Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 2», sayfa 7

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Wir standen tagelang parallel nebeneinander, wir guckten beide auf dieselbe schmutzig weiße Kellerwand gegenüber. In unaufhörlichem, stetem Rhythmus griffen wir uns die vier Flaschen aus den Leergutkästen, die an uns vorbeizockelten, und stellten sie auf das schmale Förderband. Über Stunden, Tage – letztlich zwei Wochen lang – erzählte er mir im Detail sein gesamtes Liebesleben und all seine erlebten, geträumten, ausgedachten erotischen Abenteuer, wobei er bei der Schilderung all seiner Nutten, ihrer anatomischen Besonderheiten, seiner Vögelstellungen und seiner Perversionen geradezu in Verzückung geriet. Er hatte kein anderes Thema. Nichts, was es sonst noch gab auf dieser Welt, interessierte ihn. Anfangs hörte ich ihm noch amüsiert zu, irgendwann war er mir zuwider.

Einmal traf ich ihn „nach Schicht“ an der Pförtnerloge und wir schritten gemeinsam durch das Werkstor in die Freiheit. Draußen warteten seine Frau und drei kleine Mädchen, seine Töchter. Er winkte mir noch einmal zu, lachte, herzte seine Kinder und schritt mit ihnen fröhlich von dannen. Ein biederer, akkurat gekleideter Ehemann und Familienvater, jetzt voller Würde, vielleicht ein geliebter Papa …

***

Wenn die Flaschen auf ihr spezielles schmales Förderband gesetzt worden waren, wurden sie nach einer kurzen klickernden Fahrt von einer monströsen Maschine geschluckt, die allgemein „Pasteur“ genannt wurde. Hier wurden sie gereinigt – „pasteurisiert“ – und durchliefen danach die Abfüllanlage, das heißt, sie wurden an jeweils verschiedenen Maschinen mit Bier gefüllt, verschlossen, etikettiert und schließlich wieder von Menschenhänden in die Bierkästen gepackt.

Überall an der Anlage standen Menschen. Sie beobachteten und kontrollierten ihre Maschinen, waren aber allesamt isoliert voneinander: Verständigung erfolgte nur über kurze Zurufe. Das Tempo, den Takt, den Arbeitsrhythmus gab die Anlage vor: da gab es keine Freiheit.

Wenn ich selbst am Fließband stand, war mein Hauptproblem die Zeit, die sich so zäh vorwärts bewegte, dass ich oft den Wunsch verspürte, alles hinzuschmeißen. Es gab zwei Unterbrechungen pro Schicht: wir hatten das Recht, zweimal pro Schicht „austreten“ zu dürfen, einmal vor, einmal nach der Pause. Es gab einen Springer, der uns das Pinkeln ermöglichte.

Die Malocher eilten dann zu den Toiletten, machten die Tür hinter sich zu, setzten sich auf den Pott, kackten und „rauchten sich eine“, wie man hier im Ruhrpott sagte. Der Geruch, der dabei entstand, das Miasma aus Kackedampf und Zigarettenqualm, blieb für mich seit jener Zeit und dann für immer der „Sklavengeruch“ schlechthin: der Gestank der Ausbeutung. Eine Mischung, die mich würgen ließ, wenn ich selbst den „Ort“ aufsuchte, um zu pinkeln und mir die ersehnte kleine Pause zu verschaffen.

Im Zwischendeck

Ich hatte schon einiges erlebt und etliche Arbeiten hinter mir, als ich ins „Zwischendeck“ abkommandiert wurde. Der Vorarbeiter, der mir meine Arbeiten zuwies, schaute mich eines Morgens – wie mir schien – sinnend und nachdenklich an, so, als sei ihm gerade eine bestimmte Idee gekommen, und sagte dann: „Komm doch mal mit.“

Er ging mit mir an dem Förderband entlang, auf dem die leeren Bierkästen, deren Flaschen die vier Hände der zwei Flaschengreifmalocher in den „Pasteur“ geschickt hatten, weiterliefen. Das Band, auf dem die leeren Holzkästen davon rollten, stieg leicht an und verschwand schließlich in einem Loch in der Wand. Neben dem Loch in der Wand befand sich eine etwas höher gelegene, mit Eisenblech verkleidete Tür, die man über ein kleines Eisentreppchen erreichte. Wir gingen durch diese Tür und befanden uns, wie es mir erschien, in einer Art „Zwischendeck“ zwischen den Kellern und der Abfüllhalle, einem ziemlich großen Raum mit sehr niedriger Decke.

