Kitabı oku: «Tatzeit Weihnachten», sayfa 3
Reise nach Marrakesch
Das Flüstern des Morgengrauens
Weihnachten im Maghreb. Das hatte sehr verlockend geklungen. Seit Stefan am postmodernen Flughafen von Marrakesch den Flieger verlassen hatte, hielt er es für keine so gute Idee mehr, die Feiertage in Marokko zu verbringen.
All das Tohuwabohu am Aeroport Marrakech-Menara, die lange Schlange vor der Passkontrolle und die Feilscherei mit den Taxifahrern, die horrende Preise für die kurze Fahrt in die Stadt verlangten, waren ihm zuwider. Er hasste es zu feilschen, schaffte es mit Müh und Not, einen der Fahrer auf zwanzig Euro herunterzuhandeln, obwohl sein Freund Michael gesagt hatte, das ein Taxi vom Flughafen in die Stadt höchstens zehn Euro kosten dürfe.
Stefan hatte sich von Michael dazu überreden lassen, die schlimmste Zeit des Jahres in Marokko zu verbringen. Sein Freund war Maler. Auf seine alten Tage hatte er sich als schwul geoutet. Er lebte nun mit einem jungen Marokkaner zusammen in Essaouira, einer Hafenstadt am Atlantik, in der Nähe von Diabat, wo Jimmy Hendrix einige Zeit verbracht hatte.
Michael liebte es, den großzügigen Gastgeber zu spielen. Bestimmt hatte er auch andere Leute eingeladen. Stefan war sich nicht sicher, ob er ihn besuchen würde. Seit er wusste, dass Michael schwul war, fühlte er sich in seiner Gesellschaft und vor allem in der Gesellschaft seiner neuen Freunde ein wenig unbehaglich.
Michaels Einladung, die ganze Zeit bei ihm in seinem Riad zu wohnen, hatte er abgelehnt. Michaels ständige Fröhlichkeit, sein »Don’t worry, be happy«-Getue ging ihm schwer auf den Keks. Allerdings hatte er versprochen, zu Silvester bei ihm vorbeizuschauen. Vorher wollte er das geheimnisvolle Marrakesch sehen und die Stimmen von Marrakesch hören.
Im Taxi gewann er einen ersten Eindruck von dieser Millionenstadt, über der eine dicke Smogwolke hing. Nichts als Lärm und fürchterlicher Gestank nach Abgasen, der ihm den Atem raubte. Alle Fenster des Taxis waren offen. Es zog wie in einem Vogelhaus. Seine Versuche, den Fahrer auf Französisch dazu zu bewegen, die Fenster wenigstens auf einer Seite zu schließen, waren vergeblich. Der Typ fuhr noch dazu wie ein Verrückter, überholte fast jeden Wagen, hupte permanent und überschritt sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Die Sonne schien, die Außentemperatur bewegte sich um die achtundzwanzig Grad, wie er einer digitalen Anzeige am Straßenrand entnahm. So wie viele Schriftsteller hasste er die Hitze. An heißen Tagen konnte man unmöglich schreiben.
Was für eine Schnapsidee, sich von seinem ehemaligen Jugendfreund dazu überreden zu lassen, heuer Weihnachten und Silvester in Marokko zu verbringen! Ein bisschen Morgenlandluft schnuppern würde ihn sofort von seiner Schreibhemmung befreien, hatte Michael gemeint. Und er hatte ihm geglaubt.
Die modernen Vororte, die erst vor kurzem aus dem Wüstenboden gestampft worden waren, interessierten ihn ebenso wenig wie das mondäne Viertel Hivernage mit den luxuriösen Villen, die man hinter den hohen Mauern oder begrünten Zäunen nur erahnen konnte. Die Rolling Stones hatten auf ihren Trips nach Marrakesch meist hier genächtigt, erklärte ihm sein Fahrer, während er mit achtzig Sachen einen schwarzen SUV schnitt. Der alte kleine Ford klapperte so laut, dass Stefan fürchtete, er werde jeden Moment in tausend Teile zerfallen.
