Kitabı oku: «Die Gleichschaltung der Erinnerung», sayfa 5

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Die noch naiven ersten Menschen wurden für ihren Sündenfall zunächst einmal aus dem Paradies verjagt, das unterschlägt jene als »Vergangenheitsbewältigung« so beliebte exkulpierende Konstruktion, die im Nationalsozialismus Verbrechen und Strafe zugleich sieht. Für Adam und Eva hörte das Honiglecken auf; dem Verbrechen folgte die Sühne, dem Sündenfall die Vertreibung; im Schweiße ihres Angesichts mußten sie ihr Leben fristen ohne Hoffnung auf ein öffentliches Amt jenseits von Eden.

Ob man versteht, daß ein Jugendlicher in Nazideutschland mit großer Wahrscheinlichkeit eher ein Nazi als keiner war, ob man diese Wahrscheinlichkeit in Rechnung stellt oder nicht: Seifriz hat, wie tausende seiner später ebenfalls aufgestiegenen Zeitgenossen, direkt von der Schulbank weg als Schreibtischtäter seinen Beitrag zum Völkermord geleistet.

Weil alles an ihm so verständlich und er, von Ausnahmen menschlicher Schwäche abgesehen, anständig geblieben sei, hält heute ein stellvertretender Chefredakteur die frühen Fleißarbeiten von Seifriz für »verzeihlich«. Für verzeihliche Flecken auf dem Bildnis des Senators als junger Mann. Wie Himmler das Erbrechen seiner Schergen bei den Massenerschießungen.

Der Sozialdemokrat Seifriz war das Ziel eines kleinlichen Racheakts; in diesem Gewand kommt die Gerechtigkeit unter die Deutschen. So beschämend der Gedanke auch ist, daß die ehemaligen Nazis in der Bundesrepublik nur durch das Schattenboxen der Parteien ans Licht gebracht werden nach der Parole »Aug um Aug, Nazi um Nazi«, so tröstet er doch ein klein wenig über ein ausgelassenes Kapitel deutscher Geschichte hinweg. In den zänkischen Querelen würde sich ein winziges Quantum unterbliebener Rache erfüllen.

Doch vorerst steht alles zum Besten. Kein jüngstes Gericht kündigt sich an, kein Racheengel, nicht einmal eine zweite Klarsfeld im Bundespräsidialamt. Was heraufzieht ist die Aura einer überparteilichen Altherrenrunde, ein zeitgenössisches remake der »Feuerzangenbowle«: Bei einer Cocktailparty geraten ältere Herren und Damen in nostalgisches Schwärmen und lächeln jovial über ihre Jugendsünden – langweilig, einfallslos, eine Geschichte ist wie die andere –, bis plötzlich einer den Vorschlag macht, Wiedergutmachung zu beantragen.

1979

Notizen

Schuld – Es gibt keine Zuschauer mehr. Manche Theater äffen den Ernst dieses Befundes nach und fordern das Publikum – Gottseidank noch meist vergeblich – zum Mitspielen auf. Dann gibt es nur noch Kreative, und die Kritik verstummt.

Reale gesellschaftliche Gestalt gewann die Auslöschung dieser Differenz erstmals im Nationalsozialismus. Die Effizienz totaler Herrschaft bestand darin, tendenziell jeden ins Konzentrationslager zu bringen. Unschuldig war man nur auf Zeit, solange man noch draußen war. (Umgekehrt gingen die Alliierten, wie Hannah Arendt in »Organisierte Schuld« schreibt, zu Recht davon aus, daß jeder, dem die Nazis nichts angetan hatten, schuldig sei). Wußten politische Häftlinge noch, warum man sie eingesperrt hatte, so begriffen doch diejenigen, die sich für im Sinne des Systems unschuldig hielten, ihre Verhaftung und Deportation überhaupt nicht. Aber genau an diesem Punkt begann erst die eigentliche Domäne nationalsozialistischer Herrschaft.

Wie etwa gegenwärtig bei den rechtsstiftenden Versuchen der Polizei, die das Demonstrationsrecht zu novellieren forciert, indem sie durch Massenverhaftungen den Tatbestand der Teilnahme schafft, so galt auch bei den Nazis als tatverdächtig, nicht wer gegen die herrschende Ordnung verstoßen, sondern wer nicht positiv Partei für sie ergriffen hatte.

