Kitabı oku: «Das Geheimnis der gelben Narzissen», sayfa 3

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Kapitel 5

»Die Londoner Polizeibehörden stehen einem sonderbaren Mord gegenüber, den so merkwürdige Nebenumstände begleiten, daß es nicht übertrieben wäre, dieses Verbrechen als das Geheimnis dieses Jahrhunderts zu bezeichnen. Eine bekannte Erscheinung der Londoner Gesellschaft, Mr. Thornton Lyne, der Chef eines großen Warenhauses, ein nicht unbedeutender Dichter, ein Millionär, der wegen seiner menschenfreundlichen Bestrebungen allgemein bekannt ist, wurde heute in den frühen Morgenstunden in einer Lage aufgefunden, die nicht den geringsten Zweifel darüber läßt, daß er ermordet wurde.

Heute morgen um halb sechs kam Thomas Savage, ein Maurer, auf seinem Weg durch den Hydepark und sah eine Gestalt in der Nähe des Fahrweges liegen. Er eilte hin und entdeckte, daß der Mann schon mehrere Stunden tot sein mußte. Der Tote hatte weder Rock noch Weste an, aber um seine Brust war ein seidenes Kleidungsstück geschlungen, offenbar um die stark blutende Wunde in der linken Seite zu stillen. Die Hände waren auf der Brust gekreuzt.

Am merkwürdigsten ist aber, daß der Mörder die Le iche in dieser besonderen Stellung hingelegt haben muß. Auf der Brust des Toten fand sich auch noch ein Strauß gelber Narzissen. Die Polizei war bald zur Stelle, und nachdem die nötigen Feststellungen gemacht waren, wurde die Leiche entfernt. Die Beamten sind der Ansicht, daß der Mord nicht im Hydepark begangen wurde, sondern daß der Unglückliche an einem anderen Ort getötet und in seinem eigenen Auto in den Park gebracht wurde, denn sein Wagen stand verlassen etwa hundert Meter von dem Fundort. Wie wir hörten, ist die Polizei auf einer sehr wichtigen Spur, und eine Verhaftung steht unmittelbar bevor.«

Mr. J. O. Tarling, früher Mitglied der Geheimpolizei in Schanghai, las diesen kurzen Bericht und wurde sehr nachdenklich.

Lyne war ermordet worden! Es war ein ungewöhnlicher Zufall, daß er gerade vor einigen Tagen mit diesem jungen Mann in Berührung gekommen war.

Tarling selbst wußte eigentlich nichts von Lynes Privatleben. Er vermutete nur nach dem, was er von dessen kurzem Aufenthalt in Schanghai erfahren hatte, daß manche seiner Erlebnisse dunkel waren. Er erinnerte sich jetzt schwach an eine Skandalgeschichte, die mit Lynes Namen verknüpft war, und suchte sich nun wieder alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Er legte die Zeitung nieder. Es tat ihm in diesem Augenblick leid, daß er nicht Beamter von Scotland Yard war. Das wäre ein wunderbarer Fall für ihn gewesen. Hier war ein Geheimnis, für das sich die Öffentlichkeit in hohem Maße interessieren würde und das aufzuklären sich sicher lohnte!

Seine Gedanken wanderten zu Odette Rider. Was würde sie dazu sagen? Gewiß würden sie Entsetzen und Schrecken über diese Untat packen. Es war ihm sehr peinlich, als er daran dachte, daß man sie, wenn auch nur indirekt und entfernt, mit dieser öffentlichen Skandalgeschichte in Verbindung bringen könnte. Wahrscheinlich würden die Zeitungen ihren Namen erwähnen und die Tatsache berichten, daß sie mit dem Toten einen Streit gehabt hatte.

»Ganz unmöglich«, sagte er halblaut vor sich hin. Er ging schnell zur Tür und rief Ling Chu.

Der Chinese kam sofort schweigend herein.

»Höre, der Mann mit dem weißen Gesicht ist tot.«

Ling Chu sah seinen Herrn ruhig an.