Marrakesch, die Stadt mit ihren rosafarbenen Mauern aus gestampftem Lehm, den mit violetten Bougainvilleen bedeckten Häuserwänden und all den Orangenbäumen in den Vorgärten, konnte ihm gestohlen bleiben, das war ihm bereits nach der ersten halben Stunde in dieser Märchenstadt klar. Nicht einmal die verschneiten Gipfel des Hohen Atlas unter dem leuchtend blauen Himmel, die Michael so faszinierten, begeisterten ihn. Stefan war zwar ein leidenschaftlicher Berggeher, der die Einsamkeit in den österreichischen Alpen liebte, doch diese Postkartenidylle hier war ihm nicht geheuer. Das orientalische Tingeltangel, das er dann auf der kurzen Fahrt in die Medina mitbekam, erfreute vielleicht die kindliche Seele seines schwulen Freundes, aber einen gestandenen Mann und ernsthaften Autor wie ihn stieß es eher ab.
Das kleine Riad-Hotel, das ihm Michael empfohlen hatte, befand sich in einer düsteren, schmutzigen Gasse, unweit des Djemaa el Fna, der Grande Place, wie die Franzosen diesen riesigen Marktplatz nannten. Der Fahrer konnte nicht bis zum Haus vorfahren. Mehrere Gepäckträger mit ihren verdreckten Karren stürzten sich auf Stefan, als er aus dem Taxi stieg.
Da er keine Lust hatte, seinen schweren Koffer selber hinter sich herzuziehen, nahm er das billigste Angebot an, ohne den alten Mann weiter herunterzuhandeln.
Als sich herausstellte, dass es nur zehn Meter bis zu seinem Hotel waren, verfluchte er seine Kurzsichtigkeit oder, besser gesagt, seine Eitelkeit. Hätte er seine Brille aufgesetzt, würde er vielleicht das kleine Schild des Hotels gesehen haben. Wieder fünf Euro in den Wind gesetzt. Diese Reise begann ja bestens!
Anstatt des Doppelzimmers mit Terrasse und Ausblick, das er übers Internet gebucht hatte, bekam er ein winziges Zimmer im ersten Stock mit Blick auf die laute Gasse. Das Bad war so eng, dass er sich in der von Schimmel befallenen Dusche kaum würde umdrehen können, obwohl er nicht wirklich dick war. Sein Bauch war mittlerweile etwas angewachsen, was weniger an seinem Essverhalten als an seinem Alkoholgenuss lag, aber seine Gliedmaßen waren nach wie vor schlank und rank wie die eines Jünglings. Ihm war bewusst, dass er keineswegs mehr jugendlich wirkte. Wegen seiner Größe von einem Meter neunzig hatte er sich einen gebeugten Gang angewöhnt und einen kleinen Buckel zugelegt. Sein Haar war schütter und ergraut. Er trug es dennoch lang, trotz der kleinen Glatze am Hinterkopf. Stefan war gerade erst fünfzig geworden, fühlte sich momentan aber wie ein Achtzigjähriger.
Die besten Jahre waren vorbei, das war ihm schon seit langem klar. Einst galt er als Shootingstar der österreichischen Literaturszene. Seinen ersten Roman, »Gelber Dunst«, hatte er mit fünfunddreißig veröffentlicht, damit einige Literaturpreise eingeheimst und einen großen deutschen Verlag für sein zweites Buch an Land gezogen. Seine nächsten Romane hatten sich weniger gut verkauft als sein Erstlingswerk, aber anscheinend immer noch gut genug, denn der deutsche Verlag hatte ihm die Treue gehalten. Den letzten Vorschuss hatte er vor nunmehr sechs Jahren kassiert. Der Roman, für den er ihn bekommen hatte, war noch immer nicht fertig. Doch wenn man in Österreich einmal als Starautor galt, dann verblasste dieser Ruf nicht so rasch. Er zehrte nach wie vor von dem großen Erfolg seines Erstlings, der mittlerweile in zehn Sprachen übersetzt worden war, sogar ins Koreanische.
In den letzten Jahren hatte sich Stefan mit Übersetzungen aus dem Französischen über Wasser gehalten und ein paar Kurzgeschichten in Anthologien diverser österreichischer Schriftstellerverbände und -organisationen veröffentlicht. Außerdem hatte er immer wieder Stipendien und Förderpreise eingeheimst. Seit ein paar Jahren war Schluss damit. Autoren über fünfundvierzig galten nicht einmal im Land der Seligen mehr als förderungswürdig. Dennoch war er nach wie vor ein wichtiger Vertreter der österreichischen Literatur, zumindest bildete er sich das ein, obwohl er seit nunmehr sechs Jahren eine massive Schreibkrise hatte.
