Kitabı oku: «Die Gleichschaltung der Erinnerung», sayfa 6

Yazı tipi:

So wenig wie der millionenfache hat sein einzelner Tod die Gleichgültigkeit der Welt erschüttert, und seine Zeitgenossen wie die Nachwelt haben seine Hoffnungen gründlich verhöhnt. Die Deutschen konnten das Morden fortsetzen, Auschwitz wurde nie bombardiert, und die KZ standen, wie es sogar dem CDU-Politiker Blüm versehentlich einfiel, nur solange die Front hielt.

Der jüdische Historiker Joseph Wulf, Verfasser mehrerer längst vergriffener und von der etablierten Geschichts­wissenschaft nie ernstgenommener Bücher über den Nationalsozialismus, berichtete einmal, daß er im KZ Zeuge geworden sei, wie die Deutschen den berühmten 72jährigen jüdischen Gelehrten Simon Dubnow, den Autor einer vielbändigen »Weltgeschichte des jüdischen Volkes« inmitten einer Gruppe von Juden in die Gaskammer getrieben hätten. Dubnow habe sich im letzten Augenblick umgedreht und gerufen: »Schreibt alles auf.« Wenn schon die Passivität der Welt ein Einhalten des Mordens verhindert hatte, so sollten die Opfer in der Erinnerung nicht nochmals getötet werden durch Vergessen. Aber auch die Hoffnung auf Erinnerung erwies sich als Illusion; über dem geringen öffentlichen Interesse an seinen Forschungsarbeiten beging Joseph Wulf Selbstmord.

1939 begann das Ende, und hier endet auch die Biographie Hersch Mendels. Er ist in den 50er Jahren als zweifach gebrochener Revolutionär, als Überlebender ohne Volk nach Israel emigriert und hat damit, wie er in einer kurzen Nachbemerkung schreibt, die Konsequenz aus seiner vor Hitler undenkbaren Hinwendung zum Zionismus gezogen, ohne sich jedoch zur speziell jüdischen Dissidentenausgabe von der israelischen Propaganda he­rab­würdigen zu lassen. Er war kein Renegat. In seinem Postscriptum kündigt er den zweiten Teil seiner Erinnerungen an. Sie sind, das ist kein Zufall, nie geschrieben worden.9

Hersch Mendel, wie wenige andere zufällig der Ermordung entkommen, hat kein Buch über die Methoden der deutschen Verbrechen, warnend vor der historischen Möglichkeit einer endgültigen Vernichtung, geschrieben. Seine Erinnerungen handeln vielmehr von der endgültigen Vernichtung einer historischen Möglichkeit. Er hat, was unwiederbringlich ist, aufgezeichnet und von der Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen geschrieben, welche der Alternative »Sozialismus oder Barbarei« zugrunde lagen. Diese Frage ist entschieden.

1980

Vergessen, vergeben, verdummen

Lieber Peter Dahl,10

Du hast mir ein Leseexemplar von Hans Rosenthals Erinnerungen »Zwei Leben in Deutschland« in der Annahme zugeschickt, daß ich eine Besprechung für Konkret schreiben würde. Warum ich das nicht tun werde, will ich begründen:

Es gibt mit Sicherheit Tausende von Büchern, die bes­ser sind als die Memoiren von Rosenthal, ohne daß ein vernünftiger Redakteur auf den Gedanken käme, ein Wort darüber zu verlieren, welches er sich, sofern er nicht seine Tante oder einen nahen Freund protegieren möchte, für wirklich gute Bücher reserviert. Zahlte mir ein Verlag ein kleines Vermögen, dann würde ich selbst – wie weiland Petronius die dämlichen Verse von Nero gelobt hat – Peter Schneider zum Dichter erheben, aus Carstens einen Demokraten machen und schließlich aus der Betriebsnudel Rosenthal einen Unterhaltungskünstler von Broadwayformat. Aber leider gibts hierzulande keine entwickelte Korruption, sondern nur, wie sich im vorliegenden Fall an einer Besprechung in der Illustrierten Stern sehen läßt, unveräußerliche Übereinstimmung. Dort hat ein Redakteur, dessen Nachname hoffentlich nicht zu unangenehmen Verwechslungen mit Dir Anlaß geben wird, den Köder der Werbeabteilung des Gustav Lübbe Verlags nur für sein Monatsgehalt geschluckt: Rosenthal, die quirlige Frohnatur, nimmt den Deutschen nicht übel, daß sie ihn nur zufällig nicht umgebracht haben. Endlich eine jüdische Absolution, die in mehr Ohren klingt als die Loyalitätserklärung jüdischer Funktionäre für einzelne prominente Ex-Nazis wie Filbinger.