»Alle Menschen sterben einmal!« sagte er mit gelassener Stimme. »Dieser Mann starb schnell, das ist besser als langsam sterben.«

»Woher weißt du, daß er schnell gestorben ist?«

»Man spricht über diese Dinge«, sagte Ling Chu, ohne zu zögern.

»Aber die Leute sprechen hier nicht chinesisch«, erwiderte Tarling, »und du sprichst doch nicht englisch.«

»Ich spreche doch ein wenig, Herr«, entgegnete Ling Chu, »und ich habe gehört, wie sich die Leute auf der Straße darüber unterhielten.«

»Ling Chu«, sagte Tarling nach einer Pause, »dieser Mann kam nach Schanghai, während wir dort waren, und damals gab es einen großen Skandal. Einmal wurde er doch aus Wing Fus Teehaus hinausgeworfen, wo er Opium geraucht hatte. Es gab eine Aufregung seinetwegen erinnerst du dich daran?«

Der Chinese sah ihm gerade in die Augen.

»Ich habe es vergessen«, antwortete er. »Dieser Mann war ein schlechter Mensch. Ich freue mich, daß er tot ist!«

»Hm!« sagte Tarling und entließ Ling Chu mit einem kurzen Nicken.

Dieser Chinese war der schlaueste aller seiner Spürhunde. Wenn er erst einmal auf eine Fährte gesetzt war, folgte er unweigerlich jedem Verbrecher. Dabei war er einer der anhänglichsten undtreuesten von Tarlings Dienern. Aber noch niemals hatte der Detektiv Ling Chus Gedanken so weit ergründet, daß er den Schleier hätte lüften können, mit dem die Eingeborenen ihre eigenen Gefühle und Gedanken verhüllen. Selbst einheimische Verbrecher waren erstaunt über Ling Chus Fähigkeiten, und mancher Mann war sich auf seinem Weg zum Schafott nicht klar darüber, wie es Ling Chu gelunge n war, sein Verbrechen aufzudecken.

Tarling ging zum Tisch zurück und nahm die Zeitung auf, aber kaum hatte er wieder zu lesen begonnen, als das Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab und erkannte zu seinem Erstaunen die Stimme Cresswells, des Polizeioberinspektors, auf dessen Rat hin er nach England gekommen war.

»Würden Sie so liebenswürdig sein und mich gleich in der Direktion aufsuchen? Ich möchte mit Ihnen über die Ermordung Lynes sprechen.«

»Ich bin in einigen Minuten bei Ihnen«, erwiderte Tarling.

Als er kurz darauf nach Scotland Yard kam, wurde er sofort in das Büro Cresswells geführt. Der weißhaarige Herr erhob sich und ging ihm mit einem befriedigten Lächeln entgegen.

»Ich werde Sie mit der Aufklärung der Sache betrauen lassen, Tarling«, sagte er. »Es sind verschiedene Begleitumstände mit diesem Mord verbunden, die unsere hiesige Polizei nicht versteht, und es ist ja schließlich nicht ungewöhnlich, daß Scotland Yard auswärtige Hilfe zu Rate zieht, besonders wenn es sich um ein Verbrechen wie das vorliegende handelt. Die Tatsachen sind Ihnen ja bekannt.« Er öffnete eine dünne Aktenmappe.

»Hier sind alle dienstlichen Berichte, Sie können sie durchlesen. Thornton Lyne war, um es gelinde auszudrücken, etwas exzentrisch veranlagt. Er hatte manche unliebsame Bekanntschaften, darunter auch einen ausgesprochenen Verbrecher, einen Sträfling, der erst vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen wurde.«

»Das ist ja merkwürdig«, erwiderte Tarling und zog die Augenbrauen hoch. »Was hatte er mit diesem Mann zu tun?«

Cresswell zuckte die Schultern.

»Meiner Ansicht nach wollte er nur mit ihm renommieren. Er hatte es gern, wenn man über diesen außergewöhnlichen Fall sprach. Es gab ihm ein besonderes Ansehen bei seinen Freunden.«

»Wer ist dieser Sträfling?«

»Sam Stay, ein Dieb und Einbrecher, ein viel gefährlicherer Bursche, als die Polizeibehörde im allgemeinen annimmt.«

»Glauben Sie denn, daß er -«, begann Tarling.