Voll bekleidet und mit den verstaubten Schuhen an den Füßen ließ er sich auf das überraschend bequeme Bett in seinem schäbigen Zimmer fallen und starrte eine Weile auf die rissige Decke.
Seine langjährige Lebensgefährtin hatte ihn vor einem Jahr verlassen. Obwohl die Trennung nicht der Grund für seine Schreibkrise war, er hatte bereits während der letzten Jahre ihrer Beziehung keine einzige Zeile mehr geschrieben, machte er Magdalena doch dafür verantwortlich. Auf einmal hatte sie mehr auf sich selbst schauen wollen, auf ihre eigene Karriere. Sie war zehn Jahre jünger als er und ebenfalls Autorin. Allerdings verdiente sie regelmäßig Geld mit einer blödsinnigen Kolumne in einer auflagenstarken Tageszeitung. Sie könne ihm nicht mehr länger dabei zusehen, wie er vor Mittag nicht aus dem Bett kam, nachmittags mit seinen Freunden im Kaffeehaus zu saufen begann und meistens erst spät nach Mitternacht heimkam, hatte sie ihm in ihrer letzten Nacht, in der sich, wie schon in vielen Nächten vorher, nichts abgespielt hatte, weil er keinen mehr hochbekam, an den Kopf geworfen. Damals hätte er sie am liebsten umgebracht, den Polster auf ihr Gesicht gedrückt und ihre Worte in den Daunen erstickt.
Sein Verlag hatte den letzten Vorschuss und damit auch ihn längst abgeschrieben. Falls er den Roman, an dem er nun seit sechs Jahren arbeitete, eines Tages fertigstellen würde, musste er sich einen neuen Verlag dafür suchen. Dieser Gedanke war ihm ein Gräuel. Bald würde er die Miete für seine Wohnung nicht mehr bezahlen können. Dank Magdalena war die Miete für seine Altbauwohnung im siebten Bezirk früher nie ein Problem gewesen.
Plötzlich erfasste ihn wieder eine Stinkwut auf diesen Trampel. Wer war sie denn schon? Eine kleine, immer fetter werdende Landpomeranze, die sich als berühmte Journalistin gerierte und vor kurzem sogar ein Buch mit ihren Alltagsglossen veröffentlicht hatte. Es war mit der Post gekommen. Er hatte es, ohne einen Blick hineinzuwerfen, in den Altpapiercontainer geschmissen.
Wie so oft befreite ihn die Wut von seiner depressiven Verstimmung. Er sprang auf und ging hinunter zum Portier, der sich als Youssef vorgestellt hatte. In seinem eleganten Französisch verlangte er das reservierte Zimmer mit Terrasse. Er erklärte dem alten zahnlückigen Rezeptionisten, dass er das Hotel augenblicklich verlassen würde, wenn er nicht sogleich das bestellte Doppelzimmer mit Terrasse bekäme.
Eine dicke schwarze Katze schlich um seine Beine. Stefan litt unter einer Katzenallergie. Angewidert verzog er das Gesicht.
Youssef versprach ihm schließlich, dass er ab morgen ein anderes Zimmer mit Terrassenzugang beziehen könne.
»Sind Sie nicht der berühmte Schriftsteller, der ›Gelber Dunst‹ geschrieben hat?«, vernahm er plötzlich eine schrille Frauenstimme in seinem Rücken.
Durchaus erfreut drehte er sich um.
Hinter ihm standen zwei mehr oder minder attraktive Frauen um die vierzig und strahlten ihn an wie einen Christbaum.
»Ich bin Daniela und das ist meine Freundin Nadine«, sagte die magersüchtige Blondine mit der schrillen Stimme. Sie war weniger hübsch als ihre dunkelhaarige Freundin, die ihn ein bisschen an Magdalena erinnerte, allerdings ein paar Kilo weniger auf den Hüften hatte als seine Ex.
»Wau, dass wir im selben Hotel wohnen, ist echt ein Wahnsinn! Das müssen wir feiern. Haben Sie heute Abend schon was vor?«
»Schreiben«, sagte Stefan und war selbst überrascht von seiner Schlagfertigkeit.
»Aber doch nicht am Heiligen Abend! Wir wollen auf den Djemaa el Fna gehen und dort in einer der Garküchen essen. Kommen Sie doch mit. Es wird sicher lustig.«
Allein das Wort »lustig« bereitete ihm körperliches Unbehagen.
