Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 2», sayfa 6

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Dergleichen Menschengewimmel, dergleichen Gewusel und Geschrei habe ich viel später erst wieder mit großer Lust gespürt, gehört, gerochen … auf ganz anderen Reisen: wenn ich in den „Crowded Cities“ des näheren Orients und des ferneren Asiens durch die Menschenmassen schwamm …

***

Fünf Uhr. Sieben Uhr. Neun Uhr: drei Städte, drei Stufen auf der Hühnerleiter der Privilegien.

Die Verfügung über deine Zeit, die „Eigenzeit“, das lehrte mich die Stadt am Morgen, ist ein Merkmal der sozialen Schicht, der du angehörst. Wie früh am Morgen du dich aus dem Bett quälst, ob du Schichtwechsel akzeptieren musst mit wöchentlich wechselnden Arbeitsrhythmen, ob du Nachtschichten fährst, ob du ein Zeitdiktat wie selbstverständlich schlucken musst oder einigermaßen frei über dein kleines, kostbares Leben verfügen kannst: all das sind vorgegebene Setzungen und festgezurrte Regeln der Kaste, in die du hineingeboren bist und die du nur mit Anstrengungen verlassen kannst. Ich kannte jetzt den Rhythmus und den Swing der Stadt am frühen Morgen. Um sechs Uhr war so abrupt Schluss mit dem Lärm, dem Verkehr und dem Gewimmel, dass man denken mochte, das alles sei gar nicht wahr gewesen.

Schlagartig war dann wieder Stille auf den Straßen: zwischen sechs und sieben schlief der Rest der Bevölkerung noch seine letzte Runde, während in den Fabriken der Stadt bereits die Maschinen angeschmissen wurden. Der einsame „Frühaufsteher“, der jetzt mit seiner Bäckertüte die menschenleeren Straßen abschritt, hätte verwundert mit dem Kopf geschüttelt, wenn man ihm gesagt hätte, dass kurz vorher die Straßen der Stadt noch krachvoll mit Menschen waren und der gewaltige Schub des ersten Berufsverkehrs die Straßen verstopft hatte. Nichts mehr deutete auf diese erste Welle hin.

Zwischen sieben und acht füllte sich die Stadt wieder, die „Sieben-Uhr-Stadt“ erwachte. Diese Welle war mir vertraut, denn in diesem Zeitfenster ging ich zur Schule. Die Kohorte der Angestellten und Beamten machte sich auf den Weg in ihre Büros: besser ausgeschlafen und jetzt auch geschlechtlich durchmischt. Ab halb acht machten sich die Kinder, viele von ihnen die berühmten „Schlüsselkinder“ der Zeit, auf den Weg in die Schule. Nach acht herrschte zwar wieder eine gewisse Ruhe, aber die Stadt war wach geworden und der Lieferverkehr begann.

Und später dann, zwischen neun und zehn, setzten sich die Privilegierten in Bewegung, die über ihre Arbeitszeit – je nach Terminlage – freier verfügen und den Frühstückstisch mit Zeitung und Gattin genießen konnten. Das hatte ich zu meiner großen Verwunderung selber so erlebt:

Ich borgte mir bestimmte Schulbücher, die ich mir aus Mangel an Geld nicht kaufen konnte, bei einem Schulfreund. Wenn ich zwischen neun und zehn Uhr bei ihm auftauchte – in der Spätschichtwoche, d. h. wenn die Hausaufgaben vormittags zu erledigen waren –, saß oftmals das Familienoberhaupt noch am Frühstückstisch, mit Zeitung und Gattin, und gab seinem Sohn entspannte Ratschläge für die Hausaufgaben. Er war ein ranghohes Tier in der Justiz und war an keine festen Arbeitszeiten und Arbeitsorte gebunden. Diese privilegierte Lebensweise habe ich später noch oft kennengelernt und selber genossen. Aber irgendwann kämpfen auch sie sich durch den Stadtverkehr – in ihren Dienstwagen, mit oder ohne Chauffeur – hin zu ihren Arbeitssesseln in den höheren Etagen … Das ist die Neun-Uhr-Welle, eine kleine Welle nur.