Als ich eintrat, rumpelte linker Hand von mir das Förderband durch den Raum und verschwand nach etlichen Metern wieder in einem Loch der gegenüberliegenden Wand. Dort wurde es durch einen Schacht geführt, der etwa – wie ich später feststellte, wenn ich darin herum kroch – fünf Meter lang war. Das Band stieg auch hier an und oben – am Ende des Schachtes, durch ein Loch am Ende des Tunnels – sah ich einen winzigen Ausschnitt der Abfüllhalle, ich hörte den Lärm der Maschinen, und ich sah auch den Ausschnitt eines menschlichen Körpers – nur den Rumpf, keinen Kopf. Das war der Arbeiter, der da oben am Ende der Abfüllanlage stand und die fertigen, gefüllten und etikettierten Bierflaschen in jene leeren Kästen packte, die hier durch das „Zwischendeck“ zu ihm hoch flossen.

An diesem Förderband im „Zwischendeck“, das – wie gesagt – links in einem Loch in der Wand entsprang und rechts in einem Loch der gegenüberliegenden Wand wieder versickerte, stand ein älterer Arbeiter mit weißen Haaren. Der Vorarbeiter, der mich hierher geschleppt hatte, sprach ihn an:

„Ablösung. Zeig dem Jungen, was er zu tun hat. Und dann melde dich bei mir!“

Der Alte sah den Vorarbeiter an und grinste, dann sah er mich an und grinste. Als ich zu dem Vorarbeiter hinschaute, sah ich, dass auch der grinste. Irgendetwas war nicht ganz koscher an dieser Arbeit, das spürte ich deutlich: die beiden wussten um irgendein Geheimnis. Vermutlich hatte die Arbeit hier im „Zwischendeck“ einen Haken, den ich noch nicht sah. Es dauerte nur wenige Stunden, bis mir – zunächst fast unmerklich und in den folgenden Tagen dann immer deutlicher – bewusst wurde, was es war.

Der weißhaarige alte Mann erklärte mir, was ich zu tun hatte. Es war simpel und ich freute mich, dass die Arbeit leicht zu bewältigen und überhaupt nicht anstrengend war. Das war mir schon sehr wichtig, denn ich arbeitete täglich zwölf Stunden – da musste ich mit meiner Kraft haushalten.

Ich hatte die Unfälle meiner ersten Ferienmaloche ein Jahr zuvor noch gut in Erinnerung – den Knacks in der Wirbelsäule, die blutigen Hände, den Kinnhaken beim Sturz vom Gerüst – und achtete hier sehr darauf, dass die Arbeit einigermaßen leicht zu bewältigen und möglichst nicht allzu gefahrenträchtig war.

Die Holzkästen, die von unten kamen, mussten daraufhin überprüft werden, ob sie heil waren, ohne Makel. Die kaputten hatte ich auszusortieren und durch heile, reparierte zu ersetzen, von denen ein größerer Vorrat im „Zwischendeck“ herumstand. Stockte die Lieferung von unten, so hatte ich das Band aus meinen Vorräten zu bestücken. Stockte die Anlage oben, so hatte ich die Kästen vom Band zu nehmen und abzustapeln. Verklemmten sich die Kästen in dem Schacht nach oben und gab es dort „Kastensalat“, Chaos, so hatte ich in den Schacht zu kriechen und mit einem langen eisernen Schürhaken alles wieder zu richten. Vereinzelte beschädigte oder stark verschmutzte Flaschen ließen die Auspacker unten einfach in den Kästen stehen und schickten sie zu mir ins „Zwischendeck“. Ich warf sie in eine Tonne, die für diesen Zweck bereitstand, und schüttelte darin auch den ganzen Kasten aus, wenn er voller Scherben und Glassplitter war, was immer mal wieder vorkam.

„Leichte Arbeit“, verabschiedete sich der weißhaarige Alte, „viel Spaß.“

Er verschwand durch die Eisentür in der Wand. Als die schwere Eisentür mit einem „Plopp“ hinter ihm ins Schloss fiel, spürte ich instinktiv die Veränderung.

Ich sah mich um.

