Kitabı oku: «WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN», sayfa 6

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Als Schäringer und Baum den Vorgarten des Reihenhauses durchquerten, wurden sie von einer Nachbarin drei Häuser weiter neugierig und relativ unverblümt angestarrt.

»Guten Morgen«, grüßte Baum. »Wir sind vom bayerischen Ministerium für Gesichtskontrolle. Zu Ihnen kommen wir in einer Viertelstunde auch noch. Bereiten Sie sich bitte schon mal darauf vor.«

Schäringer verdrehte die Augen, musste aber dennoch schmunzeln.

Die Frau riss Augen und Mund auf – so hätte sie gewiss keine Gesichtskontrolle überstanden – und schnappte nach Luft. Dann wandte sie sich um und verschwand fluchtartig im Haus.

»Ich wünschte mir, du würdest solche Dinge unterlassen, Lutz.«

»Du fandest es aber auch witzig, Franz, gib’s ruhig zu. Ich hab gesehen, dass du ein bisschen gelächelt hast.«

»Das war kein Lächeln«, sagte Schäringer, während er das Gartentürchen hinter sich schloss und sie über den Gehsteig zum Wagen gingen. »Ich habe nur gequält das Gesicht verzogen und mit den Zähnen geknirscht, als ich daran denken musste, was wir für einen Ärger kriegen, wenn die Frau zum Telefon greift und Kriminalrat Ehrbacher anruft.«

»Die weiß doch gar nicht, dass wir von der Kripo sind«, wiegelte Baum ab, betätigte den Türöffner, damit Schäringer schon mal einsteigen konnte, und lief dann um die Motorhaube des BMW herum.

Schäringer schüttelte den Kopf und stieg ein. Als Baum die Fahrerseite erreichte, öffnete er erst die hintere Tür, um den Laptop auf den Rücksitz zu legen, ehe er auf dem Fahrersitz Platz nahm. Wenn die beiden Kollegen gemeinsam unterwegs waren, saß stets Baum hinter dem Steuer des Dienstwagens. Er fuhr gern Auto und war fast genauso zappelig wie eben im Wohnzimmer der Kramers, wenn er auf dem Beifahrersitz hocken musste und zur Untätigkeit verdammt war. Um etwas zu tun zu haben, nervte er den Fahrer dann stets mit überflüssigen Hinweisen wie »Die Ampel wird gleich rot!«, »Pass auf, die Autos da vorn bremsen!« oder gerne auch mal: »Auf der linken Spur würden wir schneller vorankommen!« Einmal hätte Schäringer ganz am Anfang ihrer Zusammenarbeit sogar um ein Haar einen Unfall verursacht. Baum hatte laut gerufen: »Pass auf den Radfahrer auf!« Schäringer, der den Radler bemerkt und im Auge gehabt hatte, hatte sich aber gedacht: »Was, noch ein Radfahrer?« und so abrupt abgebremst, dass der nachfolgende Fahrer ihnen beinahe ins Heck gekracht wäre. Seitdem überließ er Baum gern den Platz hinter dem Steuer. Das hatte zudem den Vorteil, dass er sich nicht auf den Verkehr konzentrieren musste, sondern in aller Ruhe über die jeweils aktuellen Fälle und die bisherigen Ermittlungen nachdenken konnte. Es war fast so, als hätte er einen eigenen Chauffeur.

»Und wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Baum, als sie beide im Auto saßen.

»Wir statten einem jungen Mann namens Heiko Fischer einen Besuch ab. Aber lass mich erst noch telefonieren, um seine Adresse in Erfahrung zu bringen.« Schäringer holte sein Handy heraus und tippte die Bürodurchwahl des Leiters der Spurensicherung ein. Wenn er Glück hatte, war Krautmann schon wieder im Büro und konnte dort im Handumdrehen die Adresse des Burschen herauskriegen.

»Krautmann. Wer stört?« Vermutlich hatte er Schäringers Handynummer auf dem Display seines Apparates erkannt, sonst hätte er sich nicht mit diesen Worten gemeldet.

»Als wenn du das nicht wüsstest, Christian.«

»Franz, was gibt’s? Für gute Neuigkeiten ist es noch viel zu früh. Wir sind noch immer dabei, die Spuren vom Tatort zu analysieren.«

»Dachte ich mir schon. Es geht ohnehin um etwas ganz anderes. Ich brauche die Adresse eines jungen Mannes. Er heißt Heiko Fischer, dürfte um die 18 sein und geht aufs Graf-Rasso-Gymnasium. Kannst du die Anschrift rauskriegen und mich dann zurückrufen?«

»Klar. Ich melde mich sofort wieder.«

»Danke.« Schäringer unterbrach die Verbindung, behielt das Mobiltelefon allerdings in der Hand.