Ein älteres Ehepaar, sie schwer übergewichtig und mit einem marokkanischen Kaftan bekleidet, er in Jeans und T-Shirt und sein weißes Haar zu einem Rossschwanz zusammengebunden, gaben ihren Zimmerschlüssel an der Rezeption ab. Sie hatten sein kurzes Gespräch mit den Österreicherinnen mitangehört.
»Wir gehen auch auf den Fna. Der Fischstand Nummer 14 ist fantastisch, solltet ihr auch versuchen«, sagte der Rossschwanz. Ein Deutscher, Rheinländer der Sprache nach.
Der Portier redete nun in seinem merkwürdigen Französisch auf das deutsche Pärchen ein.
Stefan verstand, dass die beiden sein gebuchtes Zimmer belegt hatten. Sogleich schoss ihm wieder die Zornesröte ins Gesicht. Bevor er sich einmischen konnte, sagte Youssef zu ihm, dass alles geklärt sei. Er, wie versprochen, sein Zimmer morgen beziehen könne.
Stefan hatte nicht mitbekommen, dass sich die Piefke mit dem Zimmertausch einverstanden erklärt hatten. Als er den bösen Blick bemerkte, den ihm die dicke Deutsche zuwarf, fühlte er sich irgendwie befriedigt. Sollten diese Alt-Hippies doch unter- oder übereinander in dem schmalen Bett liegen, er wollte ein großes Doppelbett und eine Terrasse mit Ausblick.
Das Thermometer in seinem Zimmer hatte dreiundzwanzig Grad angezeigt. Dennoch fror er erbärmlich. Er beschloss einen Hammam aufzusuchen und sich dort ein bisschen aufzuwärmen. Youssef empfahl ihm einen in der Nähe des Hotels.
Sein Körper glühte. Nur mit einer viel zu weiten ausgeborgten Badehose bekleidet lag er ausgestreckt auf dem harten, gekachelten heißen Tisch. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, verklebte seine Augen.
Er war nicht allein in dem Dampfbad. Gemurmel und leiser Singsang belästigten seine Ohren. Der Raum war schwach beleuchtet. Er nahm die Umrisse der Gestalten, die sich gerade einseifen oder mit heißem Wasser übergießen ließen oder ebenso ruhten wie er, kaum wahr. Dichte Dampfschwaden umgaben den russischen Luster, der von der Decke baumelte.
Ein Gefühl von Schwerelosigkeit erfasste ihn. Er spürte seinen Körper nicht mehr. Auch sein Kopf wurde leer. Alle seine Gedanken und Grübeleien lösten sich in der Hitze auf. Dieses Gefühl von Leere behagte ihm.
Sein Badediener, ein junger, gut gebauter Mann, riss ihn aus diesem angenehmen, tranceähnlichen Zustand, deutete, ihm zu folgen. Er brachte ihn ins Frigidarium, reichte ihm ein feuchtes Handtuch, sagte irgendetwas auf Arabisch zu ihm und wies auf das kleine Becken mit kaltem Wasser.
Stefan hatte kein Wort verstanden. Vor seinen Augen erschienen kurze, grelle Blitze. Das Kaltwasserbecken begann sich zu bewegen, kam langsam näher. Das Wasser schwappte über, eine riesige Welle erfasste ihn, schlug über ihm zusammen.
Als er auf dem kalten Fliesenboden wieder zu sich kam, sah er in die lächelnden schwarzen Augen des jungen Bademeisters. Der Bursche reichte ihm seine Hand, wollte ihm aufhelfen.
Stefan schlug seine Hand weg. »Mein Kreislauf hat wieder mal verrückt gespielt«, murmelte er und verließ fluchtartig den kleinen Raum, stürzte hinaus in den Flur. Er brauchte dringend einen Whisky. Das einzige Medikament, das in allen beschissenen Lebenslagen half. Aber woher den Whisky nehmen in diesem islamischen Land?
Ihm war nach wie vor so schwindlig, dass er es kaum schaffte, seine Hose im Stehen anzuziehen.
Völlig benommen torkelte er hinaus auf die düstere Gasse, die wahrscheinlich noch nie Sonnenlicht gesehen hatte.
Zwei Bettler lungerten unweit des Hammams herum, schnorrten ihn an. Er ignorierte sie, obwohl er gelesen hatte, dass die Bettler von Marrakesch bestens organisiert waren und sich die Gesichter der Leute, die ihnen etwas gaben, genau merkten und sie dann angeblich vor Taschendieben beschützten. Bestimmt war das eine Mär. Wahrscheinlich verrieten sie eher den Dieben, wenn jemand gut bei Kasse war.