Der Raum war recht groß, mit niedriger Decke, er hatte keine Fenster, kein Tageslicht. Ein paar Neonröhren gaben ein eher trübes Licht. Im hinteren Teil des Raumes sah ich Werktische an den Wänden, an denen Schraubzwingen befestigt waren. Werkzeug lag auf ihnen herum, Hämmer, Zangen, kleine handliche Meißel, Kästen mit Nägeln und Krampen. Vor den Werkbänken, zu mir hin, standen zwei Sägeböcke mit kleinen Kreissägen. Offenbar war es so, dass hier von Zeit zu Zeit die kaputten Bierkästen repariert wurden, die immer mal wieder von unten ankamen und abgestapelt wurden.

Der Raum war still, ich hörte kaum Geräusche von außerhalb. Die Welt um mich herum war schlagartig weg, nachdem die Eisentür „Plopp“ gemacht hatte. Und während ich meinen simplen Verrichtungen nachging, rieselte ganz allmählich in mein Bewusstsein, dass ich von nun an die ganze Schicht lang allein war. Und genau das war das Besondere an meiner Arbeit im „Zwischendeck“. Ich war allein. Schlicht allein. Ganz allein eben. So ganz ohne einen Menschen. Da war wahrlich kein Mensch außer mir selbst.

Das war ein herber Verlust. Denn in den folgenden Tagen spürte ich, dass mir die Kontakte mit den Kollegen – so dürftig, so ärmlich und beschränkt sie auch waren – fehlten. Hatte ich ihre Sprüche oft doof, langweilig oder unappetitlich gefunden, so fehlten sie mir jetzt ganz.

Immer gab es einige, die mich gehässig und neidisch anpissten, weil ich „Gymnasiast“ war – also in ihrer Wahrnehmung aus „höheren Sphären“ stammte – und die ich dann selbst anpflaumen musste, um mich zur Wehr zu setzen. Selbst so etwas fehlte mir nun.

Auch das übliche Gebölke und das Ankacken seitens der Vorarbeiter und Hallenmeister: es fehlte mir. Es fehlte, so dämmerte mir mit der Zeit, überhaupt der Anblick von Menschen, Menschen, die ich sehen konnte, selbst wenn ich nicht mit ihnen kommunizierte. Denn sie waren das einzig Vertraute in dieser absurden Industriewelt, die mir noch so neu war. Einzelhaft.

***

Morgens kurz nach sechs stand ich bereits im „Zwischendeck“, eine Zeit, in der meine Geschwister, mein Vater, alle meine Klassenkameraden noch schliefen. Die Minuten, die Stunden vergingen langsam, sehr langsam, zäh, sehr zäh. Den ersten Kontakt zur Welt hatte ich erst wieder nach fast vier Stunden: dann klopfte der Malocher von oben, von dem ich nur einen Torso kannte, gegen das Förderband und rief „Frühstück“ durch den Schacht. Den zweiten Kontakt mit einem Menschen hatte ich gewöhnlich gegen ein Uhr Mittag. Dann öffnete sich die Eisentür, der fröhliche Vorarbeiter erschien, dem ich meine vier Finger zeigte: vier Überstunden – bis sechs Uhr nachmittags.

„Hier?“, fragte er dann und ließ seinen Arm durch den Raum schweifen.

„Ja“, sagte ich und er notierte alles in seiner Liste für den Hallenmeister der Nachmittagsschicht.

Nach der viertelstündigen Mittagspause um zwei verbrachte ich also noch mal fast vier Stunden im „Zwischendeck“. Einzelhaft, zu der ich mich selbst verurteilt hatte.

Nach zwei, drei Tagen dachte ich bereits darüber nach, dass ich – na schön – zwar keinen körperlichen Schaden davon tragen würde – die Arbeit war wirklich nicht anstrengend –, aber vielleicht doch, so befürchtete ich ernsthaft, eine psychische Macke. Ich dachte, dass das Alleinsein dazu führen könnte, dass ich – schleichend und womöglich unmerklich – meschugge werden könnte, ein wenig verrückt, skurril oder sonst wie „anders“. Ich beobachtete mich selbst, horchte in mich hinein in den langen einsamen Stunden im „Zwischendeck“, habe aber nie ernst zu nehmende Anzeichen oder Symptome einer beginnenden Geisteskrankheit feststellen können.

Trotzdem nahm ich mir vor, mich zu schützen und Vorkehrungen zu treffen. Naheliegend war, den Geist zu trainieren, so dachte ich, um der monotonen Arbeit und vor allem der Einsamkeit entgegenzuwirken.

