Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 1», sayfa 7

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Einmal schüttete sie einen großen Korb Erbsenschoten auf das Wachstuch des Küchentisches – ich durfte sie auspuhlen. Ich stand auf einem Küchenstuhl und streifte die frischen Erbsen aus ihren Schoten in einen Topf.

„Du darfst auch welche essen! Aber nicht zu viele, sonst bekommst du Bauchweh!“

Sie stand still und friedlich an ihrem Herd, wie immer schwarz gekleidet, und kochte das tägliche Mittagessen für ihren Mann. Gegen Mittag füllte sie den Henkelmann mit ihren Leckereien und wir brachten dem Alten das Essen in seine Werkstatt.

Ein anderes Mal ließ sie mich ihr Tafelsilber putzen. Sie legte eine Decke auf den Fußboden ihrer Küche, ich setzte mich im Schneidersitz bereit und sie stellte mir die Kästen mit dem Silberbesteck vor die Nase. Sie gab mir das Silberputztuch und einen Lappen zum Nachpolieren. Stundenlang wienerte ich an den Löffeln, Gabeln und Messern herum, bis alles wieder blitzblank war. Sie stand ruhig neben mir und kochte. Wir unterhielten uns nicht, während wir arbeiteten.

„Heute hast du mir sehr geholfen, du hast mir viel Arbeit abgenommen.“

Sie belohnte mich nicht mit Geld. Ich denke, sie spürte, dass ich glücklich war, weil ich ihr ein wenig Arbeit abnehmen konnte.

***

Irgendwann einmal half ich ihr bei der „großen Wäsche“ – das war für mich neu und daher ungemein interessant und lehrreich. Wir gingen auf den Wäscheboden unterm Dach. Dort stand ein riesiger Bottich auf vier stählernen Beinen. Unter dem Bottich musste man einen Ofen mit Holz und Kohle befeuern, der die Lauge in dem Bottich, in der Laken, Bettbezüge, Handtücher und Taschentücher eingeweicht waren, zum Kochen brachte. Ein großer Holzklöppel rotierte in der Lauge und schwenkte die Wäschestücke hin und her. Das zeigte sie mir, indem sie mich hochhob.

Am Nachmittag gingen wir wieder rauf auf den Dachboden. Jetzt kam die schwerste Arbeit auf sie zu. Sie holte die vielen Wäschestücke – Stück für Stück – aus der lauwarmen Lauge und wrang sie aus. Dann warf sie sie in eine Zinkwanne, die mit klarem Wasser gefüllt war. Im nächsten Arbeitsgang wurde die ganze, kalt eingeweichte Wäsche noch ein zweites Mal ausgewrungen und in eine zweite Zinkwanne mit klarem Wasser geworfen. Das war Schwerarbeit und ich sah, wie die kleine schmale Frau mit den großen Tüchern kämpfte. Bei diesem Arbeitsgang konnte ich ihr ein wenig helfen. Ich wrang alle Taschentücher und auch die kleinen Handtücher aus – immerhin. Am Ende gab es einen Riesenhaufen nasser Wäsche. Die musste jetzt auf die Leine gehängt werden.

Der Dachboden war ein großer langer Raum. In langer Reihe standen dicke Holzbalken, von denen die Dachsparren ausgingen, die das Dach trugen. Zwischen diesen Dachsparren waren die Wäscheleinen gespannt.

Ich reichte ihr die kleineren Wäschestücke zum Aufhängen (die größeren waren noch zu schwer für mich) und aus einem kleinen Eimerchen reichte ich ihr alle Wäscheklammern, die sie benötigte. Als wir schließlich fertig waren – am späten Nachmittag – wirkte meine sanfte, zierliche Oma sehr müde. Auch ich war „geschafft“.

***

Zeit ihres Lebens war sie die Frau im Hintergrund. Der Alte war der bekannte Handwerksmeister, seine Werkstattarbeit brachte das Geld ein, er hatte mit den Kunden, mit der Außenwelt, zu tun, er erledigte den nötigen Schriftkram. Er war es, der die Reden hielt, als er noch politisch aktiv war, er hatte seinen Stammtisch, er bramarbasierte mit seinen Kumpanen in den angesagten Wirtshäusern der Stadt …

Ihre Arbeit – so denke ich – hat ein Mann wie er vermutlich nie richtig wahrgenommen, geschweige denn gewürdigt. Frauenarbeit eben. Doch genau genommen trug sie einen beträchtlichen Teil zum Haushaltseinkommen bei. Immer hatte sie einen Garten, den sie bearbeitete. Sie zog Erbsen, Bohnen, Möhren, Tomaten, Kartoffeln und sie erntete reichlich. Bei ihr gab es Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Äpfel, Birnen … Sie kochte viel ein.

