Kitabı oku: «Die erste Legende von Ashamur», sayfa 3
Kapitel 3
Ein unbeschreiblicher Schmerz in ihrer Brust ließ ihren Atmen stocken. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren. Sie öffnete ihre Lippen zum Schrei, aber sie blieb stumm. Das Letzte was sie sah, war ihre kalkweiße Hand, die sie flehend von sich streckte, bevor sich ein schwarzer Schleier vor ihre weit aufgerissenen Augen legte. Dann war alles still, doch ihre unausgesprochenen Worte drangen an die Ohren des Mannes, der einen Dolch in ihr Herz gerammt hatte. „Dhakur nes ourih!“
Kel fuhr aus dem Schlaf hoch und unterdrückte in letzter Sekunde einen Schrei. Sie rieb sich übers Gesicht und bemerkte, dass es nass war. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf ihr Nachtgewand. War es dieser seltsam reale Traum, der diese melancholische Stimmung ausgelöst hatte, die sich in ihrer Brust ausbreitete? Kel war sich sicher, diesen Traum nicht zum ersten Mal geträumt zu haben.
Doch sie konnte die Zusammenhänge nicht einordnen. Ergaben die rätselhaften Worte einen Sinn oder handelte es sich nur um wirres Zeug, wie es in Träumen häufig vorkam? Am Ende entschied sie sich, dem Traum keine große Bedeutung beizumessen und legte sich wieder schlafen. Doch Schlaf stellte sich nicht ein. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Was, wenn die Männer des Westtempels erkannten, das Kel ein Mädchen war? Noch dazu eine Magieträgerin! Was würden sie wohl mit ihr tun? Sie verhaften, wie die Nachbarsfrauen, die nur harmlose Tinkturen hergestellt hatten? Oder würde man sie in eines der roten Häuser verkaufen, wo Männer ihr alle erdenklichen Abscheulichkeiten antun würden, um ihren eigenen Befriedigungen nachzugehen?
Oder war der Tod die gerechte Strafe für eine Frau, die Kräfte besaß, die nur Männer besitzen durften?
Sie nahm sich vor, nie wieder diese verfluchte Gabe anzuwenden, doch sie wusste, dass sie nicht immer Einfluss darauf nehmen konnte. Manchmal beschwor sie unbewusst Magie, wie damals bei Ocai und seinen Kumpanen. Oder heute beim Essen, als sie ihren Trinkbecher vom Umkippen abgehalten hatte. Sie müsste lernen, ihre Magie unter Kontrolle zu bringen.
Niemand durfte davon erfahren. Sie würde Jard irgendwie dazu bringen müssen, dass er es für sich behielt, wenn sie erst im großen Ausbildungstempel des Westens waren, wo sie sich ausschließlich auf das Erlernen der traditionellen Kampfkunst konzentrieren wollte, während Jard seine heilerischen Fähigkeiten voll entfalten würde.
In zwei Wochen würden sie aufbrechen. Ihr Herz klopfte aufgeregt, bei dem Gedanken, endlich die schöne Insel Eriu zu sehen und sogar für einige Zeit dort zu leben. Ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, dass es der große Traum ihres Vaters gewesen war, in einem der fünf Tempel ausgebildet zu werden. Er war ein talentierter Schwertkämpfer und außerdem ein ausgezeichneter Bogenschütze gewesen. Doch war alles anders gekommen. Seine Frau, Xora, war bei Kelestras Geburt gestorben. Er musste für das kleine hilflose Bündel sorgen und vergrub seinen Traum von den Ausbildungstempeln, auch wenn Nona ihn immer ermuntert hatte, für einige Zeit zu gehen. Sie würde mit dem Geld, das sie mit ihren Flechtkörben und Keramikarbeiten verdiente, schon auskommen für sich und Kel. Doch Avias hatte sich lieber für das schnelle Geld entschieden und sich für die Schlacht von Ivadyn, gegen Herzog Rahol aus dem Südreich, rekrutieren lassen, von der er nie zurückkehrte.
***
„Geht es dir besser?“, erkundigte sich Jard. Kel war immer noch blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Im Unterbewusstsein plagte Jard ein schlechtes Gewissen. Hatte er seinen Freund vielleicht zu sehr gedrängt, ihn am Ende sogar genötigt, den Bluteid zu schwören?
„Tut mir Leid, wegen gestern. Ich hoffe, du kommst damit zurecht.“ Er knabberte nervös auf seinen Lippen herum, den Blick vorsichtig auf Kel gerichtet, der eines der Pferde, die sie für die Reise nach Eriu benötigten, mit einer groben Bürste, vom letzten Winterfell befreite.
Kel nickte. „Schon gut, ich hätte mich nicht so anstellen sollen. Ich weiß, dass dir diese Blutsbrüderschaft viel bedeutet. Mir auch, Jard. Ich hätte mir keinen anderen Bruder wünschen können.“
Seine Stimme klang erstickt, doch Jard war erleichtert, dass Kel nicht länger mit sich haderte.
Kel räusperte sich. Irgendetwas lag ihm scheinbar noch auf dem Herzen. Jard wechselte die Seite seines Pferdes und stand nun dichter an Kel. Er schrubbte den Rücken seines Fuchses und schielte hinüber zu ihm.
„Jard, ich muss dich um was bitten“, murmelte Kel, die Stirn in Falten gelegt.
„Klar, Bruder!“, schoss Jard übereifrig hervor.
„Du weißt, dass ich nicht gerne Magie gebrauche. Ich bin auch nicht... nicht gut darin, so wie du. Ich meine, ich könnte meine Hände stundenlang auf eine schmerzende Schulter legen, es würde nichts geschehen, außer, dass meine Hände dabei höchstwahrscheinlich einschlafen.“
Jard musste Grinsen. „Das ist reine Übungssache“, explizierte er.
„Ich wünschte mir, ich besäße keine Magie“, sagte Kel schwermütig.
Überrascht brach Jard die Putzbewegung mit der Pferdebürste ab. Der Wallach gab ein feuchtes Schnauben von sich.
„Ich verstehe dich nicht, Kel. Uns Magieträgern wurde diese besondere Gabe von unseren Ahnen, den Allmächtigen, geschenkt, also sollten wir sie auch nutzen. Weißt du eigentlich, wie viele Menschen uns darum beneiden? Einschließlich Liva!“
Kels Schimmelstute schlug nervös mit dem Schweif und gleichzeitig mit dem Hinterhuf. Scheinbar hatte Kel sie zu grob an der Flanke geschrubbt.
„Sie wäre nicht lange glücklich, schätze ich. Als einzige Magieträgerin der Welt.“ Bei diesen Worten nahm Kels Miene geradezu schmerzliche Züge an.
Was war nur los mit ihm?
„Ich wäre dir dankbar, wenn du es für dich behältst, dass ich ein Magieträger bin, wenn wir im Tempel sind. Ich will mich dort nur auf das Kämpfen konzentrieren und habe nicht