»Und wer ist dieser ominöse Heiko Fischer?«

»Der Wortführer einer Clique, die Niklas Kramer in der Schule gemobbt hat.«

»Gemobbt? Als ich zur Schule ging, gab es das Wort im Deutschen noch nicht mal, obwohl auch damals schon Schulkameraden geärgert und getriezt wurden. Das nannte man nur anders. Bei uns hieß das Du-bist-das-größte-Arschloch-in-der-Klasse-und-wir-ärgern-dich-damit-du-das-bis-morgen-auch-ja-nicht-vergisst

»Und du hattest nie Mitleid mit den Opfern?«

»Mitleid?« Baum zuckte mit den Schultern. »Wieso? Außerdem waren das keine Opfer. Das waren Idioten, die sich wie Idioten benahmen und es verdient hatten.«

»Das kann man so oder so sehen, Lutz. Auf jeden Fall heißt das Ganze heutzutage auf Neudeutsch Mobbing und hat wohl auch Ausmaße angenommen, die es früher nicht gab, weil die heutige Jugend infolge der Reizüberflutung durch das Internet und die Medien und durch gewalttätige Computerspiele und Filme teilweise den Bezug zur Realität verloren hat und langsam aber sicher immer mehr verroht.«

»Hört, hört!« Baum hielt sich die geschlossene Faust vor den Mund, als spräche er in ein Mikrofon. »Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn Pfarrer Schäringer das Wort zum Sonntag spricht.«

Schäringer schmunzelte, dann erzählte er Baum, was die jungen Männer unter Heiko Fischers Führung mit Niklas Kramer angestellt hatten.

»So was haben wir damals natürlich nicht gemacht«, sagte sein Kollege, nachdem Schäringer seinen Bericht beendet hatte. »Bei uns war das noch vergleichsweise harmlos.«

»Ihr hattet auch noch nicht die technischen Möglichkeiten dazu«, gab Schäringer zu bedenken und meinte Handys, mit denen man Filme drehen konnte.

»Hast du eine Ahnung. Bei uns gab es auch schon Toiletten mit fließendem Wasser. Wir haben allerdings nie jemanden, nicht einmal den größten Idioten der ganzen Schule, mit dem Kopf hineingesteckt. Aber als du zur Schule gingst, Franz, vor achtzig Jahren oder so, da gab es vermutlich nur ein einziges stinkendes Plumpsklo auf dem Schulhof, oder?«

Schäringer lächelte nur müde. »Wenn du weiterhin so schlechte Witze machst, Lutz, wirst du nie so alt werden, wie du aussiehst.« Das Handy in seiner Hand spielte die ersten Töne der Titelmelodie der Tatort-Reihe und beendete damit ihre Unterhaltung fürs Erste.

»Das ging aber flott, Christian«, sagte Schäringer anstelle einer Begrüßung, denn er hatte gesehen, dass der Anruf von Krautmann kam.

»So sind wir von der Spurensicherung eben: schnell, zuverlässig und verdammt gut aussehend. Ich hab die Adresse des jungen Mannes. Hast du was zu schreiben?«

»Die kann ich mir schon noch merken. So alt bin ich nämlich auch wieder nicht.« Er warf einen finsteren Blick in Baums Richtung, der nur grinste. »Schieß los!«

»Der junge Mann ist 19 Jahre alt und wohnt gar nicht weit vom Graf-Rasso-Gymnasium in der Münchner Straße.« Krautmann nannte auch die Nummer. »Brauchst du sonst noch was?«

»Erste Untersuchungsergebnisse kannst du mir ja eh noch nicht liefern, oder?«

»Tut mir echt leid, Franz, aber da musst du dich schon noch ein bisschen gedulden.«

»Hast du wenigstens eine Kopie des Zettels und ein Foto des Armbands für mich gemacht?«

»Natürlich. Liegt schon alles auf deinem Schreibtisch.«

»Dann sage ich schon mal Danke. Wir werden jetzt erst einmal ein Wörtchen mit Heiko Fischer reden, aber sobald wir wieder in der Inspektion sind, bringt Baum dir den Laptop und ein Schulheft von Niklas Kramer für den Schriftenvergleich vorbei.«

»Also noch mehr Arbeit für meine Leute und mich. Dann weiß ich ja wenigstens, worauf ich mich heute noch freuen kann. Servus, Franz.«

»Servus, Christian.«

Schäringer steckte sein Handy weg und sagte zu Baum: »Wir müssen in die Münchner Straße. Das ist nicht weit von hier.« Er griff nach dem Gurt und schnallte sich an.