Auf einer heruntergekommenen Einkaufsstraße, außerhalb eines Stadttores, entdeckte er eine Bar, in der Alkohol ausgeschenkt wurde.
Er ging hinein, setzte sich auf einen Hocker an der Theke und bestellte einen Jim Beam, den Whisky für den Tag. Abends trank er lieber Single Malt.
Bald geriet er wieder ins Grübeln. Fragte sich erneut, was er in diesem Drecksnest verloren hatte. Die Grübelei war fruchtlos wie immer. Er bestellte einen zweiten Whisky mit viel Eis. Bisher hatte er noch keinen Gedanken an seinen unfertigen Roman verschwendet. Er sog die Stimmen von Marrakesch ein, so wie einst Elias Canetti, aber im Gegensatz zu seinem weltberühmten Schriftstellerkollegen schienen sie ihn nicht zu inspirieren. Nach dem Besuch des Hammams fühlte er sich weder erfrischt noch voller Tatendrang.
Er döste an der Theke vor sich hin.
Das Gegröle junger skandinavischer Touristen, die sich zu ihm an die Theke gesellt hatten, vertrieb ihn schließlich aus dieser netten kleinen Bar.
Die Wirkung des Whiskys hielt nicht lange an. Sobald er in den Trubel auf dem Djemaa el Fna eingetaucht war, wurde er wieder hellwach.
Schlangenbeschwörer, Bauchtänzerinnen, Feuerschlucker, Akrobaten, Schuhputzer, Wahrsagerinnen, Schwarze, die bunte T-Shirts verkauften und ihm in leise beschwörendem Ton Haschisch anboten … Mit griesgrämiger Miene und den Händen in den Hosentaschen, das Geld fest umklammernd, streifte er über den großen Platz.
Die Sonne hatte sich noch nicht verabschiedet. Die blaue Stunde, in der dieser angeblich schönste Platz Afrikas in ein mysteriöses Farbenspiel getaucht werden würde, stand erst bevor.
Stefan schlenderte weiter, nahm eine breitere Straße hinein in den Souk. Er hatte nicht vor, etwas zu kaufen. Die Händler empfand er als äußerst lästig. Er blieb an keinem der farbenprächtigen Stände stehen, an denen nicht nur Textilien, Korb- und Lederwaren angeboten wurden, sondern auch alle Köstlichkeiten des Orients, sondern ging raschen Schrittes durch die immer enger werdenden Gassen. Der Weg durch den Souk führte nicht geradeaus, kreuzte sich mehrmals. Leicht verwirrt versuchte er sich einzuprägen, aus welcher Richtung er gekommen war. In die zum Teil mit Hölzern und Fetzen überdachten Gassen drang kein Sonnenstrahl. Bald hatte er die Orientierung verloren.
Junge, verwegen aussehende Burschen boten ihm an, ihn durch den Souk zu führen. Er reagierte fast zornig, verjagte sie mit abfälligem Gesichtsausdruck und eindeutigen Handbewegungen. Doch als er an einer Wegkreuzung umkehren und zurück zum großen Platz wollte, wurde ihm bewusst, dass er sich verirrt hatte. Sein Stadtplan half ihm nicht weiter, denn die Gassen im Souk hatten keine Namen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von einem der Schlepper zum großen Platz zurückbringen zu lassen. Der Bursche hieß Achmed und redete in schlechtem Französisch auf ihn ein. Er gab auch ein paar Brocken auf Deutsch von sich. Stefan verstand kaum ein Wort.
Als ihn Achmed zu einem Gewürzstand schleppte, fühlte er sich verpflichtet, dem Händler drei Gramm angeblich besten marokkanischen Safran um einen horrenden Preis abzukaufen. Wieder hatte er fast fünfzehn Euro in den Wind gesetzt. Den Safran würde er seiner alten Mutter mitbringen. Immerhin hatte sie ihm das Geld für diese Reise geborgt. Sie backte gerne, würde dieses kostbare Geschenk aber nicht zu schätzen wissen. Normaler Safran aus dem Supermarkt tat es für ihre bescheidenen Bedürfnisse sicher auch.