Neben ihrer Küche hatte sie ihr Heiligtum, einen kleinen Raum, den ich nicht betreten, in den ich nur ehrfürchtig hineinschauen durfte. Das war ihre Speisekammer, ein reiner, besonderer Ort. Das kleine Fenster zum Hof war mit einem dichten Fliegengitter versehen und die Bretter des Regals waren vollgestellt mit Kompott in Gläsern. Es gab Einmachgläser mit Bohnen, Erbsen, Möhren, es gab Marmeladen und Gelees. Viele Stunden konzentrierter, intensiver Arbeit waren da eingemacht. Vom Einsäen, Aufziehen und Ernten ihrer Früchte bis hin zum fertig gekochten Essen: das war ihr Beitrag zum Familieneinkommen, Schattenarbeit, die weder von dem Alten noch von seinem Sohn recht wahrgenommen wurde, so vermute ich.

Auf einem der Bretter standen oft Schalen mit Dickmilch, denn bei ihr kam nichts um: sauer gewordene Milch verwandelte sie in Dickmilch. Ordentlich mit Zucker und Zimt bestreut aß ich sie mit großem Genuss.

***

Das schöne Miteinander der beiden Frauen war nach unserer Umsetzung in die Baracke zu Ende und meine sanfte, liebe Oma verschwand immer mehr aus meinem Leben. Der Prozess war so schleichend, dass ich ihn zunächst gar nicht recht bemerkte. Wir sahen sie zwar täglich, wenn sie ihrem Mann, dem Alten, sein Mittagessen brachte, aber sie hielt sich nicht lange bei uns auf. Sie besuchte meine Mutter – aber immer nur kurz. Im Sommer unterhielten sich die beiden Frauen auf dem Hof, im Winter kam sie zu uns in unsere Küche. Oft zog sie dann nicht einmal ihren Mantel aus, sie war immer auf dem Sprung. Was war mit ihr los? Warum war sie plötzlich so spröde und abweisend? Ich merkte, dass sie sich verändert hatte. Ich selber besuchte sie nur noch selten und meine Mutter hatte in ihrer neuen primitiven Welt viel zu viel zu schuften, als dass sie noch Zeit gefunden hätte, sich um ihre Schwiegermutter zu kümmern.

Erst viel später konnte ich mir vorstellen, was in der Alten vorging. Die junge Frau, die sie liebte und bewunderte, die Frau, die ihren Sohn gerettet hatte, war von ihrem Mann und von ihrem eigenen Sohn ins Elend gesetzt worden. Und sie selbst war der Grund dafür – das wird sie mit Sicherheit so empfunden haben. Das Lebensglück der Jungen hatten der Alte und sein Sohn geopfert, damit sie, die Alte, nicht in die Armut absackte und der Fürsorge anheim fiel. Sie litt, wenn sie die Primitivität unseres Lebens wahrnahm, wenn sie sah, wie meine Mutter schuftete, um uns Kinder heil durchzubringen: das waren doch ihre Enkelkinder. Sie verlor immer mehr den Kontakt zu uns. Sie fühlte sich schuldig und sie konnte unser Elend nicht aushalten, wenn sie sich bei uns aufhielt. Sie hatte nur den einen Wunsch: davonrennen.

„Der Oma geht es nicht gut. Sie sieht sehr elend aus. Ich fürchte, sie ist krank“, sagte mir meine Mutter, als ich einmal das seltsame Verhalten meiner geliebten Oma mit ihr besprach.

***

Unser drittes Barackenjahr, 1952, war ein Krisenjahr.

Die Ereignisse dieses Unglücksjahres bereiteten unseren Abgang vor, der ein Jahr später erfolgte: unseren Auszug aus der Baracke, unsere Auswanderung in eine fremde Welt. Sie lösten alles: die fatale Symbiose zwischen dem Alten und seinem Sohn, sie lösten den ganzen Betrieb auf, sie erlösten meine Mutter aus ihrem Gefängnis.