Das ist die Kohorte der Verantwortung Tragenden, das sind die „Leistungsträger“ der Gesellschaft. Sie machen zu allen Zeiten – vor allem dann, wenn Tarifverhandlungen anstehen – nur allzu gern ein großes Gewese und Geschrei, dass es ihnen nicht vergönnt sei, Punkt fünf Uhr nachmittags die Kelle fallen zu lassen wie die Maurer und heim zu Muttern zu gehen. Denn um fünf Uhr nachmittags, wenn die Schichtmalocher (die wie ich allerdings schon kurz nach vier auf den Beinen waren) es sich schon bequem gemacht haben, haben sie, wie sie uns lehren, noch längst nicht Feierabend. Sie opfern ihre Abende, ihre Lebenszeit im Dienste der Volkswirtschaft. Sie arbeiten hart, sie harren aus in ihren Büros, bei konzentrierter Schreibtischarbeit und auf anstrengenden Konferenzen … und auch natürlich – das sagen sie uns allerdings nicht – beim Stuhlbeinsägen, beim Mobbing und bei kollegialen Grabenkämpfen …

Erst später am Abend, wenn die Rush Hour vorbei und die Stadt wieder still ist, trudeln endlich, endlich auch sie heim zu ihren Lieben und Liebsten, in ihre Clubs und Bars und Edelpuffs … Die Neun-Uhr-Kohorte: das sind die Märtyrer. In den Sagen und Legenden des „Wirtschaftswunders“ sind sie es, die die schweren Lasten des großen Aufschwungs zu schultern hatten.

Reise in die Flaschenkeller

Fast vierhundert Arbeitstage habe ich in drei der großen Dortmunder Bierfabriken verbracht. Fast vierhundert Mal habe ich die Reise in die Flaschenkeller angetreten, in die Vollgut- und Leergutkeller, zu den Abfüllanlagen an die Fließbänder, zu den Fasshallen, in die Hopfenlager und auf die Verladerampen.

Der Übergang in die andere Welt sah immer gleich aus:

Immer schritt ich durch ein großes Werkstor und meldete mich am Fenster der großen verglasten Pförtnerloge, die gleich hinter dem Tor lag. Hier bekam ich meine „Hundemarke“, eine metallene Plakette mit einer Nummer. Der Mann in dem Glaskasten nahm sie von einem der großen Bretter, die in seinem Glaskabuff hingen und die mit zahlreichen Häkchen versehen waren. Jeder Malocher hatte „seine“ Nummer. War die Plakette überreicht und das Häkchen am Brett leer, so hieß das: der Malocher war angekommen, war ins Werk eingesickert und hatte ordnungsgemäß seine Schicht begonnen.

Beim ersten Mal – wie alle Male – ging ich dann im Pulk der Malocher über die ausgedehnten Fabrikhöfe, auf denen die zahlreichen Lieferfahrzeuge herumstanden oder -kurvten, auf irgendein Gebäude zu. Im ersten Stock des Gebäudes befanden sich zwei Einrichtungen, die für jeden Brauereimalocher ganz selbstverständlich sind, da sie zu seinem normalen Alltag gehören. Für mich waren sie Orte der Verwandlung, die bereits am Werkstor begonnen hatte und hier nun vollendet wurde. Schleusen in die Arbeitswelt, in die Unterwelt der Maloche.

Der erste Ort war der „Schalander“.

Abgeleitet von dem Wort „Chalet“, so das Lexikon, war dies einst der repräsentativ ausgestattete Schankraum oder Bierverköstigungsraum einer Brauerei, später dann die Unterkunft der zunftmäßig organisierten Brauer und Mälzer, in den industriellen Bierfabriken schließlich der Frühstücks- und Umkleideraum der Malocher.

Die Schalander, die ich kennenlernte, waren alle gleich: hallenartige große Räume mit mehr als hundert schmalen Metallspinden an den Wänden und als Raumteiler quer in die Halle gestellt, dazwischen lange, schmale Tische, wie man sie in Biergärten findet, mit den entsprechenden langen Bänken ohne Lehne. Zunftmäßig organisierte Brauer und Mälzer fand man hier nicht mehr: alle waren jetzt „Hilfsarbeiter“, Malocher wie ich. Meine Malocherkumpel der ersten Frühschicht meines Lebens strömten in den Schalander und zogen mich mit rein. Dort geschah fast ruckartig die Verwandlung:

Plötzlich standen alle um mich herum in ihrer Unterwäsche da, Arbeiterunterhosen in Grau-Blau oder auch schlabbriger weißer Schießerripp, in Socken, damals sogar oft noch mit Sockenhaltern. Ordentlich, unordentlich, sauber, schmierig – die Unterwäsche war Anlass für grobe Witze. Neben mir plötzlich lauter halbnackte Körper, Schweißgeruch, Fußgeruch: mächtige und schmächtige Körper, hagere und fette, alte und junge. An die hundert halbnackte Männerkörper auf engem Raum. Das war etwas, auf das ich nicht gefasst war und was mich die ersten Male unangenehm anmachte. An meinem allerersten Fabriktag wirkte dieser ruckartige Massen-Männerstriptease fast wie ein Schock auf mich.