Zu Beginn der Oberstufe auf dem Gymnasium wurde uns Schülern zur Auflage gemacht, sich auch freiwillig und privat mit klassischen Erzählungen und Romanen der Weltliteratur auseinander zu setzen. Man musste dann vor der Klasse darüber berichten und konnte dadurch seine Deutschnote verbessern oder stabilisieren. Ich beschloss also, die Zeit im „Zwischendeck“ für diesen Zweck zu nutzen, schleppte zwei Reclam-Hefte mit einer verstümmelten Schulversion der „Buddenbrooks“ und einer Kleistnovelle zusammen mit meinem Pausenbrot in die Fabrik und begann meinen Selbstversuch.

Jedoch: der Versuch, während der Arbeit einen längeren Text zu lesen, scheiterte auf Anhieb. So sehr ich es auch zwingen wollte: der Maschinenrhythmus zerhäckselte die Zeit und machte mein Vorhaben unmöglich. Die zwei, vielleicht gar drei Minuten, die ich maximal dann und wann herausschinden konnte, bevor ich wieder an irgendeine simple Verrichtung gebunden war, reichten nicht, zu reflektieren, nachzufühlen, einen inneren Zusammenhang herzustellen. Alles blieb oberflächlich, flach. Das Diktat des Förderbands, die Banalität der repetitiven Arbeit, setzte sich durch und gestattete keinerlei geistige Konkurrenz.

Ich versuchte es mit Lyrik und schmuggelte einen dicken Gedichtband ins „Zwischendeck“, den ich in einem Versteck deponierte. Jedoch: zerhäckselte Lyrik ist keine Lyrik. Es brachte nichts.

Ich versuchte, aus dem Gedächtnis Unterrichtssequenzen zu repetieren, mir zum Beispiel bestimmte Probleme aus dem Mathematik- oder Physikunterricht klar zu machen. Jedoch: da lief nichts, rein gar nichts.

Ich versuchte zu träumen, mir Tagträume herzustellen, erotische Träume. Jedoch: das klappte nur sehr begrenzt. Zum Träumen braucht man Muße.

Ich hatte womöglich um die zwanzig Minuten „freie“ Zeit pro Arbeitsstunde, aber da diese Minuten mir nicht en bloc gegeben waren, sondern nur als Einsprengsel, als winzige Pausen in einem steten Arbeitsablauf, nützte mir die „freie“ Zeit gar nichts. Ich empfand meine Arbeit durchaus als „Lau-Maloche“, aber auch diese „Lau-Maloche“ schnürte meinen Geist ein und gestattete mir keinerlei Freiheiten.

Schließlich gab ich alle derartigen Versuche auf.

***

Und dann – in meiner vorletzten Woche im „Zwischendeck“ – fand ich doch noch etwas, was mich aus der Tristesse meiner Höhle heraus holte, meinen sportlichen Ehrgeiz entfachte und mich geradezu heiter stimmte.

Ich verdankte die Idee Dwight D. Eisenhower, zu jener Zeit Präsident der Vereinigten Staaten und mehr oder weniger begnadeter Golfspieler. Mich hatte ein Zeitungsbild von ihm beeindruckt. Er steht auf einem Golfplatz, er holt aus, der Schläger hoch erhoben über seiner Schulter, der Körper gestreckt, leicht gebogen: ein Bild, das mich beeindruckte, ein Sport, der mir rein optisch gut gefiel: elegante Körperhaltung.

Da stand ich in meiner seltsamen Fabrikhöhle, hatte Eisenhowers Bild vor meinem geistigen Auge und besaß einen handlichen eisernen Schürhaken, nicht zu schwer, nicht zu leicht, mit einem ovalen Griff oben und einem eisernen Haken unten, etwa einen Meter dreißig lang. Mit dem hatte ich, wenn sich die Kästen verhakt hatten, in dem Schacht, der nach oben zur Anlage führte, so lange herumzustochern, bis alles wieder klar war.

Eines Morgens nahm ich ihn gedankenvoll in die Hand, sah in ihm den Golfschläger und suchte nach einem geeigneten Puck, um losschlagen zu können. Ich fand nichts Geeignetes.

Schließlich kam mir die Idee.

Ich griff mir ein halbes Dutzend der verdreckten oder leicht lädierten Bierflaschen mit ihren Bügelverschlüssen oben am Kopf, die ich in der großen Tonne zu sammeln hatte, und arrangierte sie zu einer Stafette in dem Gang, der zur rückwärtigen Wand mit den Werkbänken führte. Ich übte zunächst ziemlich lange und ausgiebig das Schwingen des Schlägers in der Luft, ohne Puck, ohne Flasche. Ich genoss das Strecken und Dehnen des Körpers, das Sausen des Schlägers, und erst als meine Bewegungen mir einigermaßen versiert vorkamen, näherte ich mich voller Spannung der ersten Flasche in der Reihe.