»Okay«, sagte Baum und gurtete sich ebenfalls an. »Während der Fahrt kannst du dir ja schon mal das Schulheft angucken, das ich aus Niklas’ Zimmer mitgenommen habe.« Er legte Schäringer Heft und Foto des jungen Mannes in den Schoß und startete den Wagen.

»Ein Tagebuch, aus dem ein Blatt herausgerissen wurde, hast du nicht gefunden?«

»Nein. Und ich hab wirklich überall gründlich danach gesucht. Ein Handy war übrigens auch nicht da. Er hatte aber auch keins bei sich, als man ihn fand.«

»Vielleicht besaß er gar keins.«

»Junge Leute in seinem Alter haben doch heutzutage alle ein Handy. Ohne Smartphone ist man doch schon in der vierten Klasse Grundschule total uncool. Wir sollten seine Eltern fragen, ob er eins hatte und um welches Fabrikat es sich handelt. Möglicherweise hat es jetzt der Mörder.«

»Und wieso soll ich einen Blick in dieses Heft werfen? Gibt es darin etwas Besonderes zu sehen?«

»Schau es dir einfach mal an, okay?«

»Na gut. Also hast du das Heft nicht nur mitgenommen, um es für die Schriftanalyse zu benutzen?«

»Stimmt. Was hat Frau Kramer eigentlich gesagt, als du sie nach Niklas’ Verhältnis zu Nadine Blume befragt hast?«

»Sie sagte, dass Niklas das Mädchen vermutlich nur flüchtig kannte. Ob Niklas in Nadine Blume verliebt war, konnte sie nicht bestätigen. Angeblich war er ausgesprochen schüchtern im Umgang mit Mädchen.«

Schäringer sah sich kurz das Foto an, das sie mitgenommen hatten. Zum ersten Mal sah er Niklas Kramer so, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, ohne all die grauenvollen Merkmale des Erstickungstodes. Es handelte sich um die professionelle Arbeit eines Fotografen, die vermutlich angefertigt worden war, um sie den Eltern oder Großeltern zu Weihnachten oder zum Geburtstag zu schenken, und zeigte einen halbwegs gut aussehenden, jungen Mann, der etwas unsicher und zaghaft in die Kamera lächelte.

Schäringer schob das Foto unter das Heft und öffnete es dann auf der ersten von Niklas Kramer beschriebenen Seite. Er überflog sie und suchte nach Auffälligkeiten, ohne die Bedeutung der Worte zur Kenntnis zu nehmen. Es schien sich ausschließlich um Themen des Deutschunterrichts zu handeln. Schäringer blätterte weiter, fand jedoch auch auf den nächsten 10 Seiten nichts Ungewöhnliches. Er dachte schon, Baum wollte ihn nur auf den Arm nehmen, und war kurz davor, den Kollegen zu fragen, was dieser Blödsinn zu bedeuten habe, als er auf der nächsten Seite zum ersten Mal auf ein gezeichnetes Herz am Seitenrand stieß, in dem die Initialen »N.B. & N.K.« zu lesen waren.

»Aha, das meintest du also.«

»Ja. Und da kommt noch mehr.«

Schäringer sah sich das Datum des Hefteintrags an, das am Rand vermerkt war, und stellte fest, dass Nadine Blume nur eine Woche später verschwunden war. Er blätterte weiter und stieß auf der nächsten Doppelseite sogar auf vier Herzen einschließlich Initialen. Manches Herz wurde von einem Pfeil durchbohrt, und aus den Löchern tropfte rot angemaltes Blut. Außerdem war ein halbes Dutzend Mal der Satz »Blümchen, ich liebe dich!« zu lesen. In dieser Art ging es weiter bis zum Eintrag des Tages, an dem Nadine Blume auf dem Nachhauseweg vom Nachmittagsunterricht spurlos verschwunden war. Dort fand er allerdings kein Herz, sondern nur die Initialen »N.B.«. Darunter stand: »Heute oder nie!« Schäringer blätterte weiter und sah sich die Einträge an, die danach kamen – der letzte stammte von vorgestern –, fand jedoch weder ein Herz noch eine weitere Liebesbekundung.