Es zeigte sich immer deutlicher, dass die Geschäftsidee des Alten nicht mehr tragfähig war. Die Touren meines Vaters durch Niedersachsen wurden länger, die Aufträge spärlicher, das Geld knapper, Schulden wurden gemacht. Immer mal wieder wurde ich Zeuge hitziger Streitgespräche zwischen dem Alten und seinem Sohn. Offensichtlich hatte selbst mein Vater, der vor den Problemen des Alltags gerne davon lief, erkannt, wie prekär unsere Lage geworden war und dass sich der Betrieb langsam aber sicher in die Pleite bewegte.

Er entwickelte neue Markt- und Produktideen, doch der Alte sträubte sich gegen alle Neuerungen. Wie auch anders: er war inzwischen vierundsiebzig Jahre alt geworden, das Feuer des Draufgängers, das Feuer der Innovationen war erloschen. Um die Ideen seines Sohnes umzusetzen, hätte er noch einmal seinen ganzen Betrieb umkrempeln und auf Serienproduktion umstellen müssen. Er hätte neue Leute einstellen müssen. Das konnte er sich nicht mehr leisten, dazu war er zu alt und zu unbeweglich geworden – und außerdem fehlte das Kapital. Der Alte und sein Sohn waren mit ihrem Latein am Ende. Sie bekamen sich immer wieder in die Wolle. Immer wieder wurde ich Zeuge ihrer Streitereien.

Es war an einem sonnigen Freitag im Sommer 1952, kurz vor den großen Ferien. Ich kam mittags aus der Schule und warf meinen Ranzen erschöpft auf einen der Küchenstühle. Erst dann nahm ich das Gesicht meiner Mutter wahr und erschrak. Sie war sehr blass, ihre großen runden Augen starrten mich an und durch mich hindurch, als nehme sie mich gar nicht wahr. Sie legte ihren Zeigefinger auf den Mund – schweig! –, nahm mich bei der Hand und führte mich ins Schlafzimmer. Auf einem der Ehebetten lag mein Vater auf dem Rücken, ruhig, unbeweglich. Er starrte an die Decke, er sah uns nicht, er registrierte gar nicht, dass wir im Raum waren, er rührte sich nicht. Seine Gesichtsfarbe war gelblich-fahl, seine Arme lagen schlaff neben seinem Körper. Er war nur bis zum Bauchnabel zugedeckt und auf seiner nackten Brust lag eine warme Kompresse aus Handtüchern. Er atmete flach.

Wir gingen zurück in die Küche. Ich war erschrocken und vor Angst völlig verstört:

„Was ist passiert?“

Meine Mutter setzte sich an den Küchentisch und stützte ihren Kopf mit ihren Fäusten. Sie reagierte nicht auf meine Frage, sie war völlig erschöpft. Sie war weit weg.

„Lass es dir von Helga erzählen!“

***

Am Vormittag, während ich in der Schule war, hatte es einen schweren Krach zwischen meinem Vater und seinem Vater gegeben. Der Kampf und das Geschrei fanden in der Werkstatt des Alten statt, neben dem Amboss, neben seiner Werkbank, auf der er die schweren Hämmer abzulegen pflegte, mit denen er seine Kreissägen „behandelte“. Als die Wutbombe in ihm explodierte, griff er voller Hass einen seiner Hämmer und schlug ihn mit Wucht gegen die Brust seines Sohnes. Der torkelte nach Luft ringend in seine Wohnung nebenan, meiner Mutter in die Arme, die ihn auffing, ins Bett schleppte und – so gut sie es vermochte – versorgte. Sie rief unseren Hausarzt an, den sie noch aus ihren Jahren im Stadtkrankenhaus kannte und der immer kam, wenn er gebraucht wurde. Lungenschock, stellte der fest – aber auch, dass sich mein Vater gut erholte und dass sich sein Zustand sichtbar und zügig verbesserte. Da er ja in der Pflege meiner Mutter war, verzichtete er auf eine Einweisung ins Krankenhaus.

Das wurde ein Wochenende voller Angst. Ich hörte in der Nacht, dass sich meine Mutter immer wieder um ihn bemühte, ihn neu bettete und ihm warme Kompressen machte. Am Sonnabend konnte mein Vater wieder sprechen, lag aber immer noch auf dem Rücken und bewegte sich kaum. Wir Kinder hielten uns oft in der Nähe seines Zimmers auf, um ihn zu beobachten – und so belauschte ich meine Eltern bei einem kurzen Gespräch:

„Jetzt muss hier endlich Schluss sein“, hörte ich sie sagen, „ich kann nicht mehr.“