Ich nahm Maß, ich nahm mit meinem Eisenhauer die Eisenhower’sche Golfhaltung ein, ich konzentrierte mich auf meinen Schlag und dann – wuuusch – schoss der Flaschenkopf mit dem Bügelverschluss quer durch den Raum und knallte gegen die hintere Wand. Mit Karacho. Die Scherben der Flasche spritzten wie ein Feuerwerk durch den Raum. Ich war begeistert. Ein wunderbarer Schlag.

Mein Golfspiel ließ sich harmonisch mit der Häckselzeit, die mir die Maschine gewährte, verbinden. Wenn etliche Verrichtungen getan waren und eine kleine Pause anstand, ging ich ruhig und konzentriert auf meinen Parcours … und klack, wuuusch, krach erledigte ich die nächste Flasche. Die Scherben und die geköpften Rümpfe der Flaschen ließ ich einfach im Raum liegen: sie zeigten mir, was ich bereits geleistet hatte und dass ich mit meinem Training vorangekommen war. Erst am Nachmittag, während meiner Überstunden nahm ich Schippe und Kehrbesen und entfernte die Überbleibsel meiner Triumphe.

Ich dachte mir Schwierigkeiten und Handicaps aus. Ich stellte Flaschen auf den Sägebock, etwa in Höhe meiner Brust, ich ließ meinen Eisenhauer in hoher Geschwindigkeit über meinem Kopf rotieren, nahm auf dem Höhepunkt der Rotation Maß … und klack, wuuusch, krach … Der Kopf war ab, schoss durch den Raum und knallte gegen die Wand. Es war herrlich.

Morgens, nach Schichtbeginn, arrangierte ich geradezu lustvoll meinen Flaschenparcours, trainierte eine Zeitlang Luftschläge und dann ging es zur Sache. Konzentriert und voller Elan köpfte ich in den Häckselpausen Flasche um Flasche und achtete darauf, die Anzahl meiner Schläge sorgfältig über die gesamte Schicht zu verteilen und meinem Tag dadurch Struktur und Rhythmus, eine Gestalt, zu geben. Ich hatte keinen Hintergedanken.

Es ging mir nicht darum, irgendjemanden oder irgendetwas symbolisch zu zertrümmern. Oder vielleicht doch? Vor allem ging es mir um Perfektion und Vollendung: das wohlige Strecken und Dehnen des Körpers, die fast meditative Anspannung vor dem Schlag, der Treffer, die Scherbenexplosion, das Aufschlagen des Flaschenkopfes an der hinteren Wand im vorher angepeilten Terrain …

Die Zerstörung. Das Chaotische. Ich genoss das. Ich war ehrgeizig und wurde schnell immer besser.

Die Schöne

Ein einziges Mal bekam ich Besuch in meiner Einsiedlerhöhle.

Eines Tages – ich hatte gerade meinen Flaschenparcours aufgestellt und mich bereit gemacht für das Spiel des Tages – wurde die Eisentür zur Außenwelt aufgestoßen und eine Gruppe Malocher stürmte herein, zehn Männer etwa und eine Frau. Sie lachten, sie scherzten, sie waren gut drauf. Ich beseitigte hastig und unauffällig die Flaschen meines Golfparcours, während sie sich an den Werkbänken und Maschinen zu schaffen machten. Sie waren eingespielt und wussten, was sie zu tun hatten. Sie griffen sich die demolierten Kästen, die in einem großen Haufen herumlagen, und reparierten sie, entfernten defekte Leisten, brachten geborstene Kastenwände wieder in Facon, sägten Latten passgenau zu, die sie zur Reparatur benötigten, und zerschlugen nicht mehr Brauchbares zu Klump. Sie nagelten und witzelten.

Es war nämlich so: wenn die Abfüllanlage stillgelegt werden musste, weil eine ihrer Maschinen defekt war und repariert werden musste, wurde die gesamte dort eingesetzte Belegschaft zum Kastennageln ins „Zwischendeck“ abkommandiert. Es durfte keine Arbeitszeit verloren gehen, Ausruhen gab es nicht, irgendetwas „Nützliches“ musste immer getan werden.