Die ganze Nation, oder vielmehr ihr antikommunisti­scher Teil, wird für koscher erklärt. Das will die Regie­rung, das will die Bevölkerung, das will ein reaktionärer Verlag. Und im Stern steht, damit es vollends demo­kra­tisch zugeht, warum es allen recht ist: »Andere deutsche Juden, die vor 1945 ähnliches erlebt haben, verfielen in Depressionen, in Aggressionen gegen ihre Landsleute. Er nicht.« (Die einzige Pressefreiheit, derer sich der Stern erkühnt, besteht in einer Variierung der u.a. vom nachma­li­gen Adenauer-Staatssekretär Globke formulierten Aus­füh­rungsbestimmungen zu den berüchtigten »Nürnberger Gesetzen«: Alle Juden mußten ihrem Eigennamen die jü­di­schen Namen Israel bzw. Sarah einfügen. Der Stern-Redakteur hielt »Isaac« für passender.)

Daß die Zeitschrift Konkret die Erinnerungen von Ro­sen­thal rezensieren möchte, hat seinen Grund, glaube ich, weder in der Darstellung des »ersten« Lebens von Rosen­thal, denn über das Schicksal der Juden und das Verhal­ten der Deutschen gibt es bessere Bücher, authentische Zeugnisse, deren schandbar geringe Auflage ebenso charakteristisch für die Verfassung der deutschen Bevölkerung ist wie die abgeholzten Wälder für die 100.000 Exemplare starke Erstauflage des vorliegenden Buches; noch, denke ich, besteht ein Interesse am wirklichen Verlauf des »zweiten« Lebens, denn da gibt es bessere Karrieren. Ernstzunehmende Kritik der Kulturindustrie würde sich an der conference als leerer Betriebsamkeit, wie sie Rosenthal verkörpert, zuallerletzt entzünden, (er nennt sich selbst »Hans Dampf in allen Gassen« und fällt anderen vor allem dadurch auf, daß er alles organisieren kann, von den Brötchen bis zur Stimmung).

Der schwerfällige schwedische Baron in Offenbachs »Pariser Leben«, der sich mit der beständigen Versicherung »Jetzt geht’s los« Mut zum Amusement zusprechen muß, ist die personifizierte Ausgelassenheit, vergleicht man damit die in Deutschland vorherrschende Form des öffentlichen Vergnügens, die dem Kommando gehorcht: »Spaß muß sein« (so der Titel einer Rosenthal-Sendung), weil beim Lachen niemand was zu lachen hat.

Daß man über Erinnerungen von Rosenthal stolpert, ist ganz natürlich. Nur sollte man den Grund der Empörung genau bezeichnen, und der hat, so meine ich, mit Rosen­thal und damit auch mit seinen Memoiren überhaupt nichts zu tun. Daß Rosenthal, außerdem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in West-Berlin, zum Gedenktag des Pogroms von 1938 eine Ausgabe von »Dalli-Dalli« präsentiert hat, gibt uns noch lange nicht das Recht zum subjektiven Affekt moralischer Empörung, wenn wir nun lesen, daß der jüngere Bruder Rosenthals deportiert (verschickt schreibt Rosenthal) und umgebracht worden ist, mehrere Angehörige der Familie ermordet wurden und der Autor nur durch glückliche Zufälle am Leben geblieben ist.

Wir können Rosenthal keinen Vorwurf daraus machen, daß er weder einsichtiger noch mutiger ist als der Rest der Fernsehvolksgemeinschaft. Sie hat aus der Feder von Rosenthal und aus der Perspektive des immer fröhlichen Stehaufmännchens schon in der Hör Zu unter dem Titel »Es war nicht alles Dalli-Dalli« erfahren, daß alles gar nicht so schlimm gewesen sein konnte, und daß der Kampf gegen die kommunistische Beherrschung des Berliner Rundfunks nach 1945 mindestens ebenso wichtig war wie der Sieg der Alliierten über die Nazis. Daß die Opfer der Ordnung von damals sich willfährig zur Rechtfertigung der Ordnung von heute einspannen lassen, kann für uns kaum heißen, Rosenthal besondere Beachtung zu schenken, sondern über Verhältnisse zu reden, die Peggy Parnass einmal mit dem monumentalen Satz auf die einfache Formel gebracht hat: »Das Opfer tröstet den Henker.«

