja mit einem freundlichen Lächeln. »Sie sollten unbedingt zur Polizei gehen.«
»Gute Idee.« Er grinste und reichte ihr dann die Hand. »Franz Gstettner. Wir hatten bislang noch nicht das Vergnügen.«
»Das nennen Sie Vergnügen?« Anja warf einen Blick auf die Leiche. Doch da das kein Anblick war, dem sie sich gern und allzu lange aussetzen wollte, sah sie rasch wieder weg. Sie nahm die dargebotene Hand und erwiderte seinen festen Händedruck. »Anja Spangenberg.«
»Die Umstände sind natürlich alles andere als schön«, sagte er und zuckte bedauernd mit den Schultern, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass er nichts dafürkonnte. »Aber die Anwesenheit einer derart gut aussehenden Kollegin von der Vermisstenstelle macht die Angelegenheit doch gleich viel besser.«
Anja musste mit viel Mühe ein genervtes Aufstöhnen unterdrücken. Nichts erschien ihr unpassender, als in unmittelbarer Nähe einer Leiche angebaggert zu werden. Außerdem ließ Gstettner ihre Hand nicht mehr los.
»Darf ich meine Hand wiederhaben?«
Er tat überrascht, als wäre er sich dessen gar nicht bewusst gewesen, und meinte: »Aber nur, wenn Sie mir im Gegenzug Ihre private Telefonnummer verraten.«
»Die haben Sie doch schon. Wie hätten Sie mich sonst anrufen können?«
»Stimmt, wie konnte ich das bloß vergessen?«, sagte er, schüttelte den Kopf und schlug sich mit der anderen Hand gegen die Stirn. »Offenkundig verwirrt Ihre Schönheit mir die Sinne. Aber dann müssen Sie mir wenigstens versprechen, dass Sie mit mir essen gehen.«
»Das muss ich mir erst noch überlegen«, sagte Anja unverbindlich, was in ihrem Fall gleichbedeutend mit einem höflichen »Nein danke« war.
»Das reicht mir nicht«, meinte er. »Sie müssen es mir schon versprechen.«
Anjas Lächeln verblasste. »Ich muss gar nichts. Allerdings muss ich Ihnen wehtun, wenn Sie nicht schleunigst meine Hand loslassen.«
Gstettners Lächeln bekam ein paar Risse, doch er hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt. Eilig ließ er ihre Hand los. »Dann muss ich mich eben damit begnügen. Wie heißt es so schön? Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach. Oder?«
Anja nickte.
Sie musste zugeben, dass Gstettner gar nicht mal schlecht aussah. Er war schätzungsweise in ihrem Alter, plus oder minus zwei, drei Jahre, und überragte sie um acht bis zehn Zentimeter. Außerdem war er schlank und machte einen durchtrainierten Eindruck, als würde er in seiner Freizeit viel Sport betreiben oder im Fitnessstudio trainieren. Er hatte warmherzige braune Augen, kurzes braunschwarzes Haar, das auf der rechten Seite gescheitelt war, und trotz der Uhrzeit ein perfekt rasiertes Gesicht von länglicher, etwas kantiger Form. Er trug Cowboystiefel, Jeans, ein blaues Hemd, bei dem die obersten drei Knöpfe offenstanden, sodass neben einer stark behaarten Brust ein runder Anhänger an einer silbernen Kette zu sehen war, und eine hellbraune Wildlederjacke. Außerdem roch er nach einer Mischung aus aufdringlichem Rasierwasser und kaltem Zigarettenrauch.
Doch trotz seines angenehmen Äußeren war er nicht der Typ von Mann, mit dem Anja ausgehen oder eine Beziehung eingehen wollte. Sie stand auf blonde, groß gewachsene und breitschultrige Männer, die sofort die Hauptrolle in einem Film über Wikinger bekommen würden. Und obwohl sie ihre letzte Liebesbeziehung vor über einem halben Jahr beendet hatte, weil sie den Mann mit einer anderen Frau im Bett erwischt hatte, hatte sie momentan nicht das Bedürfnis, wieder Teil einer neuen Beziehungskiste zu werden. Ihr Leben war auch so schon kompliziert genug. Außer natürlich, sie träfe den Richtigen. Ein Mann wie Fabian beispielsweise.
Gstettner hingegen war eindeutig nicht der Richtige, das wusste sie von Anfang an. Abgesehen von seinem Aussehen gefiel ihr seine Art nicht. Er schien sich viel zu viel auf sein Äußeres und sein forsches Auftreten einzubilden und der Ansicht zu sein, Frauen müssten auf seine plumpe Anmache sofort abfahren und sich seinem billigen Charme ergeben. Es wurde daher Zeit, dass sie ihn daran erinnerte, dass sie nicht zum Vergnügen hier waren und sich immer noch in Gegenwart eines Leichnams befanden.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Anja mit einer Kopfbewegung in Richtung Leiche.