Das war das erste und einzige Mal, dass ich „die Schöne“ bei der Arbeit wieder sah und das freute mich besonders an dem unerwarteten Besuch. Ich hatte auf den Höfen und in den Kellern immer mal wieder Ausschau nach ihr gehalten, sie aber nirgends entdecken können, nicht einmal in der Frauenbrigade, in der ich eine halbe Schicht verbracht und wo ich sie am ehesten vermutet hatte.

Jetzt trug sie einen sauberen, hellgrauen Overall, hatte die Ärmel wegen der großen Wärme aufgekrempelt und den Kragen weit aufgeknöpft. Ich freute mich, ihre schlanken nackten Arme zu sehen und den Ansatz ihrer vollen Brüste. Es freute mich auch zu sehen, dass ihre Kumpel sie mit Respekt und einer gewissen Grandezza umschmeichelten. Sie genoss das sichtlich und war voller Charme und Lebensfreude. Leider beachtete sie mich kaum, als sie mit den anderen herein stürmte, sie nickte mir nur ganz kurz zu und wandte sich dann ab. Sie tat so, als kenne sie mich gar nicht. Nun ja.

***

Ich traf sie zum ersten Mal vor meiner allerersten Schicht.

Ich wartete vor dem Hauptbahnhof auf die Straßenbahn, als sie in einem Pulk grauer Gestalten aus dem Bahnhof gespült wurde. Sie war die einzige Frau in dem Pulk. Sie war schlank und schön, hatte blonde, hochgesteckte halblange Haare, grau-blaue mandelförmige Augen, war zart geschminkt, bunt und sommerlich gekleidet. Nach meiner Einschätzung gehörte sie irgendwie nicht dazu, sie passte nicht in diese frühe Zeit, zu all diesen grauen Horden, die vor der Frühschicht um sechs die Stadt bevölkerten. Sie sah nicht aus wie eine Malocherin.

Sie war Anfang zwanzig, so schätzte ich, gut fünf Jahre älter als ich selbst. Sie hatte ein fröhliches, offenes Gesicht, das fiel auf, denn die vielen Gesichter um mich herum waren meist noch müde und apathisch. Ich wunderte mich daher sehr, dass sie an der Haltestelle vor dem Werkstor der Ritterbrauerei mit mir zusammen ausstieg, mit mir das Betriebsgelände betrat, sich ganz selbstverständlich beim Pförtner ihre „Hundemarke“ geben ließ und auf dem Weg über die Höfe zum „Frauenschalander“ aus meinem Blickfeld verschwand.

Da wir jeden Morgen die gleiche Tour hatten, entwickelte sich ganz langsam und ganz zaghaft ein kleines Gespräch zwischen uns, das sich von Tag zu Tag fortsetzte. Ich erzählte ihr, weil sie mich danach fragte, warum ich als Schüler malochen ging und sie begann dann – erst zaghaft, dann lebhafter – von sich zu erzählen, Stückchen für Stückchen.

Sie kam aus der Nähe von Lünen, vom Lande. Sie stand jeden Morgen um halb vier auf. Sie hatte gerade erst geheiratet. Sie und ihr Mann bauten an einem kleinen Häuschen, vor allem am Wochenende. Ihr Schwiegervater half dabei. Der war Maurer. Das Häuschen, das sie bauten, stand auf dem Grundstück der Schwiegereltern. Deren Häuschen vorne, zur Straße hin, hinten ihr neues Häuschen, ein Huckepackhäuschen sozusagen. Sie hatte beschlossen, in der Brauerei zu arbeiten, da sie hier bedeutend mehr verdienen konnte als in ihrem gelernten Beruf. Sie brauchten jeden Pfennig für ihr Häuschen. Es gäbe reichlich zu tun. Nicht nur am Wochenende, an jedem Feierabend, nach Schicht, werkelten sie an ihrem Haus. „Die Arbeit hört nie auf“, sagte sie immer wieder.

Der sanfte Optimismus und der feine Hoffnungsschimmer in ihrem Gesicht rührten mich jeden Morgen. Es war schön, sie zu treffen.

Frauen in ihren Zwanzigern habe ich mein Leben lang als besonders anziehend empfunden. Das uralte Programm ist in ihnen dann angesprungen, sie sind auf der Suche nach dem Mann, sie sind auf dem Weg Richtung Mutter. Es ist eine Zeit der Wandlungen, der Hoffnungen, der Versprechungen des Lebens. Die Schönheit meiner Schönen strahlte von innen nach außen und erregte mich. Ich spürte ein Prickeln und eine leichte erotische Spannung, wenn ich mit ihr sprach.