»Am Tag nach ihrem Verschwinden hört er ganz plötzlich auf, Herzchen und Liebeserklärungen in sein Heft zu malen. Aber warum? Seine Liebe kann mit ihrem Verschwinden doch nicht abrupt erloschen sein. Vermutlich sollte sie doch eher gewachsen sein, weil er sich schreckliche Sorgen um sie machen musste.«

»Außer, er selbst hat Nadine Blume an diesem Tag in seine Gewalt gebracht. Dann muss er nicht mehr heimlich in sein Heft schreiben, dass er sie liebt, sondern kann es ihr persönlich sagen. Und sie kann ihn nicht zurückweisen, weil er sie sonst bestraft, indem er sie schlägt oder ein bisschen mit dem Messer bedroht. Vielleicht war er ja gar nicht mehr so schüchtern, sobald die Mädchen gefesselt waren, sich nicht wehren und ihm keinen Korb geben konnten.«

»Hm«, machte Schäringer und überlegte. »Dann bleibt aber immer noch die Frage, wer ihn erwürgt und an den Baum gehängt hat, um es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.«

»Möglicherweise ein Fall von Selbstjustiz«, schlug Baum vor, setzte den Blinker und bog ab.

»So wie man es im Wilden Westen mit Pferdedieben gemacht hat, meinst du? Einfach am nächsten Baum aufknüpfen. Allerdings wurde er schon vorher erwürgt. Wenn er erhängt worden wäre, müsste man eher von einem planmäßigen Verhalten ausgehen, denn dazu braucht man einen Strick. Dass er von einer Person, die kräftiger war als er, erwürgt wurde, könnte auch im Affekt geschehen sein. Aber wer könnte diese Person gewesen sein?«

»Jemand, der herausfand, dass Niklas die beiden Mädchen entführt und möglicherweise getötet hat. Jemand, der deshalb eine Stinkwut auf den Jungen hatte.«

»Du meinst also, einer der Angehörigen der beiden Mädchen hat es getan?«

»Wäre doch möglich? Da der Junge ermordet wurde und sein Tod ganz offensichtlich im Zusammenhang mit den verschwundenen Mädchen steht, müssen wir uns ihre Angehörigen ohnehin näher ansehen.«

Schäringer nickte. »Aber jetzt sehen wir uns erst einmal dieses Bürschchen an, das gern die Köpfe seiner Mitschüler in Kloschüsseln steckt. Da vorne ist es. Fahr am besten in die nächste Seitenstraße und such dort nach einem Parkplatz.«

Baum blinkte, bog ab und besetzte die nächste freie Parklücke am rechten Rand der Fahrbahn.

3

Der junge Mann, der ihnen öffnete, nachdem sie an der Tür der Doppelhaushälfte Sturm hatten läuten müssen, um die ohrenbetäubend laute Musik aus dem Obergeschoss zu übertönen, passte rein äußerlich schon einmal hervorragend in ihr bisheriges Täterprofil eines sehr kräftigen Mannes, denn er war kaum kleiner als Schäringer, aber um einiges breiter, vor allem im Schulterbereich. Er machte einen bulligen und feindseligen Eindruck, wie er in der offenen Tür stand und die beiden Männer, die vor ihm standen, grimmig ansah. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem der Name der Band IRON MAIDEN stand und das teilweise von ihren Bandagen befreite Gesicht einer vertrockneten Mumie zu sehen war. Seine eindrucksvolle Brustmuskulatur und die dicken Oberarmmuskeln spannten den Stoff des Shirts, sodass es aussah, als würde es bei der nächsten Bewegung wie ein Kokon aufplatzen. Allerdings würde darunter kein filigraner Schmetterling zum Vorschein kommen. Auch die schwarze Jeans, unter deren Stoff sich die mächtigen Oberschenkelmuskeln deutlich abzeichneten, saß so eng, als wäre sie ihm auf den Leib gegossen worden. Er trug keine Schuhe, sondern nur weiße Tennissocken und hatte streichholzkurzes, hellblondes Haar, eine große, gebogene Nase, die an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte, und einen kleinen, silbernen Knopf im linken Ohrläppchen.