»Wir können ihn sicher ruhig von der Liste der Leute streichen, die im Verdacht stehen, diesen Mord begangen zu haben. Sam Stay hat zwar wenig Eigenschaften, durch die er sich zu seinem Vorteil vor anderen auszeichnet, aber zweifellos war er Lyne sehr ergeben. Als der Detektiv, der die ersten Erkundigungen einzog, nach Lambeth ging, ihn zu verhören, fand er ihn der Länge nach auf seinem Bett liegen, neben sich eine Zeitung, mit dem Bericht über den Mord. Er war ganz außer sich vor Schmerz und drohte mit wilden Flüchen, daß er den Täter fassen würde. Lyne war in seinen Augen mehr als ein gewöhnlicher Mensch, und ich kann mir vorstellen, daß die einzige edle Regung in seinem Leben die Zuneigung zu diesem Mann war, der ihn gut behandelt hatte. Es mag dahingestellt sein, ob das die richtige und empfehlenswerte Art der Fürsorge für andere Menschen ist. Ich will Ihnen nun ein paar Tatsache n erzählen.« Cresswell lehnte sich in seinen Stuhl zurück »Sie wissen doch, daß um Lynes Brust ein seidenes Nachthemd geschlungen war?« Tarling nickte.

»Aber darunter fanden sich noch zwei zusammengebauschte Taschentücher, die offenbar das Blut stillen sollten. Der Größe nach waren es Damentaschentücher. Wir müssen also annehmen, daß eine Frau in die Sache verwickelt ist.« Tarling nickte nachdenklich.

»Nun noch eine andere merkwürdige Tatsache, die glücklicherweise der Aufmerksamkeit derer entgangen ist, die die Leiche zuerst fanden und den Zeitungsberichterstattern die ersten Nachrichten übermittelten. Lyne trug, obgleich er vollkommen bekleidet war, ein Paar dicke Filzpantoffeln. Wir haben festgestellt, daß er sie sich gestern abend aus seinem Geschäft kommen ließ. Einer seiner Angestellten mußte sie ihm bringen. Lynes Schuhe wurden in seinem Auto gefunden, das in einiger Entfernung vom Fundort stand. -Viertens möchte ich Ihnen mitteilen -und das ist auch der Grund, warum ich Sie zu der Aufklärung des Falles zugezogen habe -, daß Rock und Weste ebenfalls in blutbeflecktem Zustand in seinem Wagen entdeckt wurden. In der rechten Westentasche fand man dies.« Cresswell hatte die letzten Worte langsam und nachdrücklich gesprochen und nahm jetzt aus seiner Schublade ein kleines quadratisches rotes Papier und überreichte es dem Detektiv.

Tarling nahm es in die Hand und starrte darauf. In dicken schwarzen Strichen standen vier chinesische Schriftzeichen darauf. ›tzu chao fan nao‹ -›Er hat es sich selbst zuzuschreiben. ‹

Kapitel 6

Die beiden sahen sich schweigend an.

»Nun?« fragte Cresswell schließlich.

Tarling schüttelte verwundert den Kopf.

»Das ist sonderbar.« Er schaute wieder auf das kleine Papier, das er in der Hand hielt.

»Sie verstehen jetzt, warum ich Sie zugezogen habe. Wenn die Sache irgendwie mit China zu tun hat, so weiß niemand besser Bescheid damit als Sie. Ich habe mir die Schrift übersetzen lassen. Sie heißt: Er hat es sich selbst zuzuschreiben.«

»Aber Sie haben vielleicht etwas übersehen. Wenn Sie das Papier genauer betrachten, werden Sie erkennen, daß es nicht beschrieben, sondern bedruckt ist.«

Er reichte das kleine Blatt zurück, und Cresswell besichtigte es eingehend.