Als ich mich nach meinem letzten Arbeitstag von ihr verabschiedete, sagte sie mir, dass auch sie bald aufhören werde zu arbeiten. Sie sei schwanger. Erst wirkte sie sehr glücklich, als sie mir verriet, dass sie ein Kind bekommen würde, und dann sah ich plötzlich – und erschrak dabei – ein wenig Angst und ein wenig Skepsis in ihren Augen.

Hatte sie etwa den Zweifel in meinem eigenen Gesicht gesehen und war davon angesteckt worden? Das wollte ich nicht. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Ich wünschte ihr, so herzlich ich das vermochte, alles Gute für ihr ganzes Leben und berührte sie, als ich mich von ihr verabschiedete, leicht an der Schulter. Sie freute sich und lächelte spontan und als sie in Richtung Bahnhof verschwand, drehte sie sich noch mehrmals um und winkte mir zu. Das war das letzte Bild von ihr.

***

Husband, house, children, mom-in-law in the common garden – the full catastrophe!

Damals, mit sechzehn, als ich ihr gegenüber stand, war ich kein bisschen ironisch, nicht fähig zu bösem Spott. Aber ich glaube, sie merkte doch den spontanen Zweifel in meinem Gesicht, einen Zweifel, den sie vermutlich selbst in sich verspürte. Zweifel ist der dunkle Zwillingsbruder der Hoffnung.

Ich hatte es gelernt, und ich wusste es schon mit sechzehn ganz sicher: dass das Leben, zumal das Zusammenleben zwischen Mann und Frau, voller Katastrophen und Leiden steckte, Glück und Unglück einander abwechselten, dass hinter der Freude und Hoffnung des Augenblicks das Miese des nächsten lauerte und dass hinter der Fassade der Schönheit das Hässliche verborgen liegt. Dass Liebe sich in Hass verwandeln konnte, das hatte ich gründlich gelernt. Der pessimistische Blick auf die Welt war schon früh in mir entwickelt. Es brauchte einige Zeit, bis ich ihn überwand.

***

Wenn ich die Zwölfstundenschicht im „Zwischendeck“ hinter mir hatte, duschte ich ausgiebig und durchschritt gegen halb sieben das Werkstor. Ich tingelte noch ein wenig durch die Stadt, um den Kellerblick loszuwerden. Noch immer lag die Sonne schräg über den Dächern, der Asphalt schwitzte die Hitze des Tages aus, die Stadt war ein Brutofen. Manchmal, wenn ein Gewitter niedergegangen war, von dem ich im „Zwischendeck“ natürlich nichts mitbekommen hatte, dampften die Straßen noch. Die Menschen wirkten erschöpft von der Hitze dieses schier unglaublichen Sommers, von dem ich gerade mal noch die abendlichen Spuren wahrnahm.

In unserem neuen Zuhause werkelte ich dann noch ein bisschen auf unserem „Acker“ herum, der sich langsam in einen Garten verwandelte. Ich aß mein Abendbrot und zwischen zehn und elf, im nachlassenden Licht der Abenddämmerung, legte ich mich ins Bett, denn kurz nach vier klingelte der Wecker. Dann musste ich aufstehen und mich bereit machen für einen neuen Tag im „Zwischendeck“.

Schließlich kam der letzte Tag meiner ersten langen Reise in die Flaschenkeller.

„Ich möchte mich verabschieden. Das ist mein letzter Arbeitstag“, sagte ich zu dem freundlichen Graukopf, der mir in den vergangenen fünfeinhalb Wochen am Frühstückstisch im Schalander gegenüber gesessen und mich oft in kleine Gespräche gezogen hatte. Er arbeitete stets am Fließband. „Die Ferien sind zu Ende“, fügte ich überflüssiger Weise hinzu. Er nickte und lächelte ein wenig.

„Bist du etwa immer noch in der Abstellkammer?“, fragte er.