»Wenn ihr zwei Knalltüten Zeugen Jehovas seid, rate ich euch, schleunigst einen Abflug zu machen und unser Grundstück zu verlassen, bevor ich mit euren dämlichen Gesichtern den Bürgersteig vor dem Haus aufwische.«

Die Musik aus einem Zimmer im ersten Stock war erst verstummt, nachdem Schäringer den Klingelknopf zum mindestens zehnten Mal unter seinem Daumen begraben und für länger als eine Minute nicht mehr losgelassen hatte. Erst dann war die einzige Person, die an diesem Vormittag zu Hause zu sein schien, auf das Klingeln aufmerksam geworden und hatte die Musik abgestellt. Durch ein gekipptes Fenster im Obergeschoss, hinter dem auch das laute Wummern und Dröhnen entstanden war, war eine Stimme zu hören gewesen, die »Ist ja schon gut, ihr Wichser!« gerufen hatte. Dann war dieselbe Person mit so lauten Schritten die Treppe heruntergepoltert, dass Schäringer sich nicht gewundert hätte, wenn das ganze Gebäude ins Wanken geraten wäre. Erst als die Tür geöffnet worden war und die beiden Polizisten einen Blick auf den anwesenden Hausbewohner hatten richten können, hatte Schäringer verstanden, warum die Schritte des jungen Mannes so laut gewesen waren.

»Sind Sie Heiko Fischer?«, fragte Schäringer und starrte das junge Muskelpaket ebenso finster an wie dieser ihn. Es war im Grunde keine Frage, sondern eher eine begründete Vermutung, denn wer anderes sollte an einem Werktag-Vormittag zu Hause sein als ein vom Unterricht suspendierter Schüler. Natürlich bedeutete eine Suspendierung nicht, dass er den ganzen Tag zu Hause sitzen und Däumchen drehen musste, aber vielleicht hatten ihn seine Eltern dazu verdonnert, die von der Beurlaubung alles andere als begeistert sein durften. Der junge Mann, der vor Schäringer und Baum stand, sah zwar älter aus als 19 Jahre, dennoch war Schäringer sich relativ sicher, dass sie die Person vor sich hatten, mit der sie sprechen wollten.

»Und wer will das wissen?«

»Schäringer, Kriminalpolizei«, stellte sich der Kriminalhauptkommissar der Mordkommission gewohnt knapp vor und präsentierte seinen Dienstausweis, sodass sein Gegenüber ihn problemlos lesen und das Foto erkennen konnte. Mit der freien Hand deutete er gleichzeitig in Baums Richtung. »Und das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Baum. Wir würden gern reinkommen und uns ein wenig mit Ihnen unterhalten, Herr Fischer.«

Heiko Fischer sah sich den Dienstausweis nur kurz an, bevor er das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzog. »Dann hat dieser Schwächling also doch die Bullen informiert. Ich glaub’s einfach nicht. Aber was hat denn die Kripo damit zu tun? So schlimm war die ganze Geschichte doch gar nicht.«

»Wie wäre es, wenn wir drin weiterreden, Herr Fischer?«, schlug Schäringer vor. »Muss ja nicht jeder in der Nachbarschaft mitbekommen, was wir zu besprechen haben, oder?«

Heiko Fischer sah die beiden Kriminalbeamten der Reihe nach an und überlegte.

Schäringer warf einen kurzen Blick zu Baum, der den jungen Mann noch feindseliger ansah, als dieser zuvor sie. Zweifellos lagen ihm die Titulierungen »Wichser«, »Knalltüten« und »Bullen« im Magen, verursachten ihm erhebliche Beschwerden und waren für den finsteren Ausdruck auf seinem Gesicht verantwortlich.

»Haben Sie denn einen Durchsuchungsbefehl?«

Schäringer seufzte und richtete den Blick wieder auf Fischer, der ihn frech angrinste, die Arme vor der Brust verschränkte, was seine Bizepse noch stärker anschwellen ließ, und sich betont lässig gegen den Türrahmen lehnte.