„Ja“, sagte er matt, „jetzt ist hier endgültig Schluss!“

Sein Zustand verbesserte sich stetig. Am Sonntagvormittag bereits bettete sie ihn hoch, er saß in seinem Bett, trank seinen Kaffee und aß mit Genuss ein kleines Frühstück. Er unterhielt sich mit uns, ja, er war sogar schon wieder zu Scherzen und Flachsereien aufgelegt. Wir waren glücklich, dass er wieder zu sich kam. Am Sonntagnachmittag war der Druck von uns gewichen. Wir spielten bereits wieder draußen auf dem Hof und in unserem „Dschungel“, als es passierte. Plötzlich stand der Alte vor uns – und neben ihm seine Frau, unsere stille Großmutter. Er habe etwas mit unserem Vater zu besprechen, bedeutete er uns, wir sollten draußen bleiben und das Gespräch nicht stören.

Unser Spiel war abrupt beendet. In mir kam wieder die Angst hoch, die ich gerade erst in den Griff bekommen hatte, ich war erregt, ich sah Unheil auf uns zukommen. Ich rannte davon, in die weite Landschaft, um wieder zur Ruhe zu kommen. Als ich zurückkehrte, waren die beiden Alten verschwunden. Ich hörte eine hitzige Diskussion im Schlafzimmer. Meine Eltern hatten wieder Krach miteinander und es war mir schnell klar, was der Anlass ihres Streites war:

Mein Vater hatte sich noch einmal breitschlagen lassen. Er würde weitermachen im Betrieb seines Vaters. Der Alte hatte ihm seine kranke, leidende Mutter vorgeführt. Das hatte gewirkt:

„Ich lasse meine Mutter nicht im Stich“, hörte ich ihn sagen.

Er wiederholte diesen Satz immer wieder und, als meine Mutter schließlich verstört aus dem Schlafzimmer rannte, schrie er ihn unaufhörlich hinter ihr her:

„Ich lasse meine Mutter nicht im Stich!“

„Ich lasse meine Mutter nicht im Stich!“

Er klammerte sich an diese Worte. Zum Schluss klang seine Stimme fast wie ein Heulen, wie das Jaulen eines Tieres, das in der Falle sitzt.

Es kamen die langen Sommerferien – eigentlich die schönste Zeit da draußen in „unserem Reich“ am Ufer der Weser. Diesmal waren sie allerdings eingetrübt durch die Ereignisse, die hinter uns lagen. Die alte Frau besuchte uns nun gar nicht mehr. Sie scheute jede Begegnung mit meiner Mutter, sie rannte an uns, ihren Enkelkindern, vorbei. Irgendwann erschien sie gar nicht mehr auf dem Hof, vor unserer Wohnung, wenn sie dem Alten seinen Henkelmann brachte. Seine Werkstatt hatte eine schmale Tür nach hinten hinaus, gen Osten. Wenn sie die benutzte, musste sie nicht an unserer Wohnung vorbeihuschen, wo sie womöglich meiner Mutter in die Arme gelaufen wäre.

Ich ahnte schon als Kind – ich war damals neun Jahre alt – was in ihr vorging: sie schämte sich. Wieder hatte sie am Krankenbett ihres Sohnes gestanden. Wieder war ihrem Sohn Gewalt angetan worden. Wieder pflegte ihn die junge Frau, die ihn schon einmal hochgebracht hatte, nachdem ihm Gewalt angetan worden war. Das alte Bild wiederholte sich – und war doch ganz anders. Denn diese junge Frau – ihre Schwiegertochter – opferte seit Jahren ihr eigenes Leben, ihr eigenes Glück, damit es ihr, der Alten, gut ginge. Das bedrückte sie. Ihr eigener Mann hatte sie vorgeschoben und als Köder benutzt, damit er weiterwurschteln konnte wie bisher. Er hatte seinen weichen, nachgiebigen Sohn, der sich nicht von seiner Mutter zu lösen vermochte, noch einmal herumgekriegt. Unsere Oma saß in einer bösen Falle. Sie wusste weder ein noch aus.

An einem herrlichen sonnigen Ferientag war ich damit beschäftigt, in den dichten Reihen der Himbeerbüsche, die sie einst gepflanzt hatte, die ersten Früchte zu ernten. Das war ein herrlicher Ort. Ich lag faul auf dem Rücken, ganz nah an den überschwänglich duftenden Nelken, die sie zwischen die Himbeerreihen gesetzt hatte, sog den würzigen Nelkengeruch in meine Nase, und futterte alle Beeren in mich hinein, die in meiner Reichweite zu grapschen waren.