Die Unbeteiligten versuchten sich herauszureden, es müsse ein Irrtum vorliegen, wenn man sie verhaftet hatte, und sie protestierten – immer ergebnislos – dagegen, wie »gemeine Verbrecher behandelt zu werden«. Doch diese irritierten Klagen verliehen der dezisionistischen Willkür nur das nötige Salz.

Daß die Kategorie des Unbeteiligten liquidiert wurde, war die Rache am Liberalismus und dessen zusammengebrochener Vorstellung von Öffentlichkeit. Keiner sollte allein sein, höchstens der Führer.

Die begründete Differenz von privat und öffentlich wurde vernichtet, in dem die Karikatur der jeweiligen Extreme ritualisiert und zur Institution erhoben wurde: Parteitage und Massenaufmärsche im Hollywood-Format versus Familienidylle mit Hausmusik bei den KZ-Scher­gen.

Endsieg – Grenzübertritte vom europäischen Ausland in die Bundesrepublik führen manchmal auch bei weniger sensiblen Naturen zu einem erstarrenden Entsetzen, für welches sich der Begriff »Kulturschock« eingebürgert hat, jenes lähmende Erschrecken, das einen bei Wiedereintritt in die Barbarei befällt.

Fast ein Jahr nach Mogadishu, als sei die Tendenzwende sich selbst noch nicht ganz gewiss und der Bekräftigung durchs Ritual bedürftig, empfängt Rückkehrenden aus allen Kanälen und Redaktionen die triumphale Vollzugsmeldung: Mit der Erschießung von Willy Peter Stoll sei der Polizei ein entscheidender Schlag gegen den Terrorismus geglückt. In einem China-Restaurant sei er durch vier gezielte Revolverschüsse in den Oberkörper getötet worden. Aus allernächster Nähe.

Das nennt man in Deutschland ein zügiges Verfahren, keine Prozeßverschleppung, kein Personalaufwand, geringe Kosten. Die Kritiker, die an Stammheim weniger den architektonischen Ausdruck einer Gesinnung als den Steueraufwand bemängelten, sie werden zufriedengestellt.

Er soll gerade Hummersuppe gegessen haben, war in Bild zu lesen, und ein Kommentator in Hannover neidete ihm das angeblich teure Restaurant; wer nicht so dürftig an der Imbißstube Nahrung zu sich führt, sondern speist, soll auch nicht selig werden.

Richtig zurückgekehrt sieht man am Abend in einer live-Sendung des Fernsehens, wie die flexibel eingeschobene Hinrichtungsmeldung von zahlreichen Studiogästen beklatscht und vom Moderator bewitzelt wird: er empfinde eine klammheimliche Freude.

Unausweichlich zuhause findet man in den folgenden Tagen in allen Zeitungen das tote Gesicht mit der Brille.

Sie hatten ihn schon oft getötet als er noch lebte, und jetzt war er ihnen noch nicht tot genug.

Einigen wenigen ist es peinlich, sie fürchten um ihre europäische Reputation und meinen, sie könnten als Regisseure dieser Inszenierung, die gar keiner bedarf, im Ausland gelten und wiegeln deshalb vorsichtig ab; man sollte es nicht allzu toll treiben.

Im Konzentrationslager wie in den okkupierten Gebieten ließ man die von der SS und den Einsatzkommandos Erhängten noch tagelang am Baum oder am Galgen baumeln, damit jeder sehen konnte, wie im sicheren Zweifelsfall auch mit ihm verfahren würde. Doch die allgemeine Drohung, wie sie den tagelang gezeigten Bildern in Zeitungen und Magazinen anhaftet, ist bloß sekundär, traditionelle Abschreckung.

Was die Zurschaustellung der Opfer der Nazis mit der mediengerechten Aufbereitung der getöteten RAF-Mit­glie­dern verbindet ist der grenzenlose Zynismus. Die Toten müssen ein Stück Dreck sein, ehe sie zu Erde werden dürfen.

Hitler hat, entgegen anderslautenden Behauptungen, den Krieg doch gewonnen.