»Wenn du es darauf ankommen lassen willst, können wir uns im Handumdrehen einen besorgen, Arschloch!«, sagte Baum in seiner gewohnten diplomatischen Art. »Allerdings gibt uns ein Durchsuchungsbeschluss, wie schon der Name sagt, das Recht, das ganze Haus mit einem halben Dutzend Leuten von der Spurensicherung vom Dach bis in den Keller zu durchsuchen. Ich glaube nicht, dass du und vor allem deine Eltern das wirklich wollen. Also, was ist jetzt, Arnold? Willst du drin weiterreden oder uns in unser Büro begleiten?«

Während Baums kurzer Ansprache verzog sich Fischers Gesicht zunächst zu einer wütenden Grimasse, während er gleichzeitig die Hände zu Fäusten ballte, als wollte er gleich auf Schäringers Kollegen losgehen. Doch je mehr von Baums Worten seinen Verstand erreichten und dort entschlüsselt wurden, desto mehr entspannten sich sowohl seine Miene als auch seine großen Hände. Am Ende knurrte Fischer leise und sah nach rechts und nach links, ob einer der Nachbarn in der Nähe war und etwas von dem Gespräch mitbekommen hatte. Sichtlich zufrieden, dass es keine Zeugen dafür gab, dass er nachgeben musste, stieß er sich vom Türrahmen ab, nahm die Hände herunter, die längst keine Fäuste mehr waren, und trat einen Schritt zurück und zur Seite, um wie ein miesepetriger Türsteher den Durchgang freizugeben. »Okay, dann kommen Sie schon rein.« Der bisherige bösartige Tonfall war ebenso verschwunden wie das respektlose Duzen.

Schäringer betrat das Haus und marschierte durch den Flur geradeaus bis ins Wohnzimmer, das im Grunde nicht viel anders eingerichtet war als das der Kramers, in dem sie vor der Fahrt hierher gewesen waren. Die Möbel sahen lediglich ein bisschen anders aus und waren anders im Raum verteilt.

»Na also, warum nicht gleich so?«, sagte Baum, als er an Fischer vorbeiging, um seinem Kollegen zu folgen.

Der junge Mann schloss die Haustür und trottete auf Strumpfsocken hinter ihnen her. Er blieb in der offenen Tür stehen, verzichtete darauf, ihnen einen Platz anzubieten, und sah Schäringer an, den er vermutlich für den freundlicheren Polizisten und damit das kleinere Übel hielt. »Also, was wollen Sie von mir?« Obwohl er sich den Anschein gab, nicht wirklich eingeschüchtert zu sein, zeigten sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn und seinem erst kürzlich rasierten, rosigen Gesicht.

»Was glauben Sie denn, weswegen wir hier sind, Herr Fischer?«, fragte Schäringer. »Was dagegen, wenn wir uns setzen?« Er deutete mit fragendem Gesichtsausdruck auf das Ecksofa aus karamellfarbenem Leder.

Fischer schaute zunächst verwirrt, doch dann nickte er. Nachdem Schäringer auf dem schmaleren Teil Platz genommen hatte, sah der junge Mann fragend zu Baum, als wollte er ihm den Vortritt lassen, doch dieser schüttelte den Kopf.

»Ich stehe lieber. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.« Er wies auf die Couch.

Fischer gehorchte widerwillig. Seine ganze Feindseligkeit, die er zuvor geradezu versprüht hatte, war so spurlos verschwunden, als hätte sie nie existiert. Nun ähnelte er auch mehr dem 19-jährigen Gymnasiasten, der er tatsächlich war, und weniger dem muskelbepackten, coolen Typen, der er vermutlich gern sein wollte.

»Und?«, fragte Schäringer, nachdem Fischer sich auf den längeren Teil des Sofas so weit wie möglich von ihm weggesetzt hatte.

»Was und

»Ob Sie eine Ahnung haben, weswegen wir hier sind, würde ich gern von Ihnen wissen.«

Der junge Mann senkte den Blick und schaute auf seine Hände, die er in seinem Schoß unablässig knetete. Er leckte sich die Lippen, als wären sie trocken, bevor er antwortete: »Vermutlich sind Sie wegen Kramer hier, diesem kleinen, petzenden Scheißer.«

Schäringer nickte und fügte, da Fischer ihn nicht ansah, hinzu: »Das stimmt. Wir sind wegen Niklas Kramer hier. Was haben Sie mit ihm angestellt?«

»Angestellt?«

»Was haben Sie ihm angetan?«

»Angetan? Gar nix haben wir ihm angetan. Wir haben ihn nur ein bisschen geärgert.«

»Geärgert?«, fragte Baum so laut, dass Fischer ruckartig den Kopf hob und zu ihm hochsah. »Das, was du und deine Kumpel ihm angetan habt, bezeichnest du also verharmlosend als ärgern? Dann hast du wohl auch nichts dagegen, wenn ich dich mal ein bisschen ärgere, oder?«