Wir wissen, daß manchem Journalisten, der über die Protestbewegung berichtete, erst dann klar wurde, daß der Kopf zum Denken da war, als die Polizei ihn mit Knüppeln traktierte, doch wir müssen uns vor dem Mißverständnis hüten, daß zwischen Verfolgung und Kritik ein logischer Zusammenhang bestünde. Daß jemand im KZ gesessen hat, daß jemand (wie Rosenthal) Verfolgung und Ermordung von Angehörigen erlitten hat, ist immer nur ein Beweis für die Unmenschlichkeit des Systems und nicht, so betrüblich der Umstand uns auch erscheinen mag, die Voraussetzung für eine unnachgiebige und jener Demütigungen eingedenkende Kritik.

Es gibt keine fortschrittliche Interpretation der Nürnberger Gesetze, sondern bloß ihre radikale Abschaffung: Nicht dann schon, wenn man es unterläßt, die anderen zu verteufeln, sondern erst, wenn man aufhört, von ihnen zu verlangen, sie hätten als Unterdrückte und Verfolgte auch noch die besseren Menschen zu sein – erst dann findet die Diskriminierung ein Ende. Daher die frühen Phantasien der philosemitischen Linken von einem sozialistischen Israel wie die spätere abstruse Kehrtwendung: Zionismus führt zum Faschismus.

Wenn Rosenthal mit Bundesverdienstkreuzen, Bambis, Goldenen Kameras und ähnlichem Unsinn behängt wird, dann heißt dies nur, daß hierin auf spezifisch nachkriegsdeutsche Weise der gelbe Stern aufgehoben ist: Bezeichnet und belohnt wird der endgültige Verzicht der Opfer auf Rache (und Rosenthal gehört, wie er berichtet, zu den ersten, die kleine Nazis verteidigen gegen die Besatzungsmacht; er bringt Ilse Werner in den Sender und boxt einen »immer strikt unpolitischen« Mitarbeiter des Reichs­senders, Pelz von Felinau, frei). Im Vergessen oder der affirmativen Erinnerung (wie sie nach »Holocaust« en vogue ist) daran, was ihnen und anderen geschah, sind sie den Verfolgern von einst und den Repräsentanten von heute ähnlich und damit akzeptabel geworden. Dem infamen »jüdische Mitbürger« hält Rosenthal das nicht weniger niederträchtige »jüdische Menschen« entgegen. Auf den jährlichen Wochen der Widerlichkeit, wo die Davongekommenen zu Brüdern herabgewürdigt werden, böte sich der mit viel Reklameaufwand propagierte erste Teil der Erinnerungen als Rezitationsstoff unter dem Titel »Zur Banalität des Guten« an: Ganz rührend berichtet Rosenthal von den Mutterinstinkten seiner Beschützerinnen und dem Abscheu, ein Kaninchen oder ein Huhn zu schlachten. Im Land der Kinderfeindlichkeit und der Tierliebe gab es nach »Holocaust« in der Bunten Illustrierten die Schlagzeile »Die KZ-Katzen« und Bild formulierte die einzig gültige antifaschistische Maxime: »Gemein – Halla zu Seife verarbeitet«. In jenen Passagen finden sich alle Muttis der großen Hör Zu-Familie – ein ideales Weihnachtsgeschenk – als aufrechte Antifaschistinnen wieder, die den fröhlichen »Hansi« gern an ihr Herz gedrückt hätten. Gottseidank wird hier die urbane Version von Rosegger (»Als ich noch der Waldbauernbub war«) oder das Märchen vom »Hans im Glück« gegeben, und kein alter Jude oder keine kranke Jüdin müssen um Unterschlupf betteln.

»Zwei Leben in Deutschland« (wobei das zweite so uninteressant ist wie das erste und einzige von Lou van Burg) ist, da sagt Rosenthal ausnahmsweise die reine Wahrheit, »ein verkleinertes Spiegelbild dessen, was diesem Land widerfahren ist«, aber was hier wem und wie widerfährt, wenn er schreibt, daß er Deutschland »trotz oder gerade wegen der Leidenszeit, die mir auferlegt war, als Vaterland empfinde«. Das ist so grotesk, daß man es nur paradox fassen kann: Es ist die Wiedergutmachung der Opfer.