Stefan war in der schönen Steiermark aufgewachsen, in einfachen Verhältnissen. Er schämte sich für seine Herkunft, hatte sie verleugnet, machte früher in Interviews seinen Vater, einen Schichtarbeiter, zu einem Ingenieur und seine Mutter, die jahrelang als Putzfrau gearbeitet hatte, zur Hausfrau, die nicht hatte arbeiten gehen müssen. Seine Intelligenz und Kreativität schrieb er widerwillig dem kirchlichen Internat zu, in das ihn seine Eltern mit Hilfe des örtlichen Pfarrers gesteckt hatten, nachdem sie noch vier weitere Gschrappen produziert hatten. Mit seinen jüngeren Geschwistern pflegte er keinerlei Kontakt, genierte sich für sie ebenso wie für seine Eltern.
Er verdrängte die Gedanken an seine Familie und versuchte, während er neben Achmed durch die quirligen Gässchen der Medina stapfte, ihm auf Französisch klarzumachen, dass er sofort zurück auf die Grande Place müsse und keinerlei Einkäufe mehr tätigen wolle.
Der hübsche Bursche mit den großen dunklen Augen grinste ihn an, schlug ihm auf die Schulter und sagte: »Okay, okay.«
Stefan war überrascht, als Achmed ihn tatsächlich ohne weiteren Stopp zum Djemaa el Fna brachte.
Die Sonne verabschiedete sich gerade hinter dem Minarett der Koutoubia-Moschee.
Er gab Achmed zwanzig Dirham.
Der Junge zeigte ihm die fünf Finger seiner rechten Hand.
Stefan schüttelte den Kopf. Von diesem kleinen Gauner ließ er sich nicht über den Tisch ziehen. Wahrscheinlich hatte er das große Bündel Scheine in seiner Hosentasche gesehen, als er den weit überhöhten Preis für den Safran zahlte.
»Morgen wiedersehen?«, fragte Achmed lächelnd.
»Vielleicht«, sagte Stefan, ließ ihn stehen und ging direkt zum Café de France, in dem er mit den beiden Österreicherinnen aus seinem Riad verabredet war.
Daniela und Nadine erwarteten ihn bereits auf der Terrasse im ersten Stock. Sie hatten einen Tisch ganz vorne ergattert und fotografierten beide wie besessen den fantastischen Sonnenuntergang.
Der Himmel wechselte gerade seine Farbe von zartem Rosa in kräftiges Orange. Kurze Zeit später verfärbte er sich blutrot und tauchte schließlich den ganzen Platz in ein rauchiges Blau.
Die Österreicherinnen hatten nicht nur bunte Schals, Arganöl und Berberketten gekauft, sondern auch zwei winzige Schildkröten.
»Sind sie nicht niedlich? Wir haben noch keine Namen für die beiden. Wie findest du Scheherazade und Mohammed?«
»Wenn schon, dann Scheherazade und Schahryar. Aber das sind persische Namen«, klärte Stefan die ungebildeten Frauen auf.
»Möchtest du ihr Taufpate sein?«
»Es ist strengstens verboten, Schildkröten auszuführen, habt ihr das nicht in eurem Reiseführer gelesen?«
»Ach was, wir werden diese niedlichen Kleinen schon rausschmuggeln. Bei uns werdet ihr es gut haben, ihr Süßen«, sagte Daniela und küsste die Panzer der Baby-Schildkröten. Angewidert wandte Stefan sich ab.
Beide Frauen hatten sich ihre Hände bemalen lassen. Die schwarzen Ornamente sahen beinahe bedrohlich aus.
»Auf Nadines Hand steht angeblich, dass sie einen Mann sucht«, kicherte Daniela.
Er besah sich die Bemalung auf Nadines großer, grobknochiger Hand genauer und musste unwillkürlich an die schönen, zarten Händen der marokkanischen Frauen denken, die er bisher sehr wohl registriert hatte. Die Araberinnen gefielen ihm, sie waren nicht sehr groß, aber alle wohlgerundet, ohne fett zu sein, und trugen meist prächtige farbenfrohe Gewänder. Verglichen mit ihnen wirkten die vielen magersüchtigen und schlecht gekleideten Europäerinnen wie langweilige Kleiderpuppen.
In Marrakesch war er bisher nur wenigen Frauen mit Hidschab begegnet, diesem Kopftuch, das Haare, Ohren, Hals und Dekolleté bedeckt. Einen Tschador trugen fast nur Touristinnen aus arabischen Ländern. Und Frauen mit einem Nikab oder gar mit einer Burka hatte er kaum gesehen. Da hatte er in Österreich, trotz Burkaverbots, schon mehr zu Gesicht bekommen, vor allem im letzten Sommer, als er bei den Rauriser Literaturtagen eingeladen gewesen war und anschließend Zell am See besucht hatte.