»Na gut«, sagte der junge Mann und hob in einer Geste der Beschwichtigung die Hände. »Beim letzten Mal lief die Geschichte eben ein kleines bisschen aus dem Ruder. So was kommt vor. Andi hat das Ganze mit seinem Handy aufgenommen, um es ins Netz zu stellen. Deswegen sind wir vermutlich ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Aber wir haben’s nicht wirklich böse gemeint. Und außer an seiner Würde hat Kramer ja wohl keinen Schaden genommen.«

Baum schüttelte verständnislos den Kopf und verdrehte die Augen.

»Und was haben Sie nun genau mit ihm gemacht?«, fragte Schäringer.

Fischer sah wieder nach unten und runzelte die Stirn, während er nachdachte. Er hob die rechte Hand und kratzte sich am Hinterkopf. »Na ja, wir verriegelten die Tür zum Klo von innen, als er in der Pause mal musste. Dann schnappten wir ihn uns, als er nichtsahnend aus der Kabine kam, und wickelten ihm ungefähr eine halbe Rolle Klopapier um den Kopf. Mann, das war echt witzig.« Er hob den Blick und sah grinsend zu Schäringer. Als er dessen finstere Miene sah, bröckelte das Grinsen jedoch aus seinem Gesicht und machte einem betretenen Ausdruck Platz. »Also, damals, als wir’s machten, da fanden wir es schon irgendwie witzig. Und Andi hat alles mit seinem neuen iPhone gefilmt, das hatte er damals noch gar nicht so lange.«

»Und was soll daran bitteschön witzig sein, wenn man jemandem gegen seinen Willen Toilettenpapier um den Kopf wickelt?«, fragte Baum.

»Weiß nicht«, sagte Fischer, ohne den jüngeren Polizisten anzusehen. »Es war irgendwie situationsbedingt witzig.«

»Situationsbedingt«, wiederholte Baum spöttisch. »Wenigstens lernen die jungen Leute auf dem Gymnasium heutzutage, sich vernünftig auszudrücken, während sie ihre Mitschüler quälen.«

»Und was haben Sie und Ihre Freunde dann getan?«, fragte Schäringer, um zum Thema zurückzukommen.

»Hm! Also, nachdem wir seinen Kopf in Klopapier eingewickelt hatten, haben wir ihn in eine Kloschüssel gesteckt und gespült.«

»Was vermutlich auch situationsbedingt witzig war, nehme ich an«, sagte Baum.

Der junge Mann nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, als wäre er sich im Nachhinein nicht mehr so sicher, erwiderte aber sicherheitshalber nichts.

Schäringer erinnerte sich, dass Baum vorhin noch erzählt hatte, dass sie während seiner Schulzeit die größten Idioten der Klasse ebenfalls geärgert und gehänselt hatten. Allerdings schien ihm das, was die jungen Leute heute ihren Mitschülern antaten, entschieden zu weit zu gehen, sonst würde er hier vermutlich nicht den Oberinquisitor markieren.

»Und dann?«, fragte Schäringer.

Heiko Fischer zuckte noch einmal mit den Schultern, hob den Kopf und sah Schäringer an. »Nichts und dann. Wir ließen Kramer in der Toilettenkabine zurück und gingen in den Unterricht. Andi hatte ja alles mit dem Handy aufgenommen. Nach der Schule trafen wir uns hier bei mir und stellten das Video ins Netz.«

»Aber dann meldeten Niklas und sein Vater die Sache dem Direktor Ihrer Schule.«

Der junge Mann nickte mit verkniffener Miene. »Genau so war es. Wir mussten uns entschuldigen und unsere Kopie des Videos löschen. Außerdem wurden wir zur Strafe für zwei Wochen vom Unterricht suspendiert. Ab kommenden Montag dürfen wir wieder zur Schule gehen und am Unterricht teilnehmen. Meine Eltern sind fast ausgeflippt, als sie von der Suspendierung erfuhren, waren aber dann der Meinung, wir seien damit sogar noch glimpflich davongekommen. Deshalb verstehe ich nicht, warum dieser Wichser und sein bescheuerter alter Herr jetzt doch die Polizei eingeschaltet haben. Dabei hieß es am Anfang noch, man wolle uns nicht unsere Zukunft nehmen.«

»Wahrscheinlich wart ihr nach der Suspendierung gar nicht gut auf Niklas Kramer zu sprechen, habe ich recht?«, fragte Baum.