Apokalypse Now – »Abschied für immer von einer Stätte des Grauens« lautete die Überschrift in der als linksliberal eingestuften Tageszeitung. Was wurde angezeigt? Eine Rezension über die Befreiung von Buchenwald? Ein Bericht über kambodschanisches Flüchtlingselend? Ein Report über die Rückkehr der wenigen Überlebenden der Kommune von Jonestown? Knapp gefehlt: Unter diesem Titel berichtete der Sportinforma­tionsdienst über ein Fußballspiel zwischen der Bundesrepublik und Malta im maltekischen Stadion von La Valetta. »Die deutschen Fußballer«, heißt es dort, »verließen das Gzira-Stadion von La Valetta auf Malta mit dem Gesichtsausdruck von Männern, die soeben einem Verhängnis entronnen sind.« Der Boden sei holprig dort gewesen, habe ein flüssiges Spiel der deutschen Mannschaft verhindert.

Die apokalyptischen Wendungen des Reporters, welche ein Stadionrund in den Neunten Kreis der Hölle verwandeln, kommen nicht von ungefähr. In ihnen teilt sich die Ahnung mit, dass nicht nur der Rasen wunschgemäß gestutzt werden muss, damit es zur Katastrophe kommt. Eine schlecht gespülte Tasse oder ein ungebügeltes Hemd haben heute alle Eigenschaften, die früher den Göttern zukamen: sie werden zum Auslöser einer Tragödie. Wenn man daran denkt, dass ein paranoider Präsident Nixon nur schlecht geschlafen haben musste, um anderntags Wahnsinnsbefehle an seine – Gottseidank bloß von instrumenteller Vernunft besessenen – Generäle durchzugeben, so ist man wiederum froh, dass die Deutschen durch alliierte Vorbehalte nicht schon wieder in der Lage sind, bloß weil sie ein Fußballfeld, das ein Fußball­feld ist, juckt, deshalb gleich die halbe Welt in die Luft zu jagen. Denn damit würde wirklich jeder löchrige Boden von La Valetta zu einer Stätte des Grauens, von der ein Abschied für immer ausginge.

Seelenwanderung – In Goethes »Belagerung von Mainz« ist in der Eintragung vom 25. Juli 1793 nachzulesen, wie er einen verkleideten, aber trotzdem entdeckten Jakobiner der Wut der Volksmassen entriss, weil er »lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen« wollte.

Fast 180 Jahre später liefert ein gewerkschaftlich organisierter Goethekenner, also ein Deutschlehrer, eine verkleidete, aber trotzdem als Ulrike Meinhof erkannte Frau der Polizei aus, weil die Ordnung nicht zu ertragen eine Gerechtigkeit begehen hieße.

Verlustanzeige – Nach einigen Tagen ging er zum zuständigen Polizeirevier und meldete sich als vermisst. Dem Beamten, der die Anzeige aufnahm, gab er eine genau Beschreibung seiner Person, Alter, Größe, Gewicht, Haar- und Augenfarbe und auch der Kleider, die er am Leibe trug.

Der Polizeibeamte notierte alles sorgfältig und versprach, ihn zu benachrichtigen, sobald man eine Spur gefunden habe. Wenig später erhielt er die telefonische Mitteilung, der Vermißte sei hilflos aufgefunden und unverzüglich ins nahegelegene Spital gebracht worden, wo er ihn, nach Rücksprache mit dem verantwortlichen Stationsarzt jederzeit besuchen könne. Im Geschwindschritt machte er sich auf den Weg zum Krankenhaus, erklärte dem Pförtner sein Begehren und wurde ohne Umschweife zu dem Patienten vorgelassen. Als er sich im Bett da vor sich liegen sah, schüttelte er den Kopf, dankte der Schwester und wandte sich zum Gehen. Es ist ein Irrtum, dachte er, es ist der Falsche.

Traumjob – Herr K. traf unterwegs einen alten Bekannten. »Wie geht es Ihnen denn?«, erkundigte sich Herr K. »Wunderbar«, entgegnete der Bekannte, »ich habe endlich den Beruf meines Lebens gefunden.«

»Sie Unglücklicher«, sagte Herr K. erbleichend und ging eilends weiter.

Arbeit macht frei – Das Foto zeigt eine Gruppe demonstrierender Arbeiter, die ein Plakat vor sich hertragen mit der Aufschrift: Wer aussperrt, soll eingesperrt werden.

Dass die Aussperrung der Arbeiter untersagt werden soll, wie durch einen Artikel der hessischen Landesverfassung etwa, das fordern die Gewerkschaften. Sie halten dieses Mittel in den Händen der Unternehmer für eine einseitige und unzulässige Verschiebung eines Zustandes, den sie als Tarif- oder Sozialpartnerschaft bezeichnen.