Auch ich verwandelte mich. Ich riss mir meine normalen Alltagsklamotten vom Leib – es musste schnell gehen, jetzt, kurz vor sechs – und stieg in die Arbeitsplünnen, die ich mir zusammengekramt hatte, ich zog die derben, abgelegten Schuhe meines Vaters an, die von nun an meine Arbeitsschuhe waren. Fertig. Nein, nicht ganz.

Einer der Männer, er war Vorarbeiter, wie sich später herausstellte, verschaffte mir das wichtigste Ingredienz meiner Verwandlung: die Brauereischürze. Die Schürze war aus derbem, grobem Baumwollstoff, Persenningstoff, rostrot, mit einem Lederbesatz vorne vor dem Bauch. Sie reichte bis zu den Knien. Alle Malocher trugen diese Brauereischürze, sie machte uns gleich. Als ich diese Schürze trug, fühlte ich, dass ich Malocher geworden war – wie sie. So uniformiert schlossen wir dann unsere Spinde ab, in der für die Zeit der Schicht die Symbole unserer bürgerlichen Existenz – das Jackett, die normale Alltagshose mit ihren Bügelfalten, das saubere Oberhemd, bei manchen Malochern gar der Schlips – weggeschlossen waren.

Der zweite Ort der Verwandlung, gleich neben dem Schalander gelegen, waren die Gemeinschaftsduschen. Vierzig, fünfzig Duschen hingen in einer großen gekachelten Halle von der Decke herab. Nach Schichtende eine wichtige Schleuse: hier spülten sich die meisten den Dreck und den Schweiß des Tages von der Haut, fünfzig verschwitzte Leiber wurden wieder rein und fein. Mit diesem Akt der Reinigung ihrer schlanken oder klumpigen, jungen oder verschlissenen Körper begann die Rückverwandlung vom Malocher zum Alltagsmenschen, vom Fabrikroboter zum Feierabendbürger, für den wieder Demokratie und Menschenrechte in Kraft traten.

***

Die morgendlichen Schalandergespräche – vor der Schicht, auf fast noch nüchternen Magen – hatten es in sich.

Besonders montags nach einem erlebnisreichen Wochenende hatte sich Stoff angesammelt. Thematisch umkreisten die Gespräche die drei großen „F“: Fußball, Frauen, Ficken. Andere Themen gab es so gut wie nie. War das uralte Thema Borussia–Schalke durch (es gab immer Fans beider Clubs), kamen die Frauen dran, genau genommen: die geilen Eroberungen vom Wochenende – mit allen Details, was ihre körperlichen Eigenschaften, ihre anatomischen und erotischen Besonderheiten betraf, und, liebevoll ausgemalt, wie man sie aufs Kreuz gelegt und gestemmt hatte. Wenn ich richtig rechne: über sechzig Montage habe ich diesen Gesprächen zugehört. Eine dicke Kladde hätte ich vollschreiben können mit ihren maßlosen Angebereien, ihren obszönen Sauereien und ihren oftmals liebevoll ausgeschmückten Schilderungen, an welch seltsamen Orten und in welch seltsamen Stellungen es sich so ficken lässt.

Kurz vor sechs war Schluss mit lustig, das Gequassel verebbte. Einige von uns eilten zu ihrem Stammarbeitsplatz, den sie täglich einnahmen, ihr sicherer Hort für den Tag. Der Rest – ich war dabei – rannte zum „Appell“. Bei diesem Appell standen wir dann in einer langen Reihe nebeneinander und irgendein Meister, meist in einen grauen oder weißen Kittel gewandet, teilte die Arbeit zu.

