Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 1», sayfa 5

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Sie weinte.

„Es war furchtbar. An der Tür klebte ein Zettel auf dem Glasfenster: ‚Man kauft nicht bei Juden!’“ Sie schwieg lange. „Ich hab’ doch mein Leben lang dort gekauft.“

Was nach diesem Bericht in meinem „Oppa“ vorging, kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich sehe, wie er zu einem Klumpen aus Wut, Hass und Verachtung versteinert. Er wird eiskalt. Er isst schweigend das Essen, das sie für ihn gekocht hat, und als sie ihr Mahl beendet haben, sagt er zu ihr:

„So! Die Mittagpause ist vorbei. Jetzt müsste der Laden wieder auf haben!“

Er geht in sein Arbeitszimmer, öffnet den Vitrinenschrank und holt das „Ding“ heraus, das er vor seinem „Großen Brockhaus“ ausgestellt hat, sein Gesellenstück.

„Komm“, sagt er zu seiner Frau, „wir gehen jetzt in die Osterstraße. Einkaufen!“

Mein Vater malte in seiner Erzählung vor allem jene Szene am Mittagstisch aus, so dass ich annehme, dass er vielleicht dabei gesessen und sein Mittagsmahl mit seinen Eltern eingenommen hat. Die Szene, die sich danach in der Osterstraße abspielte, schilderte er mir nur in kurzen Strichen – offenbar nach den Erzählungen seiner Eltern.

Heute ist die Osterstraße der farbige, bunte Prachtboulevard in der autofreien Altstadt von Hameln, eine Einkaufs- und Caféhaus-Meile für Touristen aus aller Welt, mit architektonischen Perlen der Weser-Renaissance und Rattenfänger-Romantik.

In meiner Kindheit sah diese Straße wohl noch genau so aus, wie sie von den beiden Alten bei ihrem Gang zu dem jüdischen Kurzwarenhändler wahrgenommen wurde: Grau und Schwarz herrschten vor, kleine Geschäfte mit Glastüren und kleinen Schaufenstern in schwarzen oder dunkel gebeizten Holzrahmen. An der Ecke zur Bäckerstraße: das duftende Kaiser’s Kaffeegeschäft, in dem auf einer großen Siedepfanne die Kaffeebohnen frisch geröstet wurden. In meiner frühen Kindheit roch alles nach Kaffee um das Hochzeitshaus herum. Die Straße: Kopfsteinpflaster, schmale Bürgersteige, Autoverkehr. Ein paar der viereckigen Autos der Zeit fahren hin und her oder parken am Straßenrand …

Vor dem kleinen Geschäft des Kurzwarenhändlers steht der SA-Mann in vollem Wichs. Er ist unbewaffnet.

Mein Großvater baut sich mit seinem eisernen, schweren „Ding“ vor ihm auf. Vermutlich hält er es mit beiden Händen, wie einst als Junge auf dem alten Bild aus der Bilderkiste. Er weist seine Frau an, ins Geschäft zu gehen und ihre Einkäufe zu tätigen. Dabei nimmt er sein Gesellenstück in die rechte Hand und schwingt es leicht neben seinem Körper auf und ab. Er fixiert den SA-Mann und sagt ihm schweigend, was zu sagen ist. Der SA-Schläger versteht: da steht einer vor ihm, der zu allem entschlossen ist und der ihn auf der Stelle erschlagen wird, falls er aggressiv wird und eine falsche Bewegung macht …

Wenn sie alleine sind und sich alleine stellen müssen – Mann gegen Mann – sind faschistische Männer grundsätzlich feige. Der SA-Mann dreht sich also langsam um und verschwindet. Mein Großvater geht auf die Ladentür zu, reißt den Zettel von der Glasscheibe, zerknüllt ihn und tritt ihn mit seinen Schuhen platt.

Er kam damit durch. Es geschah ihm nichts. Er kam überhaupt durch.

Er hat nicht nur diese Aktion überlebt, er überlebte als „Roter“ den Terror der gesamten zwölf Jahre. Erst an seinem siebenundsechzigsten Geburtstag, dem 8. Mai 1945, konnte er aufatmen.

Wie er das geschafft hat, wie er heil durch die Zeit kam, darüber habe ich oft nachgedacht – vor allem in einer späteren Phase meines Lebens, als ich die Nazi-Geschichte studierte und mich intensiv über den mörderischen braunen Terror in den ersten Monaten nach der Machtergreifung informierte. Allerdings bezieht sich mein historisches Wissen auf den Terror, der in der Metropole Berlin inszeniert wurde:

Tag für Tag triumphale Aufmärsche der SA, nächtliche Fackelzüge und Volksfeste der faschistischen Sieger. Und gleichzeitig: erste Deportationen politischer Gegner, Folterungen und Misshandlungen, Morde an Kommunisten, Sozialdemokraten, an den vielen, die sich widersetzten. Beginn des systematischen Terrors gegen die Juden. Zerschlagung aller politischen Großorganisationen, die noch Widerstand hätten leisten können (SPD, KPD, Gewerkschaften), Unterordnung aller staatlichen Organe unter das Terrorregime (Polizei, Justiz, Schulen und Hochschulen, Ärzteschaft – sie alle kippten um), die Kirchen unterwarfen sich … und all das in nur wenigen Wochen. Brutal, radikal, ungemein erfolgreich. Alle duckten sich, jeder Widerstand wurde platt gemacht. Totale Gleichschaltung, totaler Terror …

Was übrig blieb, war der hilflose, individuelle Widerstand der kleinen Leute – von Menschen wie meinem „Oppa“, der an seiner Wut fast erstickte und der daher loszog und sich mit seiner Aktion voll wissend sein „Blanko-Todesurteil“ ausstellte, hätte sein Akt nicht in der Osterstraße in Hameln, sondern in der Müllerstraße im Wedding stattgefunden.

Offenbar liefen in der ländlichen Kleinstadt Hameln die Uhren langsamer und auch irgendwie anders. Der Terror zeigte sich zwar auch hier, aber nicht so geballt und lebensbedrohend wie in der Metropole Berlin. Außerdem – so dachte ich mir – kennt man sich untereinander. In einer verschlafenen, gemächlichen Kleinstadt ist man miteinander groß geworden und in die gleichen Schulen gegangen. Die Täter können nicht anonym agieren, wie die SA-Horden im Arbeiterkiez Wedding, die von außen eindringen. Sie sind mit ihrem Städtchen verwurzelt. Man erkennt sie auch noch in der SA-Uniform, man kennt ihre Familien, man kennt ihre Geschichten. Es sind die Söhne der Nachbarn und Kollegen, der sozialen und politischen Eliten einer Kleinstadt, die langsamer umkippten als die vielen März- und Angsthasen in Berlin.

Unter Umständen halfen meinem „Oppa“ auch informelle Netzwerke unter den Nachbarn, unter seinen Kumpanen aus der Handwerkerzunft, seinen Saufbrüdern, seinen Kollegen und Mitstreitern aus dem alten Kreis der Abgeordneten der „Bürgerversammlung“, in der er einstmals politisch aktiv war.

Zweifellos musste auch er sich ducken und abtauchen in den zwölf Jahren des Terrors – wie alle Regimegegner, die sich aus der Schusslinie der Faschisten in Sicherheit brachten, um ihr Leben und das Leben ihrer Lieben zu schützen. Er sah politisch klar, das wusste ich immer. Er erahnte mit Sicherheit die Verbrechen, die um ihn herum geschahen. Er litt, er musste seine Wut runterschlucken und bedauerte es vermutlich zutiefst, dass er einst – als ihm die Chance geboten wurde – nicht ausgewandert war.

Einer meiner „Lauschangriffe“ auf unserem Barackenhof, vor dem großen Tor zu seiner Werkstatt, gab mir ein wenig Aufschluss über sein Durchkommen in den schlimmen Jahren. Ich ergatterte zwar nur ein winziges Informationszipfelchen, aber es sagte mir einiges über sein Leben in den gefährlichen Jahren, die gerade hinter ihm lagen. Ich hatte ja auf meine kindliche Art gerade damit begonnen, mich mit der braunen Vergangenheit zu beschäftigen, nachdem ich erschrocken die Auschwitz-Bilder im „Spiegel“ studiert und begrübelt hatte. Dieser Schock hatte mich veranlasst, die Vergangenheit zu „erforschen“. Ich fragte viel und hörte hin. Ich wollte „rauskriegen“, was wenige Jahre zuvor gelaufen war.

Vier Freunde besuchen an jenem Tag den Alten, offenbar altvertraute Kumpel und Genossen aus seiner politischen Zeit. Lautes Hallo, Lachen, Palaver, Blödeleien, Bierflaschen, Döntjes ohne Ende. Ich „spiele“ in der Nähe und lausche. Niemand beachtet mich, die Männer sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Irgendwann hecheln sie alle möglichen Leute durch, Hamelner Bürger, die „umgefallen“ sind und Nazis wurden, und die sich nach Kriegsende aalglatt wieder rückverwandelt hatten. Ich verstand nicht viel von dem, was da palavert wurde, aber so ganz ungefähr konnte ich ihre Erzählungen doch deuten.

Plötzlich höre ich meinen Großvater sagen: auf den und den Mann lasse er nichts kommen. Der sei zwar auch umgekippt und Nazi geworden, aber nie ein „Schwein“ gewesen. Der habe ihn immer gewarnt, wenn die SA etwas gegen ihn im Schilde führte. Er konnte dann gerade noch untertauchen, immer noch rechtzeitig abhauen zu „seinem Bauern“ aufs Land. Der versteckte ihn dann für eine Weile.

„Nazi war nicht gleich Nazi“, hörte ich ihn sagen, „man darf es sich nicht zu einfach machen.“

Und nach einer Pause: „Er hat mir auch immer Entwarnung gegeben. Ich vertraute ihm. Ich fühlte mich dann sicher und bin zurückgekehrt. Mir ist ja auch nie was passiert.“

Dann lachte er: „Als er dann zu mir kam, nach Kriegsende, habe ich ihm ein gutes Zeugnis ausgestellt. Für seinen Persilschein!“

Wieder so ein seltsames Wort der Erwachsenen, das ich damals nicht verstand.

***

Die dritte und letzte „Heldengeschichte“ des Alten kann ich historisch sehr genau datieren. Sie spielt am 7. April 1945, wenige Wochen vor seinem siebenundsechzigsten Geburtstag, dem 8. Mai 1945, der als Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands in die Geschichte einging. Er wird seinen siebenundsechzigsten Geburtstag in Siegerstimmung gefeiert haben – da bin ich mir sicher.

Ich selbst war an jenem 7. April 1945 genau zwei Jahre und einundachtzig Tage alt. Mein ganzes kleines Leben hatte also bis dahin mitten im Zweiten Weltkrieg stattgefunden, aber Erinnerungen an den Krieg habe ich nicht. Die frühkindliche Amnesie hat ja durchaus etwas Gnädiges: ich habe nicht schon im zartesten Lebensalter erschütternde Erlebnisse und Ereignisse gespeichert, die meine doch noch sehr weiche Seele hätten belasten können.

In späteren Zeiten, als der Vorgang des Erinnerns mich zu faszinieren begann, habe ich mich gefragt, wann denn eigentlich meine ersten authentischen Erinnerungen einsetzten, meine ersten völlig eigenen Wahrnehmungen, nicht aufgeladen und durchmischt mit später Gehörtem, mit späteren Döntjes und Interpretationen der Erwachsenen um mich herum.

Ich habe meine ersten klaren Eigenerinnerungen in der Tat identifizieren und zeitlich einordnen können. Ich sehe ganz deutlich drei Erinnerungsbilder, die zwar eingebunden sind in dramatische Ereignisse, von denen die Erwachsenen später oft erzählten, von denen ich allerdings als Kleinkind nichts mitbekommen hatte. Die drei kurzen Szenen sind eindeutig mein Eigen, nicht eingefärbt durch erst später Gehörtes und spätere Interpretationen. Drei kurze Lichtblitze in einem dunklen Drama.

Die Zeit? Es war der Tag der Kapitulation der Stadt Hameln.

***

Am 7. April 1945 war in Hameln der Krieg zu Ende.

Wenige Tage zuvor waren amerikanische Truppen mit schwerem Gerät am Westufer der Weser aufmarschiert, in der Nähe des Ohrbergs, direkt gegenüber der Tündernschen Warte. Als ein Stoßtrupp am 5. April von dort aus auf der Westseite der Weser gen Hameln vordrang, sprengten deutsche Soldaten, die die Stadt verteidigten, den westlichen Teil der alten Weserbrücke.

„Das war der allerletzte Nazi-Schwachsinn in Hameln. Das waren die allerletzten Nazi-Idioten, die sich noch in der Stadt herumtrieben. Die hatten immer noch nichts begriffen. Die Amis ließen sich dadurch genau zwei Tage aufhalten. Dann machten sie Schluss! Endlich!“

Mein Vater lachte jedes Mal voller Häme über die „letzten bescheuerten Nazis“, wenn ich – Jahre später – neben ihm in seinem eckigen Opel P4 über die hölzerne Behelfsbrücke fuhr und er mir dabei Bröckchen aus der Geschichte des Hamelner Kriegsendes erzählte:

„Bei Tündern bauten die Amis eine Pontonbrücke und setzten mit ihren Panzern und ihren Geschützen über. Unglaublich schnell! Dann marschierten sie in die Stadt ein.“

Zwei Bürger Hamelns, ein Kommunist und ein Arzt aus dem Stadtkrankenhaus (ein Kollege meiner Mutter, ein Gynäkologe), waren mit einem kleinen Boot und einer weißen Fahne über die Weser gefahren – zum „Feind“ – und hatten die Kapitulation der Stadt vereinbart. Die letzten Wehrmachtssoldaten, die sich noch in der Stadt herumtrieben, ergaben sich friedlich und wurden gefangen gesetzt.

Zwei Tage nach der Sprengung der Weserbrücke durch „die letzten bescheuerten Nazis“ ging in Hameln das Dritte Reich unter.

Zu den Kapitulationsbedingungen gehörte, dass die Amis in Hameln Quartier machen wollten und dass dafür Teile der Bevölkerung ihre Wohnungen zu räumen hatten. Ich denke heute: die GIs, die sich durch halb Europa gekämpft hatten, um die Bestie totzuschlagen, sollten sich endlich einmal gründlich ausschlafen, bevor es weiterging.

Die Häuser in der Zentralstraße waren von dieser Anordnung der Sieger betroffen (hier wohnten wir) und auch die Häuser in der Kaiserstraße mussten frei gemacht werden (hier wohnten meine Großeltern). Als die amerikanischen Truppen von Süden her in die Stadt eindrangen, verließen hunderte (tausende?) Hamelner Bürger die Stadt. In ihre Wohnungen zogen die Jungs aus Oregon und Alabama, aus Maine und Kalifornien ein.

Wieder einmal zogen Hamelner Kinder gen Osten zur Stadt hinaus – und diesmal war ich dabei! Sicher: es war nur eine sehr kurze „Flucht“, unsere Flucht nach Klein-Hilligsfeld (damals ein Dorf, das heute ein Stadtteil von Hameln ist), aber selbst diese eher „bescheidene“ Flucht hatte ihre Schrecknisse, wie ich später aus den Erzählungen der Alten erfuhr.

Und mir bescherte diese Flucht etwas ganz Besonderes: die ersten authentischen Erinnerungen meines Lebens. Zum ersten Mal lieferte mir die Umwelt Bilder, die „nur mir gehörten“ und die sich so tief in meinen weichen Kindskopf einstanzten, dass ich sie nie wieder vergaß.

Ich sitze in einem Bollerwagen. Es ist früher Morgen. Ein kühler Wind bläst mir ins Gesicht. Ich bin warm eingemummelt. Ich bin nicht allein im Bollerwagen: mir gegenüber sitzt meine Schwester Helga. Wir sind mit Kissen zugedeckt. Auf den Kissen ist die große weiße gehäkelte Decke ausgebreitet, die mir so vertraut ist. Wir sitzen beengt, denn es liegen noch viele andere Sachen in dem Bollerwagen.

Neben mir sehe ich den Kinderwagen. Es ist der weiß lackierte Korbwagen.

Vor mir sehe ich meinen großen Bruder Klaus. Der sitzt auf dem Gepäckträger eines Fahrrads, das von meinem Opa gehalten wird.

Ich sehe meine Oma. Sie steht weiter hinten rechts neben einem anderen Bollerwagen, der voll ist mit Sachen.

Mein Vater ergreift die Deichsel des Bollerwagens, in dem ich und meine Schwester sitzen. Wir rollen los. Meine Mutter schiebt neben uns den Korbwagen, in dem das Baby liegt. Mein Opa schiebt das Fahrrad mit den zwei Taschen vorne am Lenker und mit meinem Bruder Klaus auf dem Gepäckträger. Meine Oma zieht ihren Bollerwagen.

Die ganze Straße ist voll mit Männern, Frauen und Kindern, mit Bollerwagen, Karren und Fahrrädern. Alles setzt sich in Bewegung. Alle ziehen los. Schluss.

Der Flüchtlingstreck zieht die Kaiserstraße hoch, am zerbombten Bahnhof vorbei in Richtung Rohrsen. Meine Mutter erzählte später einmal, dass der Menschenzug von britischen Tieffliegern beschossen worden sei und dass es Verletzte gegeben habe.

***

Ach ja, die Helden der Royal Airforce:

Als der Krieg eigentlich schon vorbei war und Nazi-Deutschland am Boden lag, legten sie noch einmal voll los: mit ihren incendiary-attacks auf alte Fachwerkstädte, wo sie die Zivilbevölkerung zu Tausenden einschmolzen, und mit ihren attacks auf die Flüchtlingsströme, die durch Deutschland irrten. „Nazi-Brut“, werden sich die tollkühnen Engländer in ihren fliegenden Kisten wohl gesagt haben: „Nazi-Brut. Also weg damit!“ Auch ich, zwei Jahre und einundachtzig Tage alt, gehörte zur „Nazi-Brut“ da unten auf der Landstraße. Auch für mich galt in ihren Gehirnen: „Weg damit!“

***

Aber von all den Ereignissen, die auf der Flucht geschahen, habe ich nichts mitbekommen. Kleinkinder haben einen gut funktionierenden, gnädigen Schutzmechanismus. Wenn die Realität plötzlich so ganz anders eingefärbt ist, so neu, verwirrend und Angst machend, tauchen sie ab in ihren Schlaf und ihre Träume. Das monotone Rollen des Bollerwagens wird sein Übriges dazu beigesteuert haben, dass ich mich aus dem Chaos der Realität zurückzog und einschlief.

Hinter Rohrsen, so vermute ich, teilte sich der Flüchtlingsstrom auf und die über Nacht wohnungslos gewordenen Menschen verteilten sich auf die umliegenden Dörfer. Meine Familie landete in Klein-Hilligsfeld und kroch bei einem Bauern unter. Unser „Oppa“ kannte diesen Bauern. Er kannte viele Bauern in der näheren Umgebung von Hameln, denn er war ein fähiger Schmied, Schlosser und Klempner und auf einem Bauernhof ist ständig etwas zu reparieren. Vermutlich war der Bauer in Klein-Hilligsfeld ein Kunde des Alten. Vermutlich sträubte der sich, uns aufzunehmen, denn ich erinnere mich an ein großes Geschrei in der Küche des alten, niedersächsischen Bauernhauses. Die lag gleich neben dem großen Tor, einem Tor, das so breit und so hoch war, dass Heuwagen hindurch fahren konnten. Ja, hier in der Bauernküche in Klein-Hilligsfeld hatte ich zum zweiten Mal in meinem Leben eine authentische Erinnerung:

Ich hocke auf einem Sofa, das an einer Wand steht. Über dem Sofa hängt ein Bild. Ich bin nicht allein. Meine Schwester hockt neben mir auf dem Sofa. Das Sofa ist dunkelgrün. Weiter hinten im Raum, um den Küchentisch herum, stehen die Erwachsenen und schreien sich an. Ich höre meinen „Oppa“ brüllen. Ich habe Angst. Zwei große hässliche und gefährlich aussehende Tiere mit Hörnern kommen auf uns zu. Sie kommen mit ihren feuchten Schnauzen ganz dicht an uns heran und lecken unsere Gesichter. Wir schreien, aber keiner hört uns. Sie zupfen mit ihren Zähnen an unserer Kleidung. Sie saugen den Stoff ein und lutschen daran. Wir schreien, aber keiner hört uns. Wir schieben die Tiere mit der Hand weg, aber sie nehmen auch unsere Finger zwischen ihre weichen Lippen und lutschen daran herum. Wir schreien immer wieder, aber keiner hört uns. Wir haben große Angst vor den Tieren, aber keiner kommt uns zu Hilfe.

Schluss.

Irgendwann wird dann doch irgendjemand gekommen sein und die Ziegen weggescheucht haben. Wenn wir später im Familienkreis über unsere Flucht palaverten, konnte sich keiner der Erwachsenen an diese Szene erinnern, die für mich ein so schreckliches Erlebnis war. Für die Alten war es halt nur eine banale, harmlose Nebensächlichkeit im Strudel der Ereignisse. Meine Schwester allerdings, die zusammen mit mir diesen Horror überstanden hatte, konnte sich, als wir sehr viel später einmal darüber sprachen, an jedes Detail erinnern und meine Wahrnehmung bestätigen. Sie war damals drei Jahre und hundertachtundvierzig Tage alt und hatte sicher schon bedeutend mehr authentische Erinnerungen als ich in ihrem Speicher.

***

Die dritte authentische Erinnerung habe ich an ein Erlebnis, das sich ebenfalls am Tag unserer Flucht nach Klein-Hilligsfeld abspielte – und zwar später, am Nachmittag. Ich wurde zum Hauptakteur in einer Szene, die sich mir einbrannte, weil ich sie an spätere, sehr eindrucksvolle Erzählungen der Alten ankoppeln konnte. Genau genommen steckte ich mitten in der Urszene ihrer Erzählung all der dramatischen Folgen dessen, was ich da – mit den Augen eines Kleinkindes – gesehen hatte.

Ich allein sah den allerersten Akt in einem Drama, das fast einen tödlichen Ausgang genommen hätte. Nur ich, das Kleinkind. Niemand sonst.

Würde ich das, was mir damals widerfuhr, isoliert – nur so für sich – erzählen, wirkt die erinnerte Szene lächerlich harmlos, ungemein friedlich und ungemein menschlich in jenen unmenschlichen Zeiten. Eine ganz banale Alltagsepisode. Aber als ich mir später – aus den verschiedenen Erzählungen der Erwachsenen – das Folgedrama zusammenreimen konnte, das sich aus der von mir erlebten Urszene heraus entwickelte, bekam das Ganze in meinen Erinnerungen etwas beklemmend Hitchcockhaftes.

Man kennt das ja: zuweilen wird in Filmen im Vorspann, noch bevor der Titel, die Akteure, der Starring usw. eingeblendet werden, eine scheinbar harmlose Szene gezeigt, in der ein heimlicher Fingerzeig versteckt ist auf das Unheimliche und Makabre, das der restliche Film dann zeigt:

Ich sitze auf meinem Töpfchen und kacke. Ich sitze draußen vor dem hohen Tor des Bauernhauses. Die Torflügel unten sind weit geöffnet. Ich höre die lauten Stimmen der Erwachsenen, die sich immer noch anschreien. Rechts neben dem großen Tor, an der rechten Ecke des Hauses, sehe ich unsere Vehikel: die beiden Bollerwagen, den Kinderwagen, das Fahrrad, an dem die beiden Taschen hängen. Plötzlich kommt ein dünner Mann um die Ecke des Bauernhauses. Er ist grau gekleidet und geht ein wenig nach vorne gebeugt. Er schleicht sich an. Ich bin erschrocken, ich habe Angst. Ich möchte schreien, aber es kommt kein Ton aus mir heraus. Der graue Mann winkt mir mit beiden Armen zu und kichert. Er sagt Worte, die ich nicht verstehe. Er untersucht die beiden Bollerwagen und wühlt in den Sachen herum, die darin untergebracht sind. Aus dem Bollerwagen, in dem ich und meine Schwester herangerollt waren, fischt er zwei große Pakete. Er winkt mir wieder mit beiden Armen zu. In jeder Hand hält er ein Paket. Er winkt mir mit den Paketen zu, er kichert und ruft noch irgendetwas. Er verschwindet mit den Paketen hinter der Hausecke.

Schluss.

Irgendwann wird mich meine Mutter erlöst, mir den Hintern abgewischt und mich wieder auf das grüne Sofa gesetzt haben – und ich vergaß wohl erst einmal mein aufregendes Töpfchenerlebnis. Ich musste mich wieder der Ziegen erwehren.

Irgendwann wurde man sich nach all dem Gebrüll mit dem Bauern handelseinig. Wir kamen alle in einem nicht mehr genutzten Schweinestall unter.

„Wir hatten Glück“, erzählte meine Mutter später, „denn der Stall hatte feste Mauern aus Stein. Es wurde nämlich noch gekämpft um uns herum und manchmal schlugen die Kugeln in die Mauern ein. Ich lag dann stundenlang auf allen Vieren und hatte das Baby unter meinem Bauch. Wir hatten Todesangst.“

Als sie schließlich nach dem langen Streit mit dem Bauern loszogen, um in ihrem neuen Habitat, dem Schweinestall, unterzukriechen, der irgendwo im hinteren Teil des Bauernhofes gelegen war, als dann endlich Ruhe einkehrte und als der Hunger sich meldete, kam heraus, was geschehen war: der Proviant war weg. Die Stullenpakete, die meine Mutter in ihrer schlaflosen Nacht vor unserem Auszug geschmiert hatte, waren verschwunden. Geklaut. Meine Mutter informierte ihre Leute, die besprachen sich mit dem Bauern. Vermutlich wollten sie wissen, wer der Täter gewesen sein könnte – möglicherweise in der Hoffnung, ihm die Beute wieder abnehmen zu können. Der Bauer hatte auch sogleich einen Verdacht:

„Das war der Russe, das Dreckschwein. Der Fremdarbeiter.“

Und nach kurzem Nachdenken:

„Der hat sich unter Garantie in der Scheune verkrochen. Unter dem Heu. Der futtert dort die Butterbrote. Den schnappen wir uns.“

Er rennt los und mein „Oppa“ und mein Vater rennen hinter ihm her. Die Scheune ist voller Heuberge. Der Bauer ergreift eine Heugabel und sticht mit Wucht und Mordlust in die Heuhaufen, um das „Dreckschwein“ aufzuspießen. Mein „Oppa“ entreißt ihm die Gabel und bringt ihn zur Ruhe. Er betrachtet prüfend die Heuberge, denkt nach, greift hinein und zieht mit einem Griff den russischen Fremdarbeiter aus seinem Versteck. Sie ziehen ihn auf den Hof, um ihn zur Rede zu stellen.

Was dann geschah, muss vor allem für meine Mutter, die den Diebstahl aufgedeckt und Alarm geschlagen hatte, gruselig gewesen sein, denn fast kam es zu einem Mord.

Auf dem Hof trieben sich an jenem Nachmittag bewaffnete deutsche Soldaten herum. In der Landschaft um Groß- und Klein-Hilligsfeld wurde noch gekämpft. Nazi-Werwölfe – Hitlers allerletztes Aufgebot – hatten sich in der Gegend verschanzt und ballerten in aussichtslosen Gefechten auf die vorrückenden Amerikaner. Einige dieser Typen lungerten jetzt auf dem Hof herum – vermutlich, um sich was zu fressen abzuholen, ihre Wasserflaschen zu füllen, sich den Dreck vom Körper abzuwaschen und sich mal halbwegs komfortabel auszuscheißen.

Da kämpft der dumme, entkernte Faschist, der nicht aufgeben kann, seinen allerletzten Kampf. Er ist ein Held, weil er lieber in den Tod geht als zusehen zu müssen, wie sein Drittes Reich eingestampft wird und alles untergeht, woran er geglaubt hat. Der Typus Mann, der möglichst noch viele „mitnehmen“ will, wenn er denn selber vor die Hunde geht: Todessehnsucht und Mordlust – das faschistische Zwillingspaar.

***

Als die bewaffnete Soldateska, die an diesem Nachmittag auf dem Hof herumlungerte, von dem Vorfall erfuhr und sich den Russen vornahm, wusste sie sofort, was zu tun war:

„Kurzer Prozess. Umlegen, die Ratte!“

Unser „Wirt“, der Bauer, war dafür.

Sie zerrten den armen Kerl zurück in die Scheune, wo ihn mein „Oppa“ gerade erst aus dem Heu gebuddelt hatte. Hier sollte es geschehen. Mein Großvater und mein Vater stürmten hinterher.

Was dort im Einzelnen geschah, kann ich aus den unterschiedlichen Erzählfragmenten, die ich später aufgeschnappt habe, nicht genau rekonstruieren. Die Endszene des Dramas, die sich erst Wochen später abspielte, verrät mir allerdings, dass es dem Alten gelang, die Mordlust des Nazi-Gesindels zu stoppen und die „Todesstrafe“ für den Mundraub in eine „Prügelstrafe“ abzumildern. Wie ich ihn einschätze, wird er alles eingesetzt haben, was er aufzubieten hatte, um den Russen zu retten. Er wird nicht „bitte, bitte“ gesagt haben, das war nicht sein Naturell, sondern getobt, geschrien und gedroht haben: „Morgen sind die Amis da. Wenn die erfahren, was auf deinem Hof hier geschehen ist, dann knallen die dich ab! Die knallen euch alle ab. Oder ihr werdet alle gehängt. Das garantiere ich euch!“ So, oder so ähnlich wird er gebrüllt haben.

Mein „großer“ Bruder Klaus, der an jenem Tag knapp sechs Jahre alt war und vieles von den Geschehnissen schon sehr bewusst mitbekommen hatte, erinnerte sich später:

„Sie haben ihn verprügelt. Ich habe die Schreie von draußen gehört. Ich durfte nicht mit rein in die Scheune.“

***

Wie lange wir Flüchtlinge in dem Schweinestall überlebten, daran habe ich natürlich nicht die geringste Erinnerung. Irgendwann zogen die amerikanischen Truppen weiter – den Russen entgegen, die vom Osten her das Nazi-Reich aufrollten. Die Wohnungen wurden wieder freigemacht, ein ganz neues Leben begann, ein Leben ohne Krieg und Nazi-Terror. Meine Mutter hat sich später immer mal wieder mit Rührung daran erinnert, dass sie auf dem Küchentisch eine große Dose mit Butterfett und eine große Dose mit Milchpulver vorfand. Die Jungs aus Kentucky hatten wohl die vielen Kinderbetten in ihrem Quartier wahrgenommen.

An die Zeit, die folgte, die unmittelbare Nachkriegszeit an das ganze Jahr 1945, habe ich nur ein paar dunkle, spukhafte Erinnerungen:

Es ist dunkel in der Küche und flackerndes Feuerlicht sehe ich an allen Wänden: Stromausfall in der ganzen Stadt. Ich sitze am Küchentisch, meine Geschwister und meine Eltern sind um mich herum. Im Herd brennt ein Feuer, die Herdklappe vorne ist geöffnet und die flackernden Flammen erhellen mit ihren Zuckungen den Raum, huschen über die Wände und spiegeln sich im Glasfenster zur Küchenveranda. Das rote Herdfeuer ist die einzige Lichtquelle in der ganzen Wohnung.

Für mich waren die Abende mit Stromausfall zauberhaft, verwunschen und urgemütlich.

Nur tausend Schritte entfernt – in der Kaiserstraße, in der Wohnung meiner Großeltern – verbrachte man die Abende und Nächte mit Stromausfall genau wie wir: vor dem flackernden Herdfeuer in der Küche.

Eines Abends, als sich die Stadt wieder einmal verfinstert hatte, sitzen alle fünf, Opa und Oma, Onkel und Tante und Vetter Ralf im Flackerlicht des Herdes um den Küchentisch herum und löffeln ihre wässrige Suppe. Selbst im ländlichen Hameln waren Nahrungsmittel knapp in den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriegsende und was die Erwachsenen vor allem beklagten, war der Mangel an Fett: an Schmalz, Öl, Butter oder Margarine …

Aus dem, was sie noch an Nahrungsvorräten hatte, hatte meine Oma das Abendessen zubereitet: eine Suppe aus Mehl und Wasser, eine „Mehlsuppe“ – außer Mehl war nichts drin. Der Alte muss unter diesen „Mehlsuppen“ so gelitten haben, dass er den Begriff „Mehlsuppe“ in seinen Sprachschatz aufnahm. Eine „Mehlsuppe“ war für ihn fürderhin das Synonym für einen lauwarmen Schwächling, der sich nichts zutraut.

Während sie alle brav dasitzen und ihre ungeliebte Mehlsuppe löffeln, geschieht etwas Ungewöhnliches. Es klopft an der Wohnungstür, laut und energisch. Sie werden sich alle ziemlich erschrocken haben, denn wer schleicht schon in der Finsternis durch die Stadt und in der Finsternis des Hauses drei Treppen hinauf? Meine stille, sanfte Oma steht schließlich auf und geht durch den dunklen Korridor, der nur durch ein wenig Flackerlicht aus der Küche erhellt wird, auf die Tür zu. Als sie anfragt, wer denn da draußen sei, kommt als Antwort nur wieder ein energisches Klopfen. Sie fasst sich ein Herz und öffnet schließlich die Tür. Da steht eine dunkle Gestalt mit einer Taschenlampe. Der Strahl fällt auf sie, danach wendet der dunkle Besucher die Lampe und strahlt sich selbst an. Die arme Alte ist völlig geschockt. Sie rennt fluchtartig zurück in die Küche:

„Da draußen steht ein Neger!“

Als alle aufspringen, steht der „Neger“ schon mitten in der Küche. Ein GI in voller Uniform. Er leuchtet alle an, er leuchtet alles aus, der Lichtstrahl geht durch die Küche. Schließlich macht er eine Armbewegung nach hinten in den dunklen Korridor und sagt etwas. Eine zweite Gestalt huscht in die dämmrige Küche, mager, leicht nach vorne gebeugt, in grauer Kleidung. Es ist der russische Fremdarbeiter vom Bauernhof in Klein-Hilligsfeld. Der fragt in seinem unbeholfenen Deutsch-Russisch nach dem „alten Mann mit Brille“.

„Alter Mann. Mit Brille. Runde Brille. Rund. Rund.“

Mit Daumen und Zeigefinger formt er runde „Brillengläser“ und hält sie sich vor die Augen. Unser „Oppa“ versteht. Er setzt sich seine runde Nickelbrille auf die Nase. Der „Neger“ leuchtet ihn an, seinen Körper, sein Gesicht: rauf und runter. Der Russe beäugt ihn genau. Schließlich geht er auf ihn zu und gibt ihm die Hand. Sie umarmen sich. Sie sagen sich etwas in Russisch und in Deutsch, sie verstehen nichts und verstehen alles.