Die meisten Marokkanerinnen waren unverschleiert, trugen nicht einmal ein Kopftuch, ließen ihre dunkelbraune Haarpracht über Schultern und Rücken fließen. Die jungen hatten meist auch schöne weiße Zähne, volle Lippen und elegante, etwas längere Nasen als momentan in Hollywood angesagt. Das Schönste an ihnen waren allerdings ihre großen dunklen Augen, die die Wonnen einer Nacht voller Leidenschaft versprachen. Er bewunderte auch ihre olivfarbene Haut, obwohl manche orientalischen Frauen auch überraschend weißhäutig waren, was ihre fast schwarzen Augen noch geheimnisvoller und verführerischer machte.
Die Österreicherinnen an seinem Tisch wirkten richtiggehend plump und derb neben all diesen nordafrikanischen Schönheiten, obwohl vor allem Daniela untergewichtig war. Aber sie waren beide großgewachsen und hatten einen schweren Knochenbau. Ihre Haare waren dünn und struppig vom vielen Färben, ihre Gesichter aufgedunsen und voller roter Flecken, die nicht nur von übertriebenem Alkoholkonsum stammten, sondern auch von der Hitze. Falls er ein Gefühl von Mitleid empfinden hätte können, wäre es jetzt angebracht gewesen. Doch er sezierte die beiden alleinstehenden Frauen mit seinem strengen Schriftstellerblick und kam zu dem Ergebnis, dass ihn keine der beiden reizte.
Seine Blicke schweiften wieder hinunter auf das bunte Treiben am Djemaa el Fna.
Die hell beleuchteten Obststände mit den exotischen Früchten, Datteln und Nüssen sahen sehr verlockend aus, machten aber wenig Geschäft.
Plötzlich erblickte er einen Burschen, der zur Terrasse des Café de France heraufsah und heftig winkte. Er erkannte Achmed nicht sogleich. Erst als er sich sicher war, dass es sich um seinen Scout handelte, winkte er zurück.
Der Junge stand neben einem Händler, dessen versilberte Laternen in vollem Kerzenlicht erstrahlten. Stefan gefielen diese filigranen Leuchten, die eine fast weihnachtliche Atmosphäre auf dem großen Platz verbreiteten.
»So eine Lampe werde ich mir kaufen, sie würde gut auf das Fensterbrett in meinem Schlafzimmers passen«, murmelte er.
»Du bist ja ein richtiger Romantiker«, sagte Nadine und schaute ihm tief in die Augen.
Ehe er noch widersprechen konnte, näherte sich Achmed dem Eingang des Cafés.
Stefan schwante Übles. Als der Junge ein paar Sekunden später an seinen Tisch kam und sich den beiden Frauen als Freund Stefans vorstellte, wusste er nicht, wie er reagieren sollte.
Daniela bot dem jungen Mann sogleich den vierten Sessel an.
Achmed blickte Stefan fragend an.
Ihm blieb nichts anderes übrig als zu nicken.
Achmed gab sich bescheiden, wollte nur einen thé à la menthe.
Stefan hielt ihm zugute, dass er weder den beiden Frauen noch ihm etwas anzudrehen versuchte, sondern Nadine nur um eine Zigarette anschnorrte.
Die beiden Frauen schienen sich zu freuen, einen Einheimischen kennenzulernen.
Als er sich, kaum hatte er den Tee ausgetrunken, artig verabschiedete, verabredeten die Österreicherinnen mit ihm, dass er sie morgen am ersten Weihnachtstag durch den unheimlichen Souk führen solle.
Stefan hatte die ganze Zeit geschwiegen, Achmed kein einziges Mal angesehen.
Als der große Platz völlig im Dunkeln lag und der weiße Rauch von den Garküchen in den blauschwarzen Himmel aufstieg, begab er sich mit den Frauen hinunter, um die Garküche Nr. 14 zu suchen.
Permanent wurden sie von Schleppern der anderen Garküchen angemacht. Bald war Stefan mit seiner Geduld am Ende.
Er verscheuchte die jungen Männer mit ihren Speisekarten und führte Daniela und Nadine zu dem von den Deutschen empfohlenen Fischstand. Und wer saß da und schlemmte? Die beiden Alt-Hippies.