Sie haben vollkommen recht. In der Regel wird eine Aussperrung dadurch beendet, dass die Arbeiter wieder eingesperrt werden. Das Verbot der Aussperrung und das Recht auf Arbeit als Verfassungsartikel würde endlich beide, Unternehmer und Gewerkschaften, zu gleichberechtigten Aufsehern von Häftlingen machen, die längst ihre eigenen Wärter geworden sind.

Paradise lost – Offensichtlich war, dass es Oben nichts zu holen gab. Die Geschichte des deutschen Bürgertums: eine lückenlose Chronik der Selbstentmündigung.

In der Mitte schon immer potentielle Nazis.

Also machte man sich an Unten zu schaffen und entdeckte die Arbeiterbewegung. Deren Repräsentanten stimmten gerade mit 35jähriger Verspätung einem Ermächtigungsgesetz zu. »Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!«, war eine der populären Empörungen. Sie wurden auf der Straße skandiert von jenen, die nicht wahrhaben wollten, dass die deutsche Arbeiterbewegung nicht mehr war, was sie nie gewesen war. Lange bevor es Volkswagen und Neckermann-Reisen gab, hatten die deutschen Arbeiter ihr Erstgeburtsrecht wirklich für einen Eintopf verkauft.

Wer hat recht? – Der liebe Knecht!

Ein Landaufenthalt – Wie einer, am Ende seiner Kräfte und mit dem letzten, verzweifelten Versuch, endlich – so oder so – eine Entscheidung herbeizuführen, das Angebot eines alten Freundes, sich für gewisse Zeit in dessen Haus auf dem Lande, von welchem er gar nicht gewußt, zurückzuziehen, nach einigem Bedenken, fast schon erleichtert, annimmt; wie er, wirklich auf dem Lande angelangt, das abgeschieden in einem Wäldchen stehende Gebäude mit wachsender Ruhe in Augenschein nimmt; wie er für die künftigen Tage, fast schon befreit, in den fremden Räumen den wenigen mitgebrachten Dingen einen zweckmäßigen Platz zuweist; wie er in der Nacht, kaum, daß er eingeschlafen ist, von Schritten geweckt wird, die er ums Haus schleichen hört, sich vorsichtig erhebt, sich zur Tür tatstet und, das Ohr an sie pressend, draußen, in unmittelbarer Nähe, deutlich Atemzüge vernimmt, nicht weiß, wie lange er so verharrt, und in der Frühe, sobald das Morgengrauen durch die Bäume dringt, fluchtartig abreist, ohne zu wissen, wohin.

Höhenluft – Daß man den Dingen nicht mehr auf den Grund kommen soll hat selbst einen, nämlich keinen. Realitätssüchtig ist, wer am Rande des Abgrunds auf dem Teppich bleibt, wer mit beiden Beinen auf des Messers Schneide steht und mit geschlossenen Augen die Gratwanderung entlang der Bodenlosigkeit absolviert. Die Blinden sind die Hellseher von heute, wer also nichts wissen will, weiß alles.

Wenn man darüber leicht den Verstand verlieren kann, so setzt das voraus, dass man ihn zuvor besessen hat. Wer heute Vernunft oder Wahrheit oder irgendwas ernst nimmt, kommt unversehens und sei es nur dadurch, dass er vor der höchsten Gefahr erbleicht, in der Rolle des Spinners, des Sektierers, des Querulanten. Nicht weil der anstößige Gedanke schon immer diskriminiert war, sondern weil er überhaupt liquidiert ist. Nicht das Denken ist in Gefahr, es ist selbst zu einer geworden. Weil vernünftige Bestimmungen sich nicht mehr vernünftig aus dem Bestehenden herleiten lassen, ist der Schritt von der Reflexion zum Wahn sehr klein.

Adorno hat über das Scheitern der Theorie vor dem Nationalsozialismus gesagt, dass, wer nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen wolle, der objektiv herrscht, sich immer wieder aufs Begreifen des nicht zu Begreifenden zurückgeworfen sehe. Dieser fast tröstlichen Formulierung hat er vergessen hinzuzufügen, dass man dabei noch immer auf der Schwelle zum Wahn sich befindet, den man bekämpft. Das ist die objektive Situation einer Welt, in welcher noch die prospektiven Opfer, aus Angst vor der angemessenen Angst, mutig aufs Denken verzichten, anstatt aus dem Rahmen zu fallen.