Irgendein kluger Kopf hat einmal gesagt, das Godesberger Programm der SPD zeige den Abstieg von Karl Marx zu Heinrich Deist. Rosenthals Erinnerungen dokumentieren den Aufstieg der Deutschen vom Hep-Hep zu Dalli-Dalli. Und darüber zu schreiben, wäre die Rezen­sion eines noch nicht geschriebenen Buches.

1981

Alle sind Sieger
Die Wiedergutwerdung der Deutschen

I.

»Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal.«

Adorno/Horkheimer, »Dialektik der Aufklärung«

Von einer Klassenfahrt mit der Oberstufe zum ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen berichtete ein Lehrer, der Besuch habe die Schüler ziemlich gleichgültig gelassen, »weil es da doch nichts zu sehen gäbe, nicht einmal eine Vivisektion« (Frankfurter Rundschau vom 8.6.1978). Was hatte er denn erwartet? Daß seine Schüler nach Bonn sausen, um eigenhändig den Bundespräsidenten wegen dessen NS-Vergangenheit und den Innenminister wegen seiner Äußerung über Ausländer zu stürzen?

Die Verhältnisse dementieren jegliche Aufklärung, und der bemühte Pädagoge kann in den seltensten Fällen dafür, daß seine ehrbaren Absichten wie Seifenblasen zerplatzen. Jenen Lehrer mochte auf seiner Bildungsreise ein gänzlich unpädagogisches Entsetzen überkommen haben, daß da vielleicht die Stimme seiner zukünftigen Bewacher zu vernehmen war, die ihm so plötzlich die Sprache verschlug. Seine Hoffnung, die Anschauung des Grauens befördere die Entwicklung der moralischen Persönlichkeit, erwies sich als trügerisch. Als ebenso illusionär wie die einstigen Hoffnungen auf die abschreckende Wirkung des Bestsellers »Im Westen nichts Neues«, der die Leser nicht davon abhielt, wenig später an der Massenschlächterei des zweiten Weltkriegs teilzunehmen. Über Theresienstadt schrieb H.G. Adler: »Es verlockt viel mehr, als noch der Abscheu vor dem Grauen sich eingestehen will.« Warum also sollten Schüler angesichts eines Massengrabs zur Besinnung kommen, wo es hier außerdem nur beweist, wie schnell die Wogen sich wieder glätten und daß es darauf ankommt, durchzukommen, übrigzubleiben. Oder anders gesagt: »Unmoralisch ist nur das Verrecken« (so ein SA-Student in Ferdinand Bruckners »Die Rassen«).

Der Kitzel spektakulärer Greuel, den die Welt 1945 bei der Entdeckung der Leichenberge im KZ Bergen-Belsen empfunden hatte und der in der marktkonformen Ausbeutung der Vergangenheit im Kino und am Kiosk zu haben ist, stellt sich an den historischen Orten der Vernichtung, den Konzentrationslagern, so wenig ein wie das Gruseln an den Schaltstellen der künftigen Apokalypse, den atomaren Kommandozentralen. Denn jede Katastrophe bleibt notwendig solange abstrakt, bis sie einen ereilt.

Für das zeitgenössische Bedürfnis, sadistisch angedreht zu werden, gibt es auf dem Areal eines früheren Konzentrationslagers nichts zu holen: Bergen-Belsen zum Beispiel ist – wie vor Hitler – wieder die grüne Idylle fürs Heide-Weekend, und die ausgestellten Dokumente bieten nicht jenen Attraktionswert feil, den Pädagogen fälschlicherweise für immunisierend halten. Anderes als in den abendlichen TV-Nachrichten findet, wer auf der Höhe der Zeit ist, in derlei Museen nicht: hier ein Vernichtungskrieg, dort ein Massensterben; Katastrophen, die einen nicht nur lehren, was es heißen könnte, zu den Opfern zu zählen, sondern vor allem die Aufforderung enthalten, sich um einen Platz unter den Überlebenden abzustrampeln. Der Umstand, daß die einen nur verhungern, damit die anderen Diät pflegen können, daß die einen totgeschlagen werden, damit die anderen Freizeitprobleme haben, das paradoxe Novum, daß sich Verbrechen auszahlt und niemand etwas davon hat, hat längst jenen überkommenen Begriff von Humanität ruiniert, auf dem die gängige Aufklärung über Auschwitz gründet. Die versierte Kälte, die zynische Ignoranz vieler Jugendlicher gegenüber dem vergangenen und gegenwärtigen Leiden enthalten mehr Wahrheiten über die Verhältnisse als alle gutgemeinten Behauptungen und Absichten der Pädagogen.