»Frohe Weihnachten! Setzt euch zu uns«, sagte die dicke Deutsche und rückte ein bisschen näher an ihren Mann heran. »Ich heiße Ute und das ist mein Mann Detlef.«
Nadine setzte sich auf die hölzerne Bank neben die Deutschen, Stefan und Daniela nahmen gegenüber Platz.
Stefan entschied sich für Calamari. Bei diesen frittierten Gummiringerln konnte nicht viel schiefgehen. Salat oder andere Beilagen lehnte er ab. Daniela und Nadine nahmen die gemischte Fischplatte und Salat.
Sowohl die Calamari als auch die Fischstücke schwammen in Fett, schmeckten aber hervorragend. Stefan hatte sich dazu herabgelassen, ein Stückchen Fisch von Danielas Teller zu probieren.
Als Ute eine Flasche Sekt aus ihrem bestickten, sicher heute erst erstandenen Beutel zog und den Mann am Grill um Pappbecher bat, wollte er am liebsten aufstehen und gehen. Doch Daniela umklammerte mit ihren groben Fingern seinen linken Oberschenkel und strahlte ihn begeistert an.
»Wollen wir nicht den Heiligen Abend miteinander begießen«, fragte sie und erhob ihren Pappbecher.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit seinen Fans und dem deutschen Pärchen anzustoßen.
Als Ute jedoch anfing »Stille Nacht, heilige Nacht« zu singen, würgte er ihren Singsang ab: »Wir befinden uns in einem islamischen Land, willst du diese Leute provozieren? In der Medina ist der Genuss von Alkohol außerdem verboten.«
Sie verstummte, schaute ihn unsicher an.
»Lasst uns heimgehen. Ihr könnt ja in unserem Riad weitertrinken, das hier ist sicher nicht der richtige Ort, um den Heiligen Abend zu feiern.«
Mit der angebrochenen Flasche Sekt und den Pappbechern in den Händen folgten ihm die Österreicherinnen und das deutsche Pärchen durch die dunklen Gassen zurück ins Hotel.
In den Hauseingängen hockten Obdachlose. Einige Stricher machten sich sowohl an die Frauen als auch an die beiden Männer ran.
Detlef schien sich prächtig zu amüsieren, begann mit einem der Burschen zu verhandeln.
Rasch zog Stefan den betrunkenen Deutschen weiter. »Bist du verrückt geworden? Die sind schnell mit dem Messer zur Hand, so schnell kannst du gar nicht schauen …«
Vor ihrem Hotel wartete Achmed auf sie. Offensichtlich hatte er sie verfolgt und sie irgendwann überholt. Mit einem betörenden Lächeln auf seinen vollen Lippen bot er ihnen einen Gute-Nacht-Cocktail an. Hasch oder Koks oder was auch immer sie begehrten.
»Verschwinde«, herrschte Stefan ihn an.
Achmed schaute ihm lange in die Augen, bevor er in der finsteren Gasse verschwand.
Stefan hatte keine Lust mehr, mit Daniela, Nadine und den Deutschen weiterzuzechen. Er zog sich in sein Zimmer zurück. Die lauten Stimmen seiner neuen Bekannten, die im begrünten Innenhof des Riads den Heiligen Abend feierten, ließen ihn nicht einschlafen. Bis in die frühen Morgenstunden wälzte er sich in seinem Bett.
Sein Zimmer war total überheizt. Er drehte die Heizung zurück. Kurz darauf begann er zu frieren, drehte den Thermostat wieder höher und schlief prompt ein.
Er träumte von Achmed, von seinem jungen festen Körper, seiner glatten olivfarbenen Haut, seinen mandelförmigen schwarzen Augen. Als sich Achmeds üppige, wohlgeformte Lippen seinem Schwanz näherten, schrak er auf, machte Licht an und ging ins Bad. Er konnte es nicht fassen, er hatte eine Erektion. Die erste seit vielen Monaten. Entsetzt starrte er auf sein Glied, drehte die Dusche auf und wollte sich einen runterholen. Doch sein Schwanz erschlaffte sogleich unter dem warmen Wasserstrahl.
Fluchend legte er sich wieder hin, konnte aber nicht mehr weiterschlafen.
Am ersten Weihnachtsfeiertag erschien Stefan als Erster beim Frühstück unten im Innenhof. Die morgendliche Frische tat ihm gut. Er wollte im Freien sitzen, nicht drinnen im dunklen Frühstücksraum.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.