Die Unversöhnlichkeit dieses Zustandes versetzt das Individuum schon längst nicht mehr in den Zustand der Unversöhnlichkeit. Unpässlichkeit ist die Grenze des Er­laubten und macht schon Literatur. Gefragt sind Artisten, die es sich auf dem Hochseil gemütlich machen. Gedanken sind krumm. Die Abweichung kommt vor dem Fall.

Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Und freischwebend sind bloß die Engel.

Um wieviel die Welt ärmer geworden ist
Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs

Memoiren sind gefragt, wenn es auf das Individuum zu allerletzt ankommt. Je weniger die gesellschaftliche Objektivität noch Raum läßt, »Ich« zu sagen, desto größer der einträgliche Geständniszwang der Zeitgenossen, die ihr Seelenleben entblättern, oder was sie dafür halten. Wie die Gesellschaft auf den universellen Gedächtnisverlust mit Gedenkfeiern antwortet, so reagiert das autistische Etwas, das an seiner Gleichschaltung leidet, auf die objektive Gedankenlosigkeit mit subjektiver Bedenkenlosigkeit. In der gegenwärtigen Befindlichkeitsliteratur kommt endlich jener unsägliche Satz Rilkes zu seiner vollen Wahrheit: »Armut ist ein stiller Glanz von innen«, oder wie es die Großstadtflüchtigen von heute den Alternativen von damals nachzwitschern: »Der Reichtum kommt von innen her.«

Wenn man über den Verlust der Erinnerung redet, der marktgängig mit so vielen Memoiren kaschiert wird, wenn das Ende der Geschichte sich mit so zahlreichen Geschichtchen geltend macht, dann müssen wir uns jenseits aller Augurenschau auf Theorie besinnen. Vom jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, der gegenwärtig überall gefeiert und deshalb nirgendwo gelesen wird, stammt die Bemerkung, daß die Menschen in Kindertorheiten verfielen, sobald die Theorie vulgär werde. Er fügt hinzu: »Dann will man lieber von toten Gespenstern umgeben sein, als in einer toten Natur zwischen lauter Leichnamen wandeln.« Er hat damit nicht den Nationalsozialismus meinen können, aber wir müssen es. Denn die anthropologischen Leerstellen der Gegenwart, der Gedächtnisverlust und die nicht mehr poetische, sondern wörtliche Gedankenverlorenheit sind vom Nationalsozialismus zwar nicht erfunden, wohl aber in einem Ausmaß zur Grundlage moderner Herrschaft geworden, daß noch die übernächste Regierung davon profitieren könnte. Der Nationalsozialismus hat auf eine zuvor nie gekannte Weise mit der Drohung ernstgemacht, daß den Menschen Schlimmeres als der Tod widerfahren könne. Den sicheren Tod vor Augen, sollten die Opfer schon vor ihrer Vernichtung aufgehört haben, noch irgend an Menschen zu erinnern. Zu jenem Bild gemodelt, das die Nazis davon hatten, sollte spurlos verschwinden, was kein Recht auf Erinnerung hatte, denn die Opfer waren nicht jemand, sondern etwas. Wie um den Nazis recht zu geben, hat die Welt nach dem Krieg die einzige Hoffnung der Ermordeten gründlich verhöhnt und sie noch um ihren schlimmsten Fluch enteignet: Das »Nicht gedacht soll deiner werden« steht über den Massengräbern und nicht über dem gemütlichen Lebensabend der Henker.

Weil Erinnerung und Eingedenken ein gnadenloses Strafgericht heraufbeschwören könnten, vor dem keiner bestehen würde, weil ohne Gedächtnis allein sich überleben läßt, deshalb darf der Einzelne in seiner fensterlosen Biographie stochern und anderen Einzelnen versichern, daß er von vergleichbarer Trivialität sei. Das gilt für Albert Speer wie für Hildegard Knef, für Helmut Schön wie für Henriette von Schirach. Sie reden viel, aber zu sagen haben sie nichts. Ungewollt gleicht ihnen darin die aufblühende Entblößungsliteratur der »Neuen Sensibilität« Beide eint eine leutselige Selbstdarstellung armseliger Verhältnisse, der geschwätzige Ausdruck eines stummen Zwangs.