Plötzlich bemerke ich, dass meine Großmutter aus der kleinen Tür an der Rückseite der Baracke heraus tritt um sich auf den Heimweg zu machen. Ich springe auf und renne hinter ihr her.

„Halt, Oma, bleib doch stehen. Komm doch noch ein bisschen zu uns auf den Hof. Bleib doch auf einen Kaffee. Die Mutti freut sich immer sehr, wenn du da bist …“

„Lass mich. Lass mich zufrieden …“

Sie beschleunigt ihre Schritte und fängt gar an zu rennen. Ich renne hinter ihr her und umtanze sie: „Bleib. Bleib doch … Bitte, bitte!“

„Verschwinde! Lass mich zufrieden! Lass mich zufrieden …!“

Sie schreit es schließlich heraus, sie fängt an zu weinen und rennt in Panik vor mir davon. Ich bin unglaublich betroffen und habe ein schlechtes Gewissen. Ich renne zu meiner Mutter und berichte ihr alles. Auch sie ist sehr betroffen.

„Was ist mit ihr los?“

Meine Mutter starrt in die Ferne, an mir vorbei. Ihr Gesicht ist düster.

„Die Oma ist krank. Sie ist krank an ihrer Seele. Deine Oma ist schwermütig.“

Schwermütig!

„Schwermut“ war in meiner Kindheit das gebräuchliche Wort der Alten für „Depression“. Ich bin mir sicher: es gab viele „Schwermütige“ im Land Danach. Denn das war das Land der Witwen und Halbwaisen, der Angehörigen, die um die gefallenen Soldaten trauerten, das Land der Kriegskrüppel und psychisch Traumatisierten, das Land der vielen Menschen, die damit fertig werden mussten, dass ihre Verwandten, ihre Freunde, ihre Nachbarn und Kollegen in den Vernichtungslagern ermordet worden waren.

Eines wurde mir erst später voll bewusst: jene Szene auf der Kuhbrückenstraße, in der ich meine verwirrte Oma zu überreden suchte, doch noch ein wenig bei uns zu bleiben und mit meiner Mutter Kaffee zu trinken, ist das letzte Bild, das ich von ihr habe, meine allerletzte Erinnerung an die alte Frau, die ich liebte. Ihre Worte „Lass mich zufrieden“ waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Sie suchte Frieden.

Die Lösung

„Alle Erinnerung reduziert das Gewesene. Die Lichter und Schatten, das Vogelgezwitscher und Hundegebell jenes Sommertags in meiner Kindheit, an dessen Morgen das furchtbare Ereignis geschah, sind ‚dahin’. Was bleibt, sind Worte. Das Ereignis selbst ist ‚dahin’ – vorbei, vergangen. Was mir geblieben ist, sind Gefühle, die nicht zu löschen sind.“

Als ich diese Sätze hinschrieb, ins Vorwort, lange bevor ich in den großen Topf der Erinnerungen hineingrapschte, hatte ich einen besonderen Sommertag vor meinem inneren Auge, jenen Tag im Strudel der Ereignisse des Jahres 1952, der unser aller Leben verändern sollte.

Es war ein frischer, leicht windiger, klarer Morgen. Die Sonne stand so, dass die Westwand der Baracke noch Schatten warf, sie stand im Südosten. Es muss also etwa zwischen zehn und elf Uhr gewesen sein, als sich das Unglück anbahnte. Wir vier Kinder spielten draußen auf unserem Hof. Ich selbst hockte vorne am Hoftor in der Sonne und bastelte an einem alten Fahrrad aus der Werkstatt des Alten, das wir zum Spielen benutzen durften. Meine drei Geschwister waren neben mir auf der kleinen Wiese mit den Wäschepfählen und der Hundehütte. Sie spielten mit unserem Hund, unser aller Liebling. Vor mir hatte ich die Ponyweide im Blick und einen großen Teil der noch nicht asphaltierten Kuhbrückenstraße, die die Weide nach Osten hin begrenzte. Sie war leer: kein Auto, kein Motorrad, kein Fahrrad, nichts …

Plötzlich schießt hinter dem weißen Gebäude der Vogeley-Fabrik ein Radfahrer hervor. Er strampelt wie ein Irrer, wie ein von Furien Gehetzter. Er sitzt nicht einmal auf dem Sattel und fliegt hopsend die holprige Straße entlang auf uns zu. Ich erkenne ihn: es ist mein Vetter Ralf. Zuerst lache ich kurz auf, denn ich kannte seine Verrücktheiten, genauer: ich kannte ihn als Verrückten. Doch dann fuhr sofort der Schreck in mich hinein: er bringt eine schlimme Botschaft, er bringt Unheil. Ich spürte das Unheil, bevor es da war.