»Sie haben recht«, sagte er erstaunt, »das habe ich ganz übersehen. Haben Sie denn früher schon solche Papiere in der Hand gehabt?«

»Vor einigen Jahren, als wir eine Unmenge von Verbrechen in Schanghai hatten. Die meisten wurden von einer Bande ausgeführt, die unter der Führung eines bekannten Verbrechers stand. Ich konnte ihn abfassen, und er wurde auf Grund meiner Angaben hingerichtet. Die Verbrecherbande führte den Namen ›die freudigen Herzen‹. Sie wissen vielleicht, daß die chinesischen Räuberbanden meistens phantastische Namen führen. Sie hatten die Angewohnheit, auf dem Schauplatz ihrer Tätigkeit stets ihr Zeichen, ich möchte fast sagen ihre Visitenkarte, zurückzulassen. Es waren ebensolche roten Papiere wie dieses. Nur waren die Buchstaben mit der Hand geschrieben. Diese Papierzettel wurden als Kuriositäten gekauft, und manche Leute haben hohe Preise dafür bezahlt, bis ein unternehmender Chinese sie schließlich drucken ließ, so daß man sie, ebenso wie Ansichtskarten, in jedem Papierladen in Schanghai kaufen konnte. Ich habe selbst seinerzeit einige davon erstanden.«

»Ich verstehe«, sagte Cresswell. »Das ist auch ein solches Papier?«

»Ja, aber wie es hierhergekommen ist, mag der Himmel wissen. Es ist jedenfalls eine ganz bedeutsame Entdeckung.«

Cresswell ging zu einem Schrank, schloß ihn auf und nahm einen kleinen Koffer heraus, den er auf den Tisch setzte und öffnete.

»Nun sehen Sie sich dies noch an, Tarling.«

Er zeigte ihm ein blutbeflecktes Kleidungsstück. Tarling sah sofort, daß es ein Nachthemd war. Er nahm es in die Hand und betrachtete es sorgfältig. Das weißseidene Gewand trug mit Ausnahme zweier kleiner Vergißmeinnichtzweige keinerlei Spitzen oder Verzierungen.

»Es war, wie Sie wissen, um seine Brust geschlungen. Hier sind auch die beiden Taschentücher.« Er deutete auf zwei kleine Tücher, die so mit Blut befleckt waren, daß man sie kaum als solche erkennen konnte.

Tarling hob das dünne Gewand auf und nahm es näher zum Fenster.

»Hat man die Zeichen einer Waschanstalt darin gefunden?«

»Nein.«

»Auch nicht an den Taschentüchern?«

»Nein.«

»Die Stücke gehören also einer jungen Dame, die allein lebt«, sagte Tarling. »Sie besitzt zwar keine großen Geldmittel, aber sie hat einen guten Geschmack und liebt Wäsche von besonderer Qualität, jedoch nicht übertrieben luxuriös.«

»Woher wissen Sie denn das alles?« fragte der Polizeibeamte erstaunt.

Tarling lachte.

»Aus der Tatsache, daß keinerlei Zeichen von Waschanstalten vorhanden sind, kann man schließen, daß sie ihre seidene Wäsche zu Hause behandelt, vermutlich auch ihre Taschentücher. Hieraus geht für mich hervor, daß sie mit den Glücksgütern dieser Welt nicht sehr gesegnet ist. Da sie aber seidene Nachthemden und Taschentücher aus feinstem Leinen besitzt, haben wir es vermutlich mit einer Dame zu tun, die guten Geschmack und Sinn für Qualität hat. Haben Sie noch andere Entdeckungen gemacht, aus denen man Schlußfolgerungen ziehen könnte?«

»Wir haben nur herausgebracht, daß Mr. Lyne ein ernstes Zerwürfnis mit einer Angestellten, einer Miss Odette Rider, hatte -«

Tarling holte tief Atem. Er mußte über sich selbst lächeln, daß er sich so sehr für diese Dame interessierte, die er nicht länger als eine Viertelstunde gesprochen hatte und die ihm noch vor einer Woche vollständig unbekannt war. Aber irgendwie hatte das Mädchen doch einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht, als er zugab. Dieser Mann, dessen Lebenszweck es war, Verbrecher und Verbrechen aufzuspüren, hatte wenig Zeit gefunden, sich mit Frauen zu beschäftigen. Aber Odette Rider hatte ihm sofort gefallen.