Der Todesermittler folgte mit den Augen ihrem Wink, als müsste er erst nachsehen, von wem sie überhaupt redete. »Ein Mitarbeiter der Abrissfirma«, sagte er dann. Nachdem er gemerkt hatte, dass sein Charme an Anja scheinbar verschwendet war, war auch sein neckisches Lächeln verschwunden und hatte einem geschäftsmäßigen, eher ernsthaften Gesichtsausdruck Platz gemacht. »Die Bude hier soll morgen abgerissen werden. Also hat er sicherheitshalber nachgesehen, dass sich in der Zwischenzeit keine Obdachlosen hier eingenistet haben.«
»Was ist das für ein Seil, an dem er hing?«
»Nach Ansicht eines Kriminaltechnikers ein sogenanntes Mehrzweckseil aus Polypropylen mit einem Durchmesser von acht Millimeter. Bekommt man angeblich in jedem Baumarkt. Aber da kenne ich mich nicht aus. Ich bin kein Heimwerker.«
»Haben Sie sich die Leiche schon genauer angesehen?«
Er nickte. »Ich habe vor allem den Hals untersucht und abgetastet. Ich könnte Ihnen jetzt natürlich einen ganzen Roman über Stauungsblutungen entlang der Strangfurche, die Speichelabrinnspur, Weichteil- und Frakturblutungen oder die ansteigende, symmetrische Strangulationsfurche erzählen. Aber ich gehe einfach mal davon aus, dass Sie das alles schon einmal gehört haben, sodass ich es uns beiden ersparen kann, ins Detail zu gehen. Im Endergebnis sieht das Gesamtpaket für mich eindeutig wie ein klassischer Fall von Selbsttötung durch Erhängen aus.«
Anja nickte. Sie hatte von derartigen eindeutigen Anzeichen, die bei der Untersuchung oder Obduktion eines Menschen gefunden wurden, der sich erhängt hatte, schon ein paar Mal gehört. Zuletzt vor ein paar Monaten ausgerechnet von dem Todesermittler, der den Tod ihres Vaters vor vierundzwanzig Jahren untersucht hatte. Damals waren sowohl der Todesermittler als auch der zuständige Pathologe ebenfalls davon überzeugt gewesen, dass es sich um einen eindeutigen Fall von Selbstmord durch Erhängen gehandelt hatte. Allerdings wusste Anja inzwischen, dass sie getäuscht worden waren und es sich um Mord handelte.
Dass Morde unentdeckt blieben und als natürlicher Tod, Unfall oder Suizid angesehen wurden, war nicht einmal so selten. Nach Schätzungen von Experten gab es in Deutschland pro Jahr mindestens 2.400 Tötungsdelikte, die nicht als solche erkannt wurden.
Doch in diesem Fall schien Gstettner recht zu haben. Neben den handfesten Anzeichen für einen freiwilligen und selbstbestimmten Suizid an der Leiche und am Tatort gab es schließlich auch noch den Abschiedsbrief und die Mitgliedschaft in einem Club für Selbstmörder. Eindeutiger konnte ein Fall nicht sein.
»Jetzt dürfen Sie mir aber auch ein paar Fragen beantworten, Frau Kollegin«, meinte Gstettner. Sein Lächeln war zurückgekehrt und wirkte noch strahlender als zuvor. Wie es aussah, hatte er trotz allem noch nicht aufgegeben und hegte weiterhin die Hoffnung, er könnte Anja rumkriegen. Vermutlich hatte sie mit ihrer Weigerung, auf seine Anmache zu reagieren, nur seinen Ehrgeiz und sein Jagdfieber geweckt. Womöglich war er nicht der Typ, der eine Niederlage kommentarlos wegsteckte, sondern sie im Gegenteil zum Anlass nahm, seine Bemühungen zu verstärken und von nun an sämtliche Register zu ziehen.
»Gerne. Was wollen Sie wissen?«
»Haben Sie bei Ihren Ermittlungen im Vermisstenfall irgendwelche Hinweise gefunden, die darauf hindeuten, dass er depressiv oder suizidgefährdet war?«
»Seine Freundin hat ihn erst vor Kurzem verlassen und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Das scheint ihn komplett aus der Bahn geworfen zu haben. Ich fand in seinem Computer einen Abschiedsbrief. Außerdem tauchte sein Foto in einer sogenannten Suicidal Hall of Fame eines Selbstmordclubs mit dem Namen Club der toten Gesichter auf. Aufgrund all dessen ging ich schon bald davon aus, dass er vorhatte, sich selbst etwas anzutun.« Sie seufzte. »Und wie sich jetzt herausstellte, hat er das auch getan.«
»Dann ist der Fall für mich eindeutig: Tod durch Suizid. Oder sehen Sie das anders, Frau Kollegin?«
Anja zögerte kurz und sah dorthin, wo die Leiche lag. Dr. Brenner hatte seine Untersuchung mittlerweile abgeschlossen und sprach mit einem Mitarbeiter der Kriminaltechnik. Außerdem hatte jemand den Leichnam mit einer Plane zugedeckt, wofür Anja insgeheim dankbar war, denn nun musste sie ihn nicht mehr ansehen.
Sie richtete ihren Blick wieder auf den Todesermittler und nickte nachdrücklich. »Ich sehe das genauso wie Sie: Tod durch Suizid.«
»Dann sind wir uns ja einig. Eine Frage hätte ich zum Abschluss aber noch: Wie steht es jetzt mit unserer Verabredung zum Abendessen? Ich bin hier fertig und habe noch Zeit.«
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