Es gab körperlich schwere und leichtere Arbeiten und der Meister hatte die Möglichkeit, seine Gunst oder Ungunst zu zeigen: Unbotmäßige mit Schwerarbeit zu bestrafen und die Gehorsamen und Gutwilligen mit „Lau-Maloche“ zu beglücken. Er nutzte dieses Sanktionsmittel in der Regel auch nach Herzenslust – ganz bewusst und mit lauten Kommentaren. Seine „Opfer“ nahmen alles hin ohne aufzumucken. Auf mich, als den „Ferienschüler“, nahm er meist Rücksicht und teilte mir eine erträgliche Arbeit zu. Nur ein einziges Mal in all der Zeit da unten in den Flaschenkellern wurde ich bestraft und musste unsäglich schwere volle Holzfässer bugsieren. Nach jener Schicht in der Strafkolonie der Fasshalle, so erinnere ich mich noch gut, war ich kaputt.

Die Frühschicht ging bis vierzehn Uhr und in jenem Hitzesommer 1959 durfte ich aus Altersgründen nur Frühschichten absolvieren, das hatte das Personalbüro so festgelegt. Viertel vor zehn war Pause: fünfzehn Minuten. Und sogar bezahlt! Das hatte die NGG so ausgehandelt. Faktisch wurden mit An- und Abmarsch zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten daraus.

In der Nähe des Schalanders, der in der Pause zum Frühstücksraum wurde, befand sich die Ausgabestelle für den „Haustrunk“ und gegen Vorlage der „Hundemarke“ bekam man seine sechs Flaschen Bier – eine davon ließ ich mir als Malzbier geben und spülte damit meine Pausenbrote runter. Dann kam die zweite Hälfte der Schicht, die meist öde, lang und anstrengend wurde.

In jenem heißen und hellen Sommer, den ich in kühlen und dunklen Lagerkellern verbrachte, kam gleich am ersten Tag gegen Ende der Schicht ein fröhlicher, immer gut gelaunter Vorarbeiter auf mich zu:

„Willste Überstunden machen? Du brauchst doch Geld, oder? Du kannst zwei machen oder vier. Für die ersten beiden gibt’s zehn Prozent Aufschlag, für die letzten beiden fünfundzwanzig. Na? Ist das nix?“

Er grinste mich auffordernd an. Ich grinste zurück und sagte:

„Vier.“

„Hab’ ich mir doch gedacht. Na schön.“ Er trug meinen Namen in eine Liste ein.

Von nun an kam er jeden Tag, den ich dort zubrachte. Ich brauchte ihm schließlich nur noch von weitem vier Finger zu zeigen: dann grinste er und machte sein Häkchen auf der Liste. Jeden Ferientag in diesem Jahrhundertsommer arbeitete ich zwölf Stunden. Ich arbeitete auch am Sonnabend (vor den Zeiten der Fünftagewoche): acht Stunden. Ich hatte fast sechs Wochen lang eine Achtundsechzigstundenwoche. Ich verdiente mehr als doppelt so viel wie mein Vater in dieser Zeit und zahlte mein Geld in die Haushaltskasse ein. Das war mir wichtig. Ich wollte autark sein und kein Privileg vor meinen älteren Geschwistern haben, die bereits in einer Lehre steckten. Ich verdiente in diesen fünfeinhalb Wochen so viel wie sie in den drei Jahren ihrer Ausbildung insgesamt an Lehrgeld bekamen.

***

Um die vierhundert Mal in meinem Leben bin ich in die Keller dreier großer Stadtbrauereien eingeritten, Brauereien, die einst Dortmunds Ruhm als „Bierstadt“ begründeten und die seltsamerweise allesamt untergegangen sind. Etwa fünfundfünfzig Arbeitstage habe ich auf Baustellen zugebracht und um die hundert Arbeitstage saß ich als White Collar Worker auf den Bürostühlen der Dortmunder Sparkasse. Das war meine Basis.

Das war das finanzielle Fundament, das es mir ermöglichte, die „höhere Schule“ zu besuchen und zu studieren. In jener Zeit selbst allerdings, „damals“ also, als „jenes ferne Ich“, sah ich die Reisen in die Flaschenkeller eher als etwas „Anstößiges“ und als soziale Benachteiligung gegenüber meinen Mitschülern und Kommilitonen. Sie mussten nicht von der Schulbank oder aus dem Hörsaal in die Malocherwelt mäandern, hatten mehr Muße, ihre Schul- oder Unikarriere zu befördern, mehr Freizeit und Erholung. Ich kam mir ihnen gegenüber zeitweilig als Underdog vor – immer mit dem damit verbundenen sozialen Schamgefühl.