„Ja.“

„Du hast ja ein sonniges Gemüt. Einzelhaft. Mir würde da die Decke auf den Kopp fallen. Ich würde eingehen.“

Als er aufstand und seine Frühstücksdose im Spind einschloss, sagte er noch:

„Na ja, für dich ist jetzt alles vorbei. Du gehst wieder weg, wir bleiben hier sitzen. So ist das.“

Und dann, nach einer Weile:

„Kommst du wieder? Nächstes Jahr?“

„Ja“, sagte ich, „ich brauche das Geld.“

Das Zeugnis

Als die Schule wieder losging, war ich der einzige Blasse unter lauter Braungebrannten. Ein gut gelaunter, braungebrannter Deutschlehrer fragte meine gut gelaunten, braungebrannten Mitschüler nach ihren Ferienerlebnissen. Als die Reihe an mich kam, den Blassen unter all den Sonnengebräunten, und ich die Ritterbrauerei als den Ort meiner Ferienerlebnisse nannte, schaute er mich nachdenklich an – es entstand eine kleine, etwas peinliche Pause –, ging dann aber schnell und ein wenig konsterniert, wie mir schien, darüber hinweg und fragte gleich den Nächsten, der auch prompt losplauderte. Ich kam gar nicht erst zum Erzählen. Seltsamerweise empfand ich, als er so reagierte, wieder ein Gefühl der Scham. Als sei meine Fabrikmaloche dégoutant.

In den folgenden Schulwochen war ich müde und schlaff. Ich hing ein wenig durch. Ich spürte die viele Arbeit, die ich hinter mir hatte, in meinen Knochen und die Einsamkeit des „Zwischendecks“ lag wohl noch auf meinem Gemüt.

Meine „schulischen Leistungen“ fielen ab. Grundsätzlich orientierte ich mich, was diese Leistungen anbetraf, an bestimmten Mitschülern, die der „Spitzengruppe“ zuzurechnen waren: ich war ehrgeizig und argwöhnisch darauf bedacht, eine gute Position zu ergattern und zu halten. In diesem Herbst war mir all das scheißegal: ich ließ meine „Konkurrenten“ an mir vorbeiziehen, ich hatte keine Motivation zum Lernen. Das Herbstzeugnis wurde daher ein Dokument mit den „mehrsilbigen Noten“: „befriedigend“, „ausreichend“, zwar kein „mangelhaft“, aber das einsilbige „Gut“ war nicht mehr dabei. So war das eben. Das Leben bietet nicht alles auf einmal.

***

Am Tag der Zeugnisausgabe zum Beginn der Herbstferien traf ich mich am frühen Nachmittag mit meinem Vater in der Stadt: es war Freitag, er hatte früher Feierabend und ich fing ihn ab. Er wusste, dass es Zeugnisse gegeben hatte und wollte meines sehen. Ich zeigte es ihm und war gespannt auf seine Reaktion. Er runzelte die Stirn und sagte dann wie ein gütiger Patriarch:

„So geht das aber nicht, mein Junge. Das muss besser werden. Das ist ja nun nicht gerade das Größte.“

Ich hatte genau das erwartet und spürte, wie ich ärgerlich wurde. Er kehrte plötzlich den besorgten Vater heraus – er, der vor seinen Pflichten als Familienvater davon lief, sobald sich eine Gelegenheit bot.

„Hör’ mal zu“, sagte ich, „weißt du eigentlich, dass ich in den Sommerferien malocht habe? Weißt du eigentlich, dass ich jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet habe? Sonnabends acht? Hast du das überhaupt mitbekommen?“

Er schwieg.

„Fast sechs Wochen lang eine Achtundsechzigstundenwoche. Ich habe doppelt so viel verdient wie du. Ich habe alles in die Gemeinschaftskasse getan. Alles ist weg. Weißt du das gar nicht?“

Ich habe ihn selten so betroffen gesehen wie in diesem Augenblick. Er wurde ganz still und in seinem Gesicht war ein schmerzhafter Zug, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. Ich hatte ihn voll erwischt und er schien ein unsäglich schlechtes Gewissen zu haben. Stumm reichte er mir das Papier zurück.

Die Situation kam mir irreal vor. Er war mein Vater, wir lebten unter einem Dach, und er hatte, da war ich mir jetzt sicher, von alledem, was ich während meiner Ferien getan hatte, so gut wie nichts mitbekommen.

„Morgens, wenn du aufgestanden bist, war ich schon zwei Stunden weg und abends, wenn du nach Hause kamst, schlief ich schon.“

Nach einem langen Schweigen fügte ich hinzu: „An den Wochentagen war ich für dich verschwunden und du hattest vergessen, wo ich war.“

Wir fuhren schweigend mit der Straßenbahn nach Hause. Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten versuchte er diesmal nicht, in irgendeine seiner Lieblingskneipen auszubüchsen und mich zum Mitmachen zu überreden.

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