***

Von diesem Vetter ging nie etwas Gutes aus.

Er war sechs Jahre älter als ich, also fünfzehn, als er auf seinem Fahrrad auf uns zugeschossen kam. Er lebte mit seinen Eltern in der Wohnung unserer Großeltern. Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind waren irgendwann während des Krieges eingezogen und nie wieder ausgezogen. Er war fünf oder sechs, als er mit meiner Großmutter zusammenkam und piesackte, ärgerte und quälte die alte Frau, wo er nur konnte, unaufhörlich. Er gehörte zu den „doofen Jungs“, wie ich sie damals nannte, diesen „anderen“ Jungs, die ich verachtete. Kalt und roh, sadistisch und grausam, unfähig zu lieben – so waren diese Jungs. Sie waren Quäler. Von dieser Sorte gab es etliche um mich herum, doch unser Vetter war die Spitze: er war der Widerlichste von allen. Üble Bilder und Geschichten purzelten durch meinen Kopf, als er näher kam:

Einmal zielte er vor meinen Augen mit seinem Luftgewehr auf einen Specht, der gerade den Stamm einer Kastanie bearbeitete. Er „holte ihn herunter“, wie er sich stets auszudrücken pflegte, wenn er Vögel tötete. Federn flogen durch die Luft, als der verletzte Vogel zur Erde kreiselte. Vetter Ralf fing das hilflos flatternde Tier ein und erschlug es mit Lust. Er lachte, als ich ihn angriff und beschimpfte, er zielte auf mich mit seiner Knarre und schrie „Memme“ und „Mädchen“ hinter mir her, als ich davonrannte.

Bei einer Rangelei in der Wohnung unserer Großeltern fixierte er mich am Boden – er war viel älter als ich und mir körperlich weit überlegen. Er kitzelte mich und hörte nicht auf, mich durch Kitzeln zu quälen. Ich lachte und schrie, schrie und lachte hysterisch. Schließlich brüllte ich um Hilfe. Unsere Oma rettete mich und schimpfte ihn aus. Danach machte er unbeirrt weiter. Er rang mich noch einmal nieder, hielt mich fest, sein fetter Hintern schwebte über mir und dann furzte er mir mit einem Lachen mitten ins Gesicht. Ich habe meine sanfte Oma nie so in Rage erlebt wie nach jener Sauerei: sie schrie ihn an, sie ohrfeigte ihn, jagte ihn in sein Zimmer und gab mir 50 Pfennig Schmerzensgeld.

Eine Geschichte um diesen Vetter blieb mir für immer unfassbar. In den knappen Jahren nach dem Krieg hielt meine Großmutter in ihrem Gärtchen Hühner und erntete die Eier für ihre Küche – das war ein Teil ihrer Schattenarbeit als Hausfrau. Nach einem heftigen Streit mit der alten Frau rächte sich mein Vetter mit einem „Streich“, der alles über ihn sagt: er tötete ihre Hühner und hängte sie an Strippen im Hühnerstall auf.

Schwache zu terrorisieren war sein Lebenselixier. Respekt hatte er nur vor den beiden Männern, die ihn regelmäßig derbe mit einem Stock so lange verprügelten, bis er erbärmlich schrie: seinem eigenen Vater und dem Alten, unserem gemeinsamen Großvater. Als Kind wusste ich es genau: er war seelisch missraten, er war geisteskrank, er war von Natur aus böse.

***

Er kurvte schließlich mit Karacho in unseren Hof ein, bis vor das große Tor zur Werkstatt des Alten, das weit offen stand. Aus voller Fahrt sprang er mit Schwung von seinem Rad, das er achtlos auf den Boden knallen ließ, und rannte in die dunkle Werkstatt. Wir Kinder liefen näher heran, um mitzubekommen, was los war.

Es war ein normaler Arbeitstag für den Alten. Den ganzen Morgen schon hatten wir das rhythmische Geräusch der Maschinen gehört und den vertrauten Lärm, wenn er mit Wucht loshämmerte oder am Schleifbock arbeitete. Plötzlich hörte das Geräusch der Maschinen auf. In der eintretenden Stille hörten wir erregte Worte und dann ein Schreien, das nicht wieder aufhörte, ein Schreien, so gruselig, dass wir Kinder vor Entsetzen gelähmt waren.