Erst nach mehreren „Arbeitseinsätzen“ begann ich, das Ganze anders zu sehen: als Reisen in soziale Räume, die ich auf der Einspurbahn eines Jungen „aus gutem Hause“ niemals kennengelernt hätte. Mein Blick auf die Gesellschaft wurde fast unmerklich umgemodelt und neu geprägt. Ich erkenne das vor allem daran, dass noch heute die Erinnerungen an mein Malocherleben lichter, zahlreicher und farbiger sind als die Erinnerungen an mein Schüler- und Studentenleben. Unsere Armut, die mich aktiv werden ließ, bewirkte eine Erweiterung meiner Welt. Die Reisen in die Flaschenkeller waren echte Reisen. Abenteuerreisen in unbekannte Sphären.

Der Verliebte

Gleich mein erster Arbeitstag brachte mich in eine Situation, die mir völlig neu und unbekannt war. Sie war mir nicht nur nicht geheuer, sie war mir sogar im höchsten Maße unangenehm – und zwar deshalb, weil ich zu der Zeit noch angefüllt war mit den abstrusesten und widerwärtigsten Vorurteilen, die unsere Gesellschaft je einer bestimmten Menschengruppe gegenüber entwickelt hat.

Der Hallenmeister teilte mir eine Arbeit in den Flaschenkellern zu und ich ging mit einer Gruppe von Männern durch Gänge und Hallen, über verschachtelte Höfe an den Ort, wo ich schließlich meine Muskelkraft einzusetzen und meine Energie abzuliefern hatte.

Bei diesem Marsch durch das Fabrikgelände legte mir einer der Stammmalocher seinen Arm um den Hals herum auf die Schulter, zog mich an sich und begrüßte mich freundlich als den Neuling in der Kolonne, fragte nach meiner Schule, was ich ansonsten so mache und dergleichen. Er war etwa fünfunddreißig, etwas kleiner als ich, kräftig, ein wenig feist, mit dicken muskulösen Armen, die feucht und schweißig waren. Das spürte und roch ich deutlich, denn einer davon lag an meinem Hals.

Zunächst war ich ein wenig gebauchkitzelt, in dieser Weise formell in den mir noch unbekannten Stamm der Fabrikmalocher aufgenommen zu werden, bald jedoch kam mir sein Gebaren seltsam vor. Er ließ nämlich seinen Arm auf meiner Schulter liegen, drängte sich an mich und redete weiter auf mich ein. Wir könnten doch nach Feierabend mal ein Bier zusammen trinken, er könne mir so einiges erzählen, über die Arbeit, über die Kollegen, über das, was mich hier so erwarte – und was weiß ich noch alles. Mir wurden die körperliche Enge, sein Geruch, sein Atem unangenehm, ich beschleunigte meine Schritte und schüttelte seinen Arm ab, der schwer auf meiner Schulter gelegen hatte. Ich lief jetzt neben einem anderen Arbeiter her, einem hochgewachsenen Blonden. Der guckte auf mich herunter und grinste:

„Der ist am siebzehnten Fünften geboren. Der ist scharf auf dich.“ Er lachte und fügte hinzu: „Schwule Sau. Sieh dich vor.“ Aha.

Da stiefelte also Klein Hänschen in die Welt hinaus – und lernte die Welt gleich richtig kennen, mit all ihren „Perversionen“, ohne Umschweife.

Das Wort „schwul“ war mir – „abstrakt“ – durchaus geläufig, es gehörte bereits zum Vokabular unseres Kinder- und Schülerjargons. Es war mit den Konnotationen und Assoziationen belegt, die in den allermeisten Männerhorden der Erwachsenenwelt im Schwange waren. Schwul sein – das wusste man, wenn man auch sonst nichts darüber wusste – war das Widernatürlichste, Widerwärtigste, Perverseste, Ekelhafteste, was man sich als Mann nur so vorstellen konnte. Mit dieser selbstverständlichen und unumstößlichen gesellschaftlichen „Wahrheit“ war auch ich abgefüllt worden:

„Einer, der seinen Arsch hinhält, sich einen reinschieben lässt, sich den Mastdarm versilbern lässt – einer, der andere Männer oder kleine Jungs in den Arsch fickt“, erklärte mir ein „Großer“, nachdem ich als schon etwas älteres Kind einmal naiv nachgefragt hatte, was eine „schwule Sau“ denn eigentlich sei – ein Schimpfwort, das auch in unseren Kinderhorden schon gang und gäbe war.