»Zufällig weiß ich auch von diesem Streit, ich kenne sogar seine Ursache.« Tarling erzählte dem Beamten kurz, unter welchen Umständen er Thornton Lyne vor einigen Tagen gesehen hatte. »Was haben Sie gegen sie?«

Er gab sich den Anschein einer Gleichgültigkeit, die er in keiner Weise fühlte.

»Ich habe nichts Bestimmtes gegen sie«, erwiderte Cresswell. »Sie wird nur von Sam Stay schwer belastet. Und wenn er sie auch nicht direkt des Mordes beschuldigt, deutete er doch an, daß sie in gewisser Weise dafür verantwortlich zu machen wäre. Aber er hat nichts Genaueres angegeben. Zuerst war ich sehr überrascht, daß er überhaupt etwas von dem Mädchen wußte, aber ich möchte jetzt fast annehmen, daß Thornton Lyne diesen Mann ins Vertrauen zog.«

»Was halten Sie denn von Sam Stay selbst?« fragte Tarling. »Kann er denn nachweisen, wo er sich letzte Nacht und heute morgen aufgehalten hat?«.

»Er hat ausgesagt, daß er Mr. Lyne um neun Uhr in seiner Wohnung aufsuchte und daß ihm dieser in Gegenwart seines Hausmeisters fünf Pfund gab. Dann hat er die Wohnung verlassen und ist zu seinem eigenen Quartier in Lambeth gegangen, wo er sich sehr bald zu Bett legte. Alle unsere Nachforschungen haben bisher seine Aussagen bestätigt. Wir haben Lynes Hausmeister verhört, und dessen Angaben stimmen mit Stays überein. Stay ging fünf Minuten nach neun von Lynes Wohnung fort, und genau eine halbe Stunde später verließ Lyne selbst das Haus. Er fuhr allein in seinem kleinen Zweisitzer und sagte dem Hausmeister, daß er zum Klub fahren wollte.« »Wie war er denn gekleidet?«

»Ja, das ist sehr wichtig. Bis neun Uhr war er im Gesellschaftsanzug. Nachdem Stay gegangen war, zog er sich plötzlich den Anzug an, in dem man ihn tot auffand. Daraus lassen sich recht interessante Schlüsse ziehen.« Tarling kniff die Lippen ein.

»Man sollte eigentlich nicht meinen, daß er seinen Smoking gegen einen Straßenanzug tauschte, wenn er die Absicht hatte, in den Klub zu gehen.«

Kurz darauf verließ Tarling das Polizeipräsidium. Alle diese Nachrichten hatten ihn etwas verwirrt. Sein erster Gang war zur Edgware Road, wo Odette Rider wohnte. Er traf sie nicht zu Hause an, und der Portier erzählte ihm, daß sie schon seit dem Nachmittag des vorigen Tages nicht mehr zu Hause gewesen sei. Sie hatte ihm den Auftrag gegeben, ihre Briefe nach Hertford nachzusenden und hatte ihm ihre dortige Adresse gegeben. ›Hillington Grove, Hertford.‹

Tarling war beunruhigt. Es war eigentlich kein Grund dazu vorhanden, wie er sich selbst sagte, aber er konnte sich doch davon nicht freimachen. Obendrein war er auch ein wenig befriedigt. Er fühlte, daß er das junge Mädchen nach einer kurzen Aussprache sofort von dem Verdacht hätte befreien können, in den sie durch die Umstände gekommen war. Sie war also nicht zu Hause. Daß sie gerade an dem Abend verschwunden war, an dem Lyne ermordet wurde, genügte, wie er sehr wohl wußte, um die Polizei auf ihre Spur zu hetzen.

»Können Sie mir vielleicht sagen, ob Miss Rider Verwandte oder Freunde in Hertford hat?« fragte er den Portier. »Jawohl, Sir, ihre Mutter wohnt dort.«

Tarling wollte schon gehen, als der Mann noch eine Bemerkung machte, die ihm wieder den Mord mit all seinen grausigen Einzelheiten zum Bewußtsein brachte und ihn aufs neue heftig beunruhigte.