„NEIN!“ Der Alte schrie „NEIN NEIN NEIN“. Immer wieder „NEIN NEIN NEIN“ … Die Schreie waren unwirklich, unmenschlich – wie das Stöhnen und Brüllen aus einer anderen Welt: aus der Hölle. Das Allerschrecklichste war passiert und ich wusste, was auf uns zukommen würde. Wir Kleinen standen vor dem Tor und erwarteten die Katastrophe, gelähmt vor Angst.

Der Alte erschien im Werkstatttor, wir wichen zurück, er war außer sich. Er streckte die Arme nach oben aus, in den Himmel, er hatte die Hände zu Fäusten geballt, sein runder Kopf mit den grauen Stoppeln war nach oben gerichtet, als flehte er die Götter an, alles noch einmal zurückzudrehen. Minutenlang hörten wir seine schauderhaften Schreie: „NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN …“

Er war damals Mitte siebzig, ein alter Mann, kleinwüchsig, kompakt, kräftig und stark. Er stand vor dem großen Tor, in seinem gestreiften Arbeitshemd ohne Kragen, die Ärmel hochgekrempelt, die Arme hochgereckt. Er trug seine Arbeitsschürze aus dem derbem Persenningstoff, die er immer trug, wenn er schmiedete.

Die riss er sich nun vom Leib und warf sie hinter sich in die Werkstatt. Dann rannte er los, über den Hof und die Kuhbrückenstraße entlang – als seien alle Schmerzen des Alters aus seinem Körper verschwunden.

***

Hinter der weißen Fabrik verschwindet er. Wir Kinder sind fassungslos, die Kleinen fangen an zu weinen, wir warten auf die Erklärung. Totenstille liegt über dem Hof. Eine unglaubliche Stille und eine unglaubliche Spannung.

Nach einer Weile schleicht unser Vetter langsam aus der Werkstatt. Wir erwarten ihn neben seinem Fahrrad, das immer noch mitten auf dem Hof am Boden liegt. Wir wollen endlich wissen, was geschehen ist. Unser Vetter hebt ganz langsam sein Rad auf, prüft, ob alles in Ordnung ist und schaut uns lange an, ohne etwas zu sagen.

„Die Oma ist tot“, sagt er schließlich und macht eine Pause.

Er kann uns nicht normal anschauen, denn er hat einen Augenfehler, er schielt auffällig. Sein linkes Auge ist nach außen gedreht und glotzt starr in die Welt. Nur sein rechtes Auge bewegt sich normal und kann die Umwelt fokussieren. Man ist nie sicher, wohin er eigentlich guckt. Sein Blick hat etwas Glitzerndes, Sprunghaftes, Verschlagenes. Ich mochte ihm nie in die Augen sehen. Dann setzt er nach:

„Sie hat sich aufgehängt.“

Er registriert unsere aufgeregten Worte und Schreie und das Weinen der Kleinen, er macht wieder eine lange Pause.

„Auf dem Wäscheboden.“

Sehe ich ein Grinsen in seinem Gesicht? Sehe ich Häme in seinen schielenden Augen?

„An einem Dachsparren.“

Er schiebt sein Rad an und springt auf. Im Wegfahren dreht er sich noch einmal um. Ich sehe sein Schielen, das Glitzern seiner Augen. Dann ist er weg.

Ich habe die Sequenz dieser Sätze und sein Gesicht dabei nie mehr aus meinem Gehirn löschen können. Dieser Junge konnte es uns nur so sagen, das war seine Natur. Nachdem wir die Schockstarre überwunden hatten, informierten wir schließlich unsere Mutter.

Die sitzt ahnungslos am Küchentisch und bereitet unser Mittagessen vor. Wir wiederholen, was Ralf uns gesagt hat, genau in der Abfolge der Sätze, die er gewählt hatte. Sie schaut auf und sagt nichts. Ich sehe den Schock und die unendliche Qual in ihrem Gesicht und höre förmlich das „NEIN NEIN NEIN“ in ihrem Kopf. Sie sitzt da und wirkt völlig benommen. Schließlich springt sie auf, reißt sich die Schürze vom Leib und rennt davon, die Kuhbrückenstraße entlang in die Stadt.

Wir Kinder sind allein. Wir reden nicht. Wir schauen uns nicht an. Die Welt war plötzlich ohne Farbe, tot. Ich bin steif. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Ich bin ratlos.

Dann drehe ich mich um und gehe langsam los. Ich lasse meine Geschwister stehen und haue ab. Schließlich renne ich los. Ich renne und renne mit aller Kraft. Weg, nur weg. Ich renne durch unseren „Dschungel“, durch die Gärten, den Damm entlang hinaus in die Landschaft. Ich renne die ganze Zeit, ich fliehe. Ich erreiche mein Ziel, meinen Ort, den Ort, an dem ich für Stunden aus der Welt verschwinde. Ich habe genaue Erinnerungen daran, was an jenem Nachmittag dort in mir vorging und wie ich schließlich zur Ruhe kam.

Als ich schließlich zurückkehre – ganz langsam, ganz nachdenklich, erschöpft – ist alles ganz friedlich und still auf dem Hof. Alle Erwachsenen sind verschwunden. Eine späte Nachmittagssonne geht hinter dem Klüt unter und färbt die Landschaft und die Baracke in ein warmes, friedliches Rot. Ich treffe nur meine Vertraute, meine „große“ Schwester auf dem Hof an. Die Kleinen spielen vor der Andersen-Baracke, denn Frau Andersen hat sie unter ihre Fittiche genommen.

Ich frage, was in der Zwischenzeit geschehen ist und sie erzählt, dass unser Vater bereits am frühen Nachmittag von seiner Tour zurückgekommen sei. Er sei wohl irgendwie telefonisch benachrichtigt worden und der „Oppa“ habe seinen Sohn auf dem Hof empfangen.

„Es war furchtbar. Er hat ihn angeschrieen. Er war völlig außer sich.“

Ich schaue sie fragend an, ich will es genau wissen. Sie schaut weg, als sie es mir schließlich sagt:

„Er brüllte: ‚Du hast deine Mutter umgebracht. Du bist schuldig an ihrem Tod. Du hast versagt. Du bist ein Versager. Du hast deine Mutter auf dem Gewissen!’ – Das brüllte er immer wieder.“

Nein, er war nicht geläutert durch ihren Tod. Er blieb in seinem Gefängnis aus blinder Wut und Raserei. Er blieb der „Alte“.

Meine sanfte Oma hatte alles gelöst, was gelöst werden musste. Sie löste die fatale Symbiose zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn, die um ihretwillen entstanden war. Sie erlöste die junge Frau und ihre Enkelkinder aus dem Gefängnis, in das sie um ihretwillen gesteckt worden waren. Sie erlöste sich selbst aus ihrem Leid und machte den Weg für uns frei.

Ort der Gewalt

Sicher hatten ihr Leiden an unserer „Barackenzeit“, ihre Flucht vor dem Anblick ihrer Lieben in der Elendsbehausung und schließlich ihre Flucht in den Tod vor allem auch mit diesem Barackenlager selbst zu tun, in dem wir wohnten. Sie wusste etwas über dieses Lager, was ich als Kind nicht einmal ahnte. Erst später, als ich über mehr historisches Wissen verfügte, kam mir dieser – eigentlich sehr naheliegende – Gedanke.

Die Geschichte der beiden großen Industriebetriebe, die wir als Kinder täglich vor Augen hatten, hat es in sich:

Die riesige „Domag“ an der Kuhbrückenstraße, an der ich auf meinem Schulweg zweimal täglich vorbei musste, war im Land Davor der größte Rüstungsbetrieb in Hameln gewesen. Er beschäftigte in der Zeit zwischen 1939 und 1945 über zweitausend Arbeiterinnen und Arbeiter, darunter tausend Fremdarbeiter aus dem Osten, rechtlose Arbeitssklaven, die man mit Gewalt und in den üblichen Viehwaggons ins „Reich“ verfrachtet hatte. Die meisten der Domag-Sklaven waren Frauen, Ukrainerinnen, die die SS in Charkow eingefangen und nach Hameln deportiert hatte.

Auch „Kaminski-Waggonbau“ gleich nebenan war ein großer Rüstungsbetrieb mit etwa tausend Arbeitern, darunter fünfhundert Kriegsgefangene und Fremdarbeiter (Franzosen und Polen).

Meine Großmutter lebte seit Anfang der Zwanziger Jahre in Hameln. Ihr Mann, mein Großvater, hatte seinen Werkstattbetrieb in exakt jenem Industrie- und Gewerbegebiet aufgebaut, in dem auch die Domag und Kaminski beheimatet waren. Sie hielt sich vermutlich oft dort draußen auf, wenn sie ihrem Mann sein Mittagessen brachte oder wenn sie in ihrem kleinen Garten neben seiner Werkstatt arbeitete.

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