Der schwule Malocher jedenfalls hatte es auf mich abgesehen, das war deutlich zu erkennen. Wann immer er mich in den folgenden Tagen und Wochen irgendwo entdeckte, auf dem Gelände oder in den Kellern, kam er auf mich zu, zog mich in ein Gespräch und musste mich dabei beiläufig bis plump berühren, befingern und seinen Arm auf meine Schulter legen. Eigentlich hatte ich gar nichts gegen ein Gespräch mit ihm, aber sein aufdringliches Begrabbeln und Betatschen waren mir unangenehm und vor den anderen Malochern entsetzlich peinlich.

Einmal erwischte er mich mitten auf dem Hof, gewissermaßen auf offener Bühne, und etliche Arbeiter schauten grinsend und hämisch zu, wie ich mich vergeblich gegen seine Aufdringlichkeiten wehrte. Plötzlich geschah etwas Ungewöhnliches:

Eine ungemein dicke und kräftige Arbeiterin mit ungemein dicken und muskulösen Armen kam quer über den Platz auf uns zu gelaufen, baute sich vor dem Schwulen auf, schwenkte ein einziges Mal ihren dicken rechten Arm durch die Luft, dicht an seiner Nase vorbei, und sagte: „Hau ab!“

Sie war die Vorarbeiterin einer Frauenkolonne, von deren Existenz ich bisher noch gar nichts wahrgenommen hatte. Diese Frauenkolonne wurde offenbar für die verschiedensten Arbeiten eingesetzt und schweifte, so hatte es den Anschein, ziemlich frei und autonom durch das Werksgelände. Ein Stamm wilder Weiber.

„Ich kann im Moment noch Leute gebrauchen“, sagte sie zu mir. „Komm mit.“

Offenbar hatte ein mütterlicher Instinkt sie veranlasst, mich aus den Fängen des „Kinderverderbers“ zu befreien und sie steckte mich zu ihren Frauen, für die ich eine willkommene und amüsante Abwechslung war, wie ich sofort merkte. Sie erkannten auf Anhieb die Unschuld vom Lande in mir, den „Milchbubi“, den sie dann auch schamlos hops nahmen. Sie erkundigten sich nach meinem Sexualleben, mutmaßten, dass ich meine Unschuld noch nicht verloren hätte und darum dringend eine Frau brauchte, die sie mir verschaffen wollten. Sie fingen an, sich lauthals Schweinkramwitze und unglaubliche Bett- und Buschgeschichten zu erzählen, lachten über meine etwas steifen Reaktionen und begannen, mir detailliert ihre letzten „Nummern“ zu schildern.

„Komm her zu mir! Komm, Kleiner! Komm zu Mama unter die Schürze!“ Eine sehr, sehr dralle Blonde mit großen Brüsten tanzte vor mir herum. „Ich mach dich zum Mann. Ich verschaff dir einen Orgi, den du dein ganzes Leben nicht mehr vergisst!“

Mit diesem Überfall der Weiberbrigade hatte ich nicht gerechnet. Ich war hilflos und unfähig, mich zur Wehr zu setzen. Sie spießten mich auf und ich zappelte und wand mich verzweifelt wie ein an die Wand genagelter Aal. Ich war vom Regen in die Traufe geraten.

Schließlich brach der Schutzinstinkt bei der dicken Vorarbeiterin wieder durch: „Geh runter. Melde dich beim Hallenmeister. Lass dir eine andere Arbeit geben.“ Sie juxten und johlten hinter mir her und machten mir die tollsten Angebote für den Feierabend. Ich haute erleichtert ab.

***

Die Geschichte meiner Bekanntschaft mit dem Schwulen kulminierte schließlich in einer unangenehmen Szene.

Ich sitze mit den anderen Malochern an einem der langen Tische im Schalander, es ist Frühstückspause. Ich mümmele geistesabwesend und tief in Gedanken meine Pausenbrote und schütte geistesabwesend und tief in Gedanken mein Malzbier hinterher. Plötzlich legen sich zwei feiste feuchte Arme auf meine Schultern und reiben sich an meinem Gesicht, zwei feuchte feiste Hände halten mir die Augen zu. Jemand hinter mir schiebt seinen Bauch an meinen Rücken und macht einen albernen Scherz. Im ersten Moment weiß ich gar nicht, was los ist. Ich springe erschrocken auf und drehe mich um: da steht er wieder vor mir, der kleine, feiste Schwule mit den schweißigen Armen. Noch ehe ich überhaupt etwas sagen kann, bricht ein Orkan los:

„Schwule Sau … Dreckschwein … Lass den Jungen in Ruhe … Arschficker … Ich polier dir die Fresse, wenn du den noch einmal anfasst … Dich sollte man enteiern … Verpiss dich … Unter Adolf hätten sie dich vergast …“ Es war ungeheuerlich, was da abging.