Hersch Mendel hingegen redet in seinen »Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs« darüber, um wieviel die Welt ärmer geworden ist. Nicht von der Verarmung im Wohlstand ist darin die Rede, jenem beliebten Thema, das von wirklicher Armut nichts mehr wissen will. Hersch Mendel schreibt über Fehlendes, über eine unheilbare Wunde des 20. Jahrhunderts, über Bedeutendes, was vernichtet, was buchstäblich zu Nichts geworden ist: Die Kultur des osteuropäischen Judentums und ihr virulentes Subjekt, die jüdische Arbeiterbewegung. Der Massenmord der Deutschen ging einher mit der Zerstörung der jiddischen Kultur; Genozid plus Ethnozid würden die Experten in einer Fernsehrunde beiläufig und mit professioneller Kühle sagen und damit die allgemeine Unfähigkeit dokumentieren, trotz und wegen »Holocaust«, die Zahl der Opfer als ausgelöschte Möglichkeiten einer menschenwürdigen Geschichte zu begreifen.8

Die Erinnerungen von Hersch Mendel sind weder eine dokumentarische Sozialreportage, noch eine sentimentale Reise in die Vergangenheit, weder sektiererische Rechthaberei, noch erbauliche Sozialkritik. Sie sind vor allem, vorgetragen in einer eigentümlichen Mischung aus Pathos und Ironie, eine unerbittliche Chronik des Scheiterns der traditionellen Arbeiterbewegung, ohne daß der Autor jenem allgemeinen Verhängnis, in welches sich Nationalsozialismus und Stalinismus teilen, verständnisvoll oder gar von einer gesicherten Position aus begegnete.

»Ich habe die ganze Tragödie jener Tage aus tiefstem Herzen mitempfunden«, schreibt Hersch Mendel am Schluß seiner Erinnerungen über den Hitler-Stalin-Pakt; »fast 30 Jahre meines sozialistischen Kampfes gingen verloren. Im Namen dieses Kampfes hatte ich alles gegeben, was ein Mensch nur zu geben vermag. Ich habe mich niemals zur Spitze gedrängt. Wenn ich von Zeit zu Zeit in die höheren Ebenen der Bewegung aufstieg, dann nur, weil bestimmte historische Ereignisse mich ohne eigene Anstrengung und oft gegen meinen Willen aus den Reihen heraustreten ließen. Für mich war der Kampf für den Sozialismus alles. An andere Dinge hatte ich nie gedacht, und nun wurde ich Zeuge eines furchtbaren Sturms, der alles zerstören würde. Ein ganzes Leben voll Kampf und Hoffnung ging verloren. Das war die Tragödie, die ich erlebte – eine persönliche und gesellschaftliche Tragödie in einem.«

Vor allen Dingen aber sind die Memoiren ein mehr als hundertfacher Vorwurf gegen jeden möglichen Leser, der schon als Kind eher von den Helden der Marlboro-Reklame geträumt hat als davon, das Staatsoberhaupt zu verprügeln wie Hersch Mendel. Als Jugendlicher steht man heute kaum, wie der Zwölfjährige im jüdischen Elendsviertel von Warschau, vor der Alternative, sich zwischen der Laufbahn eines Kriminellen und dem nicht minder gefährlichen Leben eines Revolutionärs zu entscheiden. Der Aufstieg in die gehobene Unterwelt, den Mittelstand, wird einem heute schon in die Wiege gelegt; Hersch Mendel hingegen wuchs mit dem durch keinerlei Gratifikationen oder politische Ämter domestizierbaren Instinkt heran, daß nämlich Recht und Gerechtigkeit verschiedene Dinge sind.

In einer Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur von 1913 heißt es ironisch: »Man findet heute schon Juden, die sozusagen noch die Spur eines Magens von der Größe eines Eies haben, und man darf wirklich hoffen, daß die Juden mit der Zeit die Gewohnheit des Essens abschaffen.«

Gerade dieses kreatürliche Motiv, der Hunger, durchzieht die gesamten Erinnerungen von Hersch Mendel, aber in einer den satten Zeitgenossen ganz fremden Weise, denn es ist der Auslöser einer davon völlig verschiedenen politischen Phantasie und revolutionären Aktion. »Man hat mir oft vorgeworfen, daß ich mich niemals um mein persönliches Leben, um meine eigene Existenz gekümmert hätte«, schreibt er und fügt hinzu, daß es in der jüdischen Arbeiterbewegung undenkbar gewesen sei, sich im Privatleben einzurichten. Genau diesem Umstand verdanken wir eine individuelle, unverwechselbare Autobiographie.