»Ich bin froh, daß Miss Rider vorige Nacht nicht zu Hause war - die Nachbarn haben sich sehr beklagt.«

»Worüber denn?« fragte Tarling, aber der Mann zögerte mit der Antwort.

»Sind Sie ein Freund der jungen Dame?«

Tarling nickte.

»Daraus sieht man wieder einmal«, sagte der Portier vertraulich zu ihm, »wie oft Leute wegen irgendwelcher Sachen beschuldigt werden, mit denen sie gar nichts zu tun haben. Der Mieter in der anliegenden Wohnung ist ein wenig wunderlich. Er ist Musiker und beinahe taub. Wenn das nicht so wäre, hätte er nicht behauptet, daß er ihretwegen mitten in der Nacht aufwachte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war draußen auf der Straße Lärm.«

»Was will er denn gehört haben?« fragte Tarling schnell, aber der Portier lachte.

»Denken Sie, einen Schuß! Außerdem einen Schrei wie von einer Frau - davon wachte er auf. Man könnte me inen, er hätte das alles nur geträumt, aber ein anderer Herr, der auch im Zwischengeschoß wohnt, hat dieselben Wahrnehmungen gemacht. Und das merkwürdigste ist, daß beide der Meinung sind, daß die Geräusche aus der Wohnung von Miss Rider kamen.«

»Um welche Zeit war denn das?«

»Die Leute behaupten, daß es ungefähr um Mitternacht war, aber das ist doch unmöglich, denn Miss Rider war ja gar nicht zu Hause und ihre Wohnung ist unbenutzt.«

Tarling mußte über diese bestürzende neue Nachricht nachdenken, als er mit der Eisenbahn nach Hertford fuhr. Er war fest entschlossen, Odette zu warnen. Zwar war er sich darüber klar, daß es nicht seine Pflicht war, jemand noch besonders zu warnen, der eines Verbrechens verdächtigt wurde. Sein Verhalten war ungewöhnlich und widersprach jeder Gewohnheit, aber das kümmerte ihn wenig.

Er hatte seine Fahrkarte gelöst und ging gerade über den Bahnsteig, als er einen Bekannten aus dem Zug, der eben eingefahren war, eilen sah. Offenbar hatte der Betreffende ihn schon vorher erkannt, denn er wandte sich plötzlich zur Seite und wäre im Gedränge verschwunden, wenn ihn nicht der Detektiv zur rechten Zeit eingeholt hätte.

»Hallo, Mr. Milburgh, Sie sind es doch, wenn ich nicht irre?« Der Geschäftsführer wandte sich um, rieb sich die Hände und lächelte wie gewöhnlich.

»Das ist ja Mr. Tarling, der Detektiv. Eine schreckliche Katastrophe! Wie furchtbar für alle, die davon betroffen werden.«

»Das traurige Ereignis hat sicher das ganze Warenhaus in Aufruhr gebracht.«

»Ach ja«, sagte Milburgh mit gebrochener Stimme. »Wir halten das Geschäft heute geschlossen. Es ist entsetzlich -es ist der grauenhafteste Vorfall, auf den ich mich besinnen kann. Hat man denn schon irgendeinen Verdacht, wer der Täter sein könnte?« Tarling schüttelte den Kopf.

»Es ist eine ganz geheimnisvolle Sache, Mr. Milburgh. Hat Lyne eigentlich für den Fall seines Todes bestimmt, wer dann die Geschäfte führen sollte?«

Milburgh zögerte und schien nur ungern zu antworten. »Ich führe die Geschäfte natürlich«, sagte er dann, »genau wie damals, als Mr. Lyne seine Weltreise machte. Ich habe auch schon von Mr. Lynes Rechtsanwälten eine Vollmacht erhalten, die Geschäfte weiterzuführen, bis das Gericht einen Treuhänder ernennt.«

Tarling sah ihn scharf an.