Die Kehrseite zur Ferne, in welche das Grauen gerückt wurde, ist die erbauliche Nähe, wo es Geschichte, wie neuerdings unter dem Markenzeichen »Erfahrungshunger« propagiert wird, »zum Anfassen« geben soll. »Am Ende stand tiefe Betroffenheit«, konnte man über eine »alternative Stadtrundfahrt« zum Abschluß einer »Woche des antifaschistischen Widerstands« lesen (Hannoversche Allgemeine vom 20.10.1980), denn seit »Holocaust« war, wie es in einem publizistischen Tagesbefehl hieß, »eine ganze Nation betroffen«. Und zur Nation rechnet sich, wie wir seit geraumer Zeit wissen, auch wieder die Linke. Sie setzt alles daran, die stolze Behauptung des Kommunistischen Manifests, die Arbeiter hätten kein Vaterland, ebenso erfolgreich zu widerlegen wie die deutsche Arbeiterbewegung. Vergessen ist die Erkenntnis, daß, wer in Deutschland von Zuhause, von Heimat redet, nur der Herrschaft entgegenkommt, die auf solche Willfährigkeit spekuliert. Vom Zuhause bis zum Hauswart ist nur ein kleiner Schritt. Die den ersten tun, um zum zweiten auszuholen, waren immer die Betrogenen oder die betrogenen Betrüger.

II.

»Wissenschaftler sagt Aussterben der Deutschen in 100 Jahren voraus.«

Frankfurter Rundschau vom 21.11.1980

»Sterbehilfe ist Lebenshilfe« lautet die programmatische Behauptung der neuen Erziehung zur Euthanasie, in Umkehrung dessen, was man im Atomzeitalter – die Lebenden werden die Toten beneiden – unter tätiger Nächstenliebe versteht. »Erziehung zum Überleben« heißt das Handbuch für die letzten Wechselfälle, das in den sechziger Jahren unter dem Titel »Der Aufstand des Individuums gegen die Masse« noch zu jenen Schriften gehörte, welche der moralischen Empörung die notwendige Schärfe im Denken verliehen hatten. Jetzt sollen Bettelheims Überlegungen zur pädagogischen Betriebsanleitung für den GAU werden. Im Land der Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter soll von der Wiege bis zur Bahre niemand sich pädagogischem Zugriff entziehen dürfen. Während aber an Krankenbetten, in Altersheimen und in greisen Selbsterfahrungsgruppen der studierte Todeserzieher mit seinen Klienten das richtige Hinscheiden probt, regt sich andererseits der Selbsterhaltungstrieb der ganzen Gesellschaft. Angesichts der vorbereiteten Katastrophen besinnt sie sich plötzlich darauf, wo sie hergekommen war: aus Bunkern und Unterständen, am Leben geblieben mit Ersatzkaffee, Schmierseife und Sauerampfer. Das Leben scheint hinter seine Voraussetzungen zurückgetreten zu sein, so daß alles Handeln, unter dem Bann der Selbsterhaltung stehend, zum Reflex verkümmert, zur bloßen Notwehr, zur instinktiven Regung, zur leeren Angst.

Weil dem Leben alle menschenwürdigen Bestimmungen offenbar abhanden gekommen sind, kapriziert sich alles aufs ziellose, leere und unbestimmte Leben, das nichts von sich Verschiedenes mehr weiß.

»Wovor ich Angst habe«, heißt es in einem »Apokalyptischen Tagebuch«, »daß sie alles zubetonieren – daß meine Chromosomen zerstört werden – daß die menschlichen Beziehungen kaputtgehen – daß ich eine Angst übersehen habe ...« (Literatur-Konkret, 1981). Wenig später ist jedoch die paranoische Bedrückung der Autorin aus der AKW-Szene einem fröhlichen Optimismus gewichen: »Plötzlich gibt alles wieder einen Sinn. Und der heißt: Überleben. So einfach ist der Sinn des Lebens. Eigentlich kann ich froh sein.« (ebenda)

Wir hingegen müssen in dieser regressiven Fröhlichkeit eher die bestürzende Einsicht von Hannah Arendt bestätigt sehen, die sie in »Eichmann in Jerusalem« formuliert hat: daß Auschwitz nicht das letzte Kapitel des Antisemitismus gewesen sei, sondern das erste Kapitel moderner Herrschaft. Sozusagen der Anfang vom Ende; und dieser Anfang liegt nun bereits einige Jahrzehnte zurück.

Gerade aber im Abstand zum Konzentrationslager kommt, was dieses zur Wiege moderner Herrschaft macht, zum Vorschein. Wer wie im oben zitierten Apokalyptogramm von tausendfältiger Angst redet, leidet nicht Hunger, verdurstet nicht, wird nicht gefoltert und schon gar nicht umgebracht; und wenn ein Kommunist, der ausgerechnet Richter werden will, dies nicht darf, dann ist das nicht die in einem Atemzug mit Berufsverbot beklagte Existenzvernichtung.

Nach Gorleben wurde niemand deportiert, die Demonstranten errichteten freiwillig ihre neugermanische Wendenrepublik, ohne von bis an die Zähne bewaffneten Schergen bedroht zu sein; niemand hat die Frankfurter Startbahngegner gezwungen, nackt vor die Polizei zu treten. Und doch erweckte ihr geschäftiges Treiben den Anschein, als wären sie schon im KZ, also dort, wo menschliches Leben nurmehr unter der Bestimmung allgegenwärtiger Vernichtung sich tatsächlich aufs nackte Überleben einzurichten hatte. Entsprechend staffierten sich auch die Demonstranten aus: mit Säge, Stablampe, Feldkocher – den Werkzeugen der Zukunftsbewältigung.

Die Beobachtungen und Reflexionen aller authentischen Literatur über die Massenvernichtung des Nationalsozialismus legen minutiös dafür Zeugnis ab, daß es – um ein Diktum Adornos abzuwandeln – im Überleben kein Leben mehr gibt. Daß es sich hierbei kaum um ein Aperçu handelt, sondern um die immanente Logik der Konzentrationslager, wird von Autoren wie Langbein, Adler, Arendt, Améry oder Bettelheim eindringlich belegt.

Kaum zufällig ist auch, wenn man den oben angedeuteten Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart sich vor Augen führt, daß in beiden Fällen der Begriff »Erlebnis« eine zentrale Rolle spielt. In nahezu allen Augenzeugenberichten aus den Konzentrationslagern, die das immergleiche Elend schildern, taucht in Verbindung mit Worten wie »Haft«, »Lager«, »KZ« der Begriff »Erlebnis« auf, und ein Blick, nicht nur in die Literatur der neuen Gefühligkeit, sondern in die Tagesverlautbarungen der Szene genügt, um festzustellen, daß es heute aufs Erlebnis ankommt.

Der Begriff »Erlebnis« bezeichnet, etwa im Unterschied zu »Erfahrung«, das Aussetzen der Reflektion beim handelnden Subjekt. Die Abwesenheit des Gedankens macht alles zum bloßen Ereignis, in welchem die Person sich selbst durch eine naturwüchsige Übereinkunft mit der Außenwelt dementiert. Erleben, so verrät das Verbum, impliziert, wenn es überhaupt vom trivialen Existieren unterschieden sein soll, die Übermacht der äußeren Welt, und im drohenden »Du kannst was erleben« ist unzweideutig ausgedrückt, daß das Subjekt des Satzes zum Objekt einer gegen es gerichteten Handlung wird. Schließlich nimmt es nicht wunder, daß »Erlebnis« als Bestandteil in ideologischen Sprachungetümen auftaucht, welche die Zerrissenheit der Gesellschaft im »Gemeinschaftserlebnis« von Gesangverein, Töpfergruppe oder Landkommune mythisch zurücknehmen wollen. Noch in der scheinbar größten Entfernung zum verwalteten Alltag läßt sich die unmittelbare Nähe von angedrehter Vitalität und Erstarrung diagnostizieren: Die Linke fährt nicht in die Ferien, sondern macht in Griechenland Erlebnisurlaub.

Daß Élan vital und Todesdrohung, Betriebsamkeit und Versteinerung, Erlebnishunger und Überlebensangst so dicht aneinanderliegen, ist eine Gewißheit, der man seit Hitler nicht mehr ausweichen kann. Arendt und Bettelheim beschreiben, wie die Ineinssetzung von Leben und Sterben im Konzentrationslager als »Lagererlebnis« zum wichtigsten Kalkül totalitärer Herrschaft wurde. Angesichts des Umstandes, daß vor der atomaren Drohung zwischen Endlösung und Selbstvernichtung nurmehr wenige Nanosekunden liegen, scheint die »Extremsituation«, wie Bettelheim das KZ nennt, zum Normalzustand aufgestiegen zu sein. Die Wortführer der neuen Bescheidenheit haben sich damit abgefunden, daß es nicht mehr ums richtige Leben geht, sondern »nur noch gegen den falschen Tod« (Martin Walser). »Der Tod ist das Erlebnis des Menschen, das jeden tief berührt«, heißt es in einem gruppentherapeutischen Prospekt, und es steht zu befürchten, daß die zum thanatologischen Kollektiv mutierte Menschheit es wie ein Süchtiger kaum erwarten kann, daß die alles erlösende Droge abgeworfen wird. Ihre Gier nach dem goldenen Schuß ist so groß wie die Angst vor ihm.

Ein Erlebnis besonderer Art gehört in diesen Zusammenhang, weil es den deutschen Gefühlshaushalt um eine besonders erlebnisfähige Variante bereichert hat: der Medienhit »Holocaust«. Seither lassen die Deutschen, wie um zu beweisen, daß es doch so etwas wie Volkscharakter gäbe, keine Gelegenheit aus, »tief betroffen« zu sein. Nachdem die Politiker tief betroffen waren über einen Bombenanschlag von Neofaschisten in München, ging das Oktoberfest weiter. Zum Jahrestag gab es neben einem Gedenkstein die ebenso haltbare Versicherung: »Terroristen dürfen uns nicht die gemeinsamen Freuden beseitigen«. Vor lauter Betroffenheit hatte sich die Linke damals überhaupt nicht gerührt. In Frankreich waren nach einem ähnlichen Attentat Hunderttausende auf die Straßen gegangen. Wahrscheinlich war die bundesdeutsche Linke wie so oft in den letzten Jahren, vollkommen mit der Frage ausgelastet, warum sie nicht richtig trauern könne. Um die Opfer ging es dabei nie, sondern um das Innenleben der Szene.

Die Betroffenheit angelegentlich von »Holocaust« reich­te bis in den letzten Winkel der Republik. Gerade der Umstand, daß die modernen Massenverbrechen nicht nur Verbrechen an Massen, sondern auch Verbrechen von Massen sind, war für den durchschlagenden Erfolg der TV-Serie bestimmend.

Eben weil jeder Deutsche etwas gewußt hatte – sogar das Kursbuch mit den Abfahrtszeiten und Bestimmungsbahnhöfen der Deportationszüge konnte sich jeder besorgen –, wollte keiner davon Kenntnis gehabt haben. Jeder hatte damals einen Zipfel Wahrheit in der Hand, der sich, verdrängte man ihn nicht rasch genug, sehr wohl als der Strick herausstellen mochte, an welchem man, eine Gerechtigkeit vorausgesetzt, einmal baumeln könnte. Gerade auf Bürgernähe, auf dosiertem Mitwissertum und kalkulierter Furcht vor strafender Gerechtigkeit basierte die Effizienz der nationalsozialistischen Herrschaftsapparate.

Die mit »Holocaust« hervorgerufene bundesweite Rühr­seligkeit hat der historischen Begründung der Kollektivschuld der Deutschen am größten Verbrechen der Geschichte nur eine aktuelle Bestätigung hinzugefügt. Nachdem alle Welt längst über das Ausmaß des damals angerichteten Grauens so gut informiert war, daß es ansatzweise auch nachgeahmt werden konnte, nachdem jeder, der die Wahrheit wissen wollte, sie wissen konnte – da ging ein Aufschrei durch das Land: daß es so schlimm gewesen sei, davon habe man keine Ahnung gehabt. Die ganze Nation verhielt sich wie Eichmann vor den Schranken des Gerichts in Jerusalem, wo er sich erzählen ließ, was er angerichtet hatte.

Als die Fernsehschnulze dann anderen Medienhits das Feld überlassen mußte, weil die Welt nicht Wille, sondern Knüller und Vorstellung ist, da waren die Serie wie die Sache rasch vergessen (über die Wiederholung wurde dann auch kaum ein Wort verloren). Nach den vom Fernsehen angeforderten und pflichtschuldig abgelieferten Statements der Betroffenheit, die, wie ein mit der Zuschaueranalyse befaßter Wissenschaftler ungeniert ins Mikrophon plauderte, »alle sofort nach Eingang mit einer Nummer versehen wurden«, sonderten die Instinktdrüsen wieder Bekanntes ab. Im Feuilleton und nach dem eingeschliffenen Muster, daß man unter dem Leid der anderen mehr zu leiden gehabt habe: »ästhetische Tortur« war in der Frankfurter Rundschau zu lesen, oder in den Leser­briefspalten: »Wo bleibt der Streifen über die Vertreibung nach 1945?« – Er sollte kommen.

Im Land der Kinderfeindlichkeit und der Tierliebe, wo die Bevölkerung nach ihrem befürchteten Aussterben umstandslos durch Millionen Haustiere ersetzt werden könnte, erschien nach »Holocaust« in einer bunten Illustrierten eine Titelgeschichte unter der Schlagzeile: »Die KZ-Katzen«; der Fernsehzoologe Grzimek empörte sich: »Die KZ-Hühner leben ständig im Streß«; der Spiegel schrieb über einen Geflügelfarmer, der die Tiere – wörtlich – »mit Kohlendioxid sonderbehandelt« hatte, und Bild formulierte schließlich die in Deutschland einzig gültige antifaschistische Maxime: »Gemein, Halla zu Seife verarbeitet!« »Holocaust« hat mit seinen weltweiten Zuschauerrekorden dafür gesorgt, daß Auschwitz von der UNESCO in eine Art Guinness-Book der Rekorde, in einen Katalog der kulturellen Spitzenleistungen aufgenommen worden ist, als Ort des schlimmsten Verbrechens neben dem höchsten Berg und der gewaltigsten Kathedrale.

»Holocaust« hat unwiderlegbar bewiesen, daß die Welt nach den Konzentrationslagern nicht mehr dieselbe ist, obwohl und weil alles nach ihnen so weitergeht. Diese dem 20. Jahrhundert eigentümliche Resistenz der Menschen wird offenbar nur dadurch möglich, daß sie, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, vergangene Katastrophen vermittels der vorweggenommenen Folgen kommender Untaten verdauen.

Mit den Verbrechen einiger Dutzend Mörder ließe sich ruhig weiterleben, auch mit professionellen Sadisten, als welche die Gerichte fälschlicherweise ehemaliges SS-Personal vorführen. Nicht aber, oder nur um den Preis einer Sinnstiftung, welche die Opfer beleidigt und verhöhnt, in der Welt, wo Millionen Menschen grundlos und ohne Ausrede auf eine höhere Macht oder Naturzwang von Menschen planmäßig und industriell umgebracht worden sind.

Aber schließlich wird alles verstanden und der einzig möglichen Antwort auf Auschwitz: die unmittelbare Herbeiführung von Verhältnissen, unter denen es sich nicht wiederholen könnte, die letzte Chance genommen, Gestalt anzunehmen. Zum verbindlichen Schibboleth wurde dabei »Holocaust«.

Unter diesem neuen trade-mark ist den Deutschen die eigene Vergangenheit so geläufig und griffig geworden wie Nivea. Hinter diesem fremd-geheimnisvollen Wort verschwindet jeder Unterschied zum beliebigen Verbrechen. Und gerade seiner Beliebigkeit wegen wurde es zum Lieblingswort. Mittlerweile fungiert es als modische Floskel der Druckabfuhr: »War das ein Holocaust«, erleichtern sich Familienväter nach einem verkaufsoffenen Samstag. Aus Gründen, die zu erläutern sein werden, hat sich die Linke besonders dabei hervorgetan, »Holocaust« in ein Breitband-Narkotikum zu verwandeln. Damit ist ihr, erfolglos im Kampf gegen Überfremdung, Supermächte und Kolonisierung der Köpfe ein bodenständiger Etappensieg gelungen: eine hausgemachte Inflation.

III.

»Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, ebenso wie Menachem Begin haben nur wenig aus dem Faschismus und dem Holocaust gelernt, denn die israelische Völkermordpolitik im Libanon und die brutale Unterdrückung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten haben die gleiche Qualität wie der Massenmord im Dritten Reich.« (Ein Funktionär der Berliner Jungdemokraten auf einer Demonstration, Juni 1982)