»Pffft!«, machte Heiko und hob die muskulösen Schultern. »Geliebt haben wir ihn ganz bestimmt nicht, nachdem er und sein Alter uns beim Direktor verpfiffen hatten, das ist schon mal sicher. Aber wie ich schon sagte, waren unsere Eltern der Ansicht, wir wären mit der Suspendierung noch gut weggekommen und es hätte auch schlimmer kommen können.«

»Haben Sie und Ihre Freunde Niklas seit dem Gespräch beim Direktor noch einmal getroffen?«, fragte Schäringer.

»Nein. Wir waren ja beurlaubt und seitdem nicht mehr in der Schule. Und privat hatten wir ohnehin keinen Kontakt. Außerdem beschlossen wir, ihn in Zukunft in Ruhe zu lassen und ihm besser gleich ganz aus dem Weg zu gehen. Wir wollen nicht noch mehr Ärger, als wir ohnehin schon haben.«

»Sie sagten, Sie mussten Ihre Kopie des Videos löschen.«

Heiko Fischer senkte den Blick auf seine Hände, die wieder in seinem Schoß lagen und sich umklammerten, und nickte.

»Haben Sie das auch tatsächlich getan?«

»Natürlich«, sagte der junge Mann, klang aber nicht sonderlich überzeugend. »Sie können ja meinen Vater fragen. Er war dabei, als ich die Datei gelöscht habe.«

»Und ihr hattet natürlich auch überhaupt keine anderen Kopien, nicht wahr?«, sagte Baum.

Heiko schüttelte den Kopf. »Nö.«

»Vielleicht sollten wir uns doch einen Durchsuchungsbeschluss besorgen und seinen Computer beschlagnahmen lassen, damit die Festplatte im Labor unter die Lupe genommen werden kann«, sagte Baum zu Schäringer. »Was hältst du davon, Franz? Ich glaub nämlich, dass dieser muskelbepackte Dünnbrettbohrer uns hier dreist ins Gesicht lügt und wir sehr wohl eine weitere Kopie des Videos finden werden, wenn wir nur gründlich genug danach suchen. Und wer weiß, was wir dabei noch alles entdecken. Wahrscheinlich hat er jede Menge Musikdateien und Kinofilme, die er illegal heruntergeladen und gespeichert hat.«

Bevor Schäringer antworten konnte, hob Fischer den Blick, sah Baum wütend an und sagte: »Und ich sollte vielleicht gar nicht mehr länger mit Ihnen reden. Dazu bin ich nämlich nicht verpflichtet. Was würden Sie also dazu sagen, wenn ich mich, falls überhaupt, erst wieder im Beisein eines Anwalts mit Ihnen unterhalte?«

»Das ist natürlich Ihr gutes Recht, Herr Fischer«, sagte Schäringer. »Ich würde es Ihnen allerdings nicht empfehlen.«

»Und wieso nicht?«

»Weil dies hier bislang nur ein inoffizielles Vorgespräch zwischen Ihnen und uns ist, dessen Wortlaut in keiner Akte auftauchen wird. Denn wie Sie sehen, machen wir uns keine Notizen und nehmen unsere Unterhaltung auch nicht auf Band auf. Sollten Sie allerdings darauf bestehen, nur im Beisein eines Verteidigers mit uns zu sprechen, könnte das natürlich nur im Rahmen einer offiziellen Zeugenbefragung geschehen. In dem Fall könnte ich Ihnen natürlich auch nicht garantieren, dass niemand vom Inhalt dieser Einvernahme Kenntnis erlangt. Möglicherweise würde das, was Sie mit Niklas Kramer gemacht haben, sogar vor Gericht zur Sprache kommen und damit öffentlich bekannt werden.«

»Wollen Sie mir etwa drohen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?«

Schäringer schüttelte den Kopf. »Nein, so etwas würde ich nie tun. Ich möchte Ihnen nur die möglichen Konsequenzen darlegen, falls Sie sich weigern sollten, mit uns zu kooperieren.«

Fischer musste an Schäringers Gesicht abgelesen haben, dass dieser tatsächlich meinte, was er sagte, denn nach einem Augenblick des Nachdenkens nickte er und sagte: »Okay, okay, ich geb’s ja zu. Ich hab noch eine Kopie des Videos auf der Festplatte meines Rechners.«

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