Im Unterschied zu den handgestrickten Lebensläufen und der alternativen Seelenschau hat Hersch Mendel immer in dem Bewußtsein gehandelt, daß die Vermenschlichung des Individuums sich allein im Maße des Kampfes gegen die Barbarei der Verhältnisse verwirklicht. Umso mehr hat er das Recht, von sich zu sprechen. Jakob Moneta, der Übersetzer der Erinnerungen aus dem Jiddischen, dessen politischer Lebensweg sich, wenn auch mit umgekehrten Schlußfolgerungen, mit dem von Hersch Mendel gekreuzt hat – Moneta war von 1933 bis 1948 in Palästina und wandte sich vom Zionismus ab –, bemerkt an einer Stelle, die »Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs« stellten die Konfrontation mit einem anderen Typus von Juden dar. Anders als welcher?

Der Antisemitismus bedarf der Juden nicht. Umstands­los kann in Deutschland das antisemitische Stereotyp, je nach Konjunkturerfordernis, auf ausländische Arbeiter, Studenten, Homosexuelle übertragen werden – doch das zu wissen bedarf es kaum der Forschung, sondern bloß täglicher Zeitungslektüre. Die neueste Umfrage des Soziologen Alphons Silbermann über Antisemitismus in einem Land fast ohne Juden dokumentierte eher das Ineinander von kollektiver Verdrängung und fortwährender pathischer Projektion: Ein Gutteil der Befragten sprach, als käme er direkt aus einer Sportpalastveranstaltung mit Goebbels und phantasierte von ein bis zwei Millionen Juden, deren Einfluß in Wirtschaft und Politik schon wieder übermäßig hoch sei.

Ein anderes Bild ist aus der gewissermaßen außenpolitischen Vergangenheitsbewältigung entstanden: Im zionistischen Unternehmen erschien der Jude den Deutschen so, als habe er endlich die Lehren aus der Vergangenheit begriffen; aus dem »Parasiten«, wie es völkisch, und aus dem »Luftmenschen«, wie es zionistisch hieß, wurde der »Muskeljude«, wie ihn der zionistische Theoretiker Max Nordau gefordert hatte. Nur als militaristischer Draufgänger und schwitzender Kibbuznik durfte der Jude den Deutschen erscheinen, nicht als Mensch.

Wäre der Blochsche Topos vom »aufrechten Gang« nicht schon für jede Selbstverständlichkeit okkupiert, an der Biographie Hersch Mendels gewänne er spezifische Substanz. Die Juden Osteuropas waren Objekt einer zweifachen Unterdrückung, der nationalen und sozialen, aber Hersch Mendel verkauft sein moralisches Erstgeburtsrecht nie für ein Linsengericht, schon gar nicht dort, wo es jeder aus Gründen der Selbsterhaltung täte: Inmitten eines aufgehetzten antisemitischen Pöbels, in einer kommunistischen Genickschußpartei – fast alle Personenhinweise in den Fußnoten des Buches sind gewissermaßen Todesanzeigen – oder in den Gefängnissen des faschistischen Polen. Als politischer Häftling hat er so viele Jahre im Gefängnis gesessen wie heutzutage, statistisch errechnet, jemand im Laufe seines Lebens vor dem Fernseher vertrottelt; und im Unterschied dazu hat Hersch Mendel sich durch politische Diskussionen und Lektüre auf ein Niveau emporgearbeitet, um welches ihn viele Professoren beneiden könnten.

Zwischen Hersch Mendels Biographie und den Lebensläufen aus der deutschen Arbeiterbewegung klaffen Welten, nicht erst in der literarischen Form. In Berlin, wo er sich kurz aufhielt, erfuhr er angelegentlich einer Demonstration diesen Unterschied. Jahre bevor Max Horkheimer die Verwandlung der deutschen Arbeiter in Gewerkschaftsobjekte, Unterstützungsempfänger und schließ­lich Gefolgschaft konstatiert hat, war Hersch Mendel zu der sarkastischen Einsicht über die deutsche Arbeiterbewegung gekommen: Entweder man demonstriert, oder man fragt die Polizei um Erlaubnis, beides zusammen ist nicht zu haben.