Er verließ trotzig grinsend, aber – wie ich deutlich sah – ziemlich erschrocken den Schalander. Ich war einerseits froh, dass sie ihn weggescheucht hatten, andererseits war ich übel angemacht angesichts der extremen Aggression, die hier explodiert war. Ihre hasserfüllten Sprüche widerten mich an, aber sie entsprachen voll dem Geist der Fünfziger Jahre.

Das war die Mördersprache aus dem Land Davor. Erst anderthalb Jahrzehnte waren seit dem Holocaust an den Schwulen vergangen, durchgeführt von Leuten, die noch lebten, die um mich herum waren und die Sprache sprachen, die ich im Schalander zu hören bekam.

Es bedurfte der geistigen Wende in den späten Sechzigern und der klugen, kritischen Diskurse und Aktionen der Siebziger, dass ich – wie viele andere meiner Generation – anfing, den geistigen Morast, den die Vorgängergeneration in mir abgelagert hatte, trocken zu legen. Die morbiden Verstörungen der Gesellschaft, in der ich aufwuchs, wurden erst zehn Jahre später offen und aggressiv thematisiert. Das Schwulenvorurteil, das in den Männerhorden aller sozialen Schichten seit jeher gepflegt wurde (und das auch in mich eingepflanzt worden war, wie in jeden Jungen meiner Zeit) ist nicht so leicht zu knacken. Homophobie und Sexismus werden aus der Tiefe eines psycho-sozialen Sumpfs immer wieder an die Oberfläche gespült. Viele meiner Generation machten einen langen, sehr gründlichen intellektuellen Prozess durch, in dem dieses geistige Erbe zertrümmert und entsorgt wurde.

Nehmen wir einmal an, sagte ich mir später, als dieser Prozess bei mir gelaufen war, nehmen wir einmal an, ich wäre Mitte dreißig gewesen, damals, voll in Saft und Kraft – strenggläubig heterosexuell. Und ich wäre Vollmalocher in dieser Fabrik gewesen: seit Jahren eine eintönige, langweilige Arbeit, bis ins Rentenalter eine eintönige, langweilige Arbeit … Und die Fabrik hat eine Frauenkolonne, eben jene „Weiberbrigade“, die mich für einen halben Tag in ihrer Mache hatte. Und nehmen wir nun an, eines Tages entdecke ich unter den Malocherinnen eine Neue, eine Schöne, eine zarte Blonde mit allem Drum und Dran. Sie! Siebzehn Jahr, blondes Haar … Ein schlanker Körper mit all den richtigen Wölbungen an all den herrlichen Stellen, ein sanftes, süßes, spöttisches Milchgesicht mit unschuldig wissenden, witzigen grau-blauen Augen, die lachen und locken, ein wippender Pferdeschwanz …

Könnte es da nicht sein, dass ich mich in sie verknallt hätte? Dass ich ihre Nähe gesucht hätte? Das Gespräch mit ihr? Sie vielleicht ganz beiläufig berührt hätte beim Anbändeln? Bon! Ich wäre also verknallt in sie gewesen, ich wäre scharf auf sie gewesen. Das ist doch ganz einfach zu verstehen.

Er war damals halt verknallt in mich, scharf auf mich. Ich war sein Liebesobjekt: die Schöne mit dem Pferdeschwanz. Ich weiß nicht, warum das bei ihnen so ist – es ist nun einmal so. Liebesobjekt eines Mannes zu sein: das war das Neue für mich und es war mir ausgesprochen unangenehm. Ich konnte nicht damit umgehen, denn ich wuchs auf in der Zeit des § 175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Praktiken mit Zuchthaus ahndete. Das war die Zeit der selbstverständlichen Verachtung für alle, die „andersrum“ waren.

***

Gleich an meinem ersten Arbeitstag wurde ich im Flaschenkeller eingesetzt, Leergut.