»Welchen Einfluß hat denn Lynes Tod auf Ihre persönlichen Verhältnisse?« fragte er schroff. »Verbessert oder verschlechtert sich dadurch Ihre Stellung?«

»Leider verbessert sie sich, denn ich habe größere Machtvollkommenheit und natürlich auch größere Pflichten. Ich wünschte, ich wäre nie in diese Lage gekommen, Mr. Tarling.«

»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte der Detektiv und erinnerte sich an Lynes Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Mannes.

Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen verabschiedeten sie sich.

Auf der Fahrt nach Hertford mußte Tarling dauernd über diesen Mann nachdenken. Milburgh war in mancher Beziehung zweifelhaft, und es fehlten ihm gewisse Eigenschaften, die ein ehrlicher Geschäftsmann unter allen Umständen besitzen muß.

In Hertford stieg Tarling in ein Auto und nannte dem Chauffeur seine Adresse.

»Hillington Grove? Das sind über zwei Meilen«, meinte der Fahrer. »Sie wollen sicher zu Mrs. Rider?«

Tarling nickte.

»Sind Sie nicht mit der jungen Dame gekommen, die auch zu Besuch erwartet wird? «

»Nein«, antwortete Tarling erstaunt.

»Mir ist nämlich gesagt worden, ich sollte am Bahnhof nach ihr Umschau halten«, erklärte der Chauffeur.

Noch eine weitere Überraschung erwartete den Detektiv. Er hatte sich Hillington Grove trotz des großartigen Namens als ein kleines Häuschen vorgestellt und war sehr erstaunt, als der Chauffeur in ein großes, hohes Parktor einbog, einen breiten langen Fahrweg entlangfuhr und dann auf einem mit Schotter bestreuten Platz vor einem großen schönen Gebäude hielt. Er hatte nicht vermuten können, daß die Eltern einer Angestellten der Firma Lyne so vornehm wohnten. Sein Erstaunen wuchs noch mehr, als die Haustür von einem livrierten Diener geöffnet wurde.

Tarling wurde in ein Wohnzimmer geführt, das geschmackvoll und künstlerisch ausgestattet war. Er war fest davon überzeugt, daß ein Irrtum vorliegen müßte, und dachte sich eben eine Entschuldigung aus, als sich die Tür öffnete und eine Dame eintrat.

Sie mochte Ende der Dreißig sein, aber sie war noch sehr schön und hatte das Auftreten einer Dame der Gesellschaft. Sie war äußerst liebenswürdig zu Tarling, aber er glaubte doch, eine gewisse Ängstlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck wahrzunehmen.

»Ich fürchte, mir ist ein Irrtum unterlaufen«, begann er. »Ich wollte nämlich Miss Odette Rider sprechen -«

Zu seinem größten Erstaunen nickte die Dame. »Sie ist meine Tochter. Haben Sie irgendwelche Nachrichten von ihr? Ich bin sehr besorgt um sie.«

»Sie sind besorgt um sie?« fragte Tarling schnell. »Ist irgend etwas geschehen? Ist sie denn nicht hier?«

»Nein, sie ist nicht hier, sie ist nicht gekommen.«

»Aber war sie denn vorher nicht hier? Ist sie nicht schon gestern abend hier angekommen?«

Mrs. Rider schüttelte den Kopf.

»Nein, sie war nicht hier. Sie hatte mir versprochen, einige Tage bei mir zu verbringen, aber gestern abend erhielt ich ein Telegramm -warten Sie einen Augenblick, ich will es Ihnen gleich holen.«

Sie blieb nur kurze Zeit fort und kam mit einem braungelben Formular zurück, das sie dem Detektiv übergab. Er las:

Ich habe meinen Besuch aufgegeben, schreibe nicht an meine Wohnung. Ich werde dir Nachricht zukommen lassen, sobald ich meinen Bestimmungsort erreicht habe. Odette.

Das Telegramm war auf der Hauptpost in London aufgegeben und trug den Aufgabestempel von neun Uhr abends -also drei Stunden früher, als nach allgemeiner Ansicht der Mord begangen wurde.

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