Die Unterschiede in der Entwicklung der Arbeiterbewegung ost- und westeuropäischer Provenienz reflektieren ein Allgemeines, das auch der unterschiedlichen Geschichte der Juden in Polen und Deutschland Konturen verleiht. Wie die Arbeiterbewegung in Deutschland seit der Jahrhundertwende beachtliche Fortschritte erzielt hat bei ihrem Bemühen, zu einer staatstragenden Institution zu werden, so hat die deutsche Judenheit immer mehr aufgehört, eine durch Gebräuche, Sitten und Anschauungen besondere Gruppe zu sein, was mit einem dem biologistischen Denken des 19. Jahrhunderts entlehnten Begriff als »Assimilation« bezeichnet wurde.

Dieser Prozeß der Angleichung ans falsche Ganze, der die Juden in Deutschland zu oft wahnwitzigen Akten der Selbstverleugnung trieb, hat auch nach der mörderischen Zerstörung der seit je illusionären »deutsch-jüdischen Symbiose« noch kein Ende gefunden. Noch die Überlebenden müssen den Preis entrichten für den nämlichen Sachverhalt, für den andere umgebracht worden sind: Für den Umstand, daß den gleichgeschalteten Massen der anpassungswillige Andere besonders anstößig vorkommt.

Den Siegern Einhalt zu gebieten, ist der verzweifelte Gestus in den Memoiren Hersch Mendels. Die Erinnerungen umfassen wie sein eigenes, so das Leben der jüdischen Arbeiterbewegung. Seine Kindheit ist die Kindheit des »Bund«, jener ersten großen jüdischen sozialistischen Organisation, bei der die russischen Sozialdemokraten in die Schule gingen und ihre ersten illegalen Flugschriften drucken ließen.

Alle politischen Umbrüche, vom Bankrott der Zweiten Internationale bis zur Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter das Diktat Stalins, sind Umbruchsituationen im Leben Hersch Mendels. Über verschiedene Stationen führt sein Weg aus dem lumpenproletarischen Milieu Warschaus, das man so trefflich geschildert allenfalls noch bei einem längst vergessenen Schriftsteller, bei Schalom Asch (»Mottke der Dieb«) nachlesen kann, bis in die antistalinistische Opposition, die er in Polen zusammen mit dem späteren marxistischen Historiker Isaac Deutscher begründet. Jedoch behauptet sich in den Brüchen seiner Biographie eine seltene Kontinuität: Die Solidarität mit allen Beleidigten. Für Mendel, der frei war von Karrieredenken, politischen Opportunismus, der nie aus Mitleid verschämt, sondern aus Scham empört war und ein Gegner jeglicher Bürokratie, war diese Solidarität die Quelle seines von nationalistischen Tendenzen ungetrübten Kampfes für die Rechte des jüdischen Volkes in Osteuropa.

Im damaligen Zwischenkriegspolen lebten ungefähr 3,5 Millionen Juden, etwa eine Million mehr als im Israel des Jahres 1971. Von ihnen und den aus verschiedenen Ländern nach Polen deportierten 700.000 Juden waren im August 1943 nur noch ungefähr 300.000 am Leben. Der Vertreter des »Bund« in der polnischen Exilregierung in London, Schmuel Zygelboim, der sich wegen der Passivität der Welt gegenüber dem Schicksal der Juden und weil er erkannt hatte, daß in den Überlegungen der Alliierten kein Platz für sie war, am 12. Mai 1943 das Leben nahm, schrieb in seinem politischen Testament:

»Ich kann nicht schweigen. Ich kann nicht mehr leben, während die letzten Überlebenden des jüdischen Volkes in Polen, dem ich angehöre, ausgerottet werden. Meine Kameraden im Warschauer Ghetto haben in einem letzten Akt des Heroismus zu den Waffen gegriffen. Mein Schicksal war es nicht, mit ihnen zu sterben, aber ich gehöre zu ihnen und ihren Massengräbern... Ich weiß, daß ein Menschenleben in unserer Zeit wenig bedeutet. Da ich jedoch zu meinen Lebzeiten nichts tun konnte, trage ich vielleicht durch meinen Tod dazu bei, daß die Gleichgültigkeit derjenigen gebrochen wird, die die Mög­lichkeit haben, vielleicht im letzten Augenblick, die noch am Leben gebliebenen polnischen Juden zu retten.«