In einer großen unterirdischen Halle, ausgeleuchtet mit Neonröhren, standen hunderte und aberhunderte Bierkästen mit leeren Bierflaschen, sieben, acht Kästen hoch gestapelt, in großen Blöcken angeordnet, mit schmalen Gängen dazwischen. In der Frühschicht wurde das alles, was hier am Nachmittag und Abend des Vortages abgeladen worden war, wieder abgebaut und zurück in den Produktionsprozess gebracht. Ich und einige andere griffen uns Kasten für Kasten, stundenlang, die ganze Schicht lang, und setzten sie in schnellem Takt auf ein Förderband, um die Abfüllanlage zu füttern. Wir bewegten uns unaufhörlich, ohne Pause, hin und her. Zuweilen, wenn der Keller schon ziemlich leer war, musste man mit dem Kasten vor dem Bauch erst eine ziemliche Strecke ablaufen, um ihn dann am Förderband loszuwerden. Diesen Vorgang wiederholte ich einige hundertmal am Tag und etliche tausendmal in den Wochen und Monaten, die ich in den Dortmunder Leergutkellern zubrachte. Ich hetzte hin, ich hetzte her.

In den Flaschenkellern arbeiteten ich und die anderen Malocher meist schweigend nebeneinander. Wir hatten uns nicht viel zu sagen. Wenn es hoch kam, sprach ich vielleicht zehn Sätze pro Achtstundenschicht, es sei denn, ich hatte ausnahmsweise mal einen redefreudigen Kollegen neben mir. Das war aber nur sehr selten der Fall.

Die Kästen, die wir aufs Förderband warfen, liefen kurz darauf an einem besonderen Arbeitsplatz vorbei, an dem zwei Männer die Aufgabe hatten, sie zu entleeren. Sie standen nebeneinander und griffen mit beiden Händen immer je vier Flaschen aus den vorbeifahrenden Kästen und stellten sie auf ein schmales „Flaschenförderband“: klack, klack, klack … Das musste schnell und ruckzuck gehen.

Wenn ich dort eingesetzt war, griff ich in flottem Rhythmus mit jeder Hand je zwei Flaschen mit den Fingern, die eine zwischen Zeige- und Mittelfinger, die zweite zwischen Ring- und kleinem Finger, linker wie rechter Hand, und „klack“ standen sie auf dem schmalen Band und liefen davon. Tausende ausgetrunkener schmutziger Flaschen brachte ich so in meinen Schichten in Fahrt.

An welcher Stelle ich auch eingesetzt war – immer waren es solche einfachen, banalen Verrichtungen, die ich in den Stunden der Schicht und in den Wochen und Monaten meiner Schul- oder Semesterferien unzählige Male wiederholte. Alles Leben, alles Lebendige in uns Malochern wurde runter gebracht auf die Ebene eines völlig trostlosen Stumpfsinns. Das war eigentlich das Schlimmste an dieser Art „Arbeit“ und ich konnte das alles nur durchstehen, indem ich mir sagte: es geht vorüber, ich komme hier wieder heraus. Ich tue das alles nur zeitweise, für „mein Projekt“, „mein Ding“. Ich brauche das Geld.

So dachte ich und so hielt ich es auch durch. Aber ich sah die anderen um mich herum und wusste, dass sie – wie die meisten ihrer Klasse – hier oder in ähnlichen „Mensch-Maschine-Systemen“ für ihr Leben gefangen waren. Ich weiß, dass ich Mitgefühl mit ihnen hatte, aber ich muss gestehen, dass dieses Gefühl damals noch eine besondere Färbung hatte. Es war eher ein leicht dünkelhaftes Mitleid von einem, der wusste, dass er selbst nicht ganz dazu gehörte und der wieder heraus kriechen würde aus dem Elend.

Ich hatte noch kein Wissen darüber, dass banale, monotone Industriearbeit, die alles Schöne, alles Farbige, alles Lebendige abtötet, das Schicksal von abermillionen Menschen auf unserem Globus ist und ihr Leben grau und schäbig macht.

***

Wenn ich Glück hatte, malochte da jemand neben mir, der irgendwas erzählte, irgendwas quasselte, egal was. Dann verlief die Zeit nicht so zäh und die Leere der Arbeit ließ sich leichter ertragen. Was da erzählt wurde, war mir schon bald völlig egal, Hauptsache, es wurde erzählt.

Ich erinnere mich, dass ich einst tagelang neben einem pummeligen, etwa fünfundvierzigjährigen Mann stand, der mir durch sein stetes, leicht schiefes und verschwiemeltes Grinsen aufgefallen war, und der, wann immer er den Mund aufmachte, irgendeine Obszönität vom Stapel ließ. Er war ein „Schweinkram-Erzähler“, ein Typus, den man in Männerhorden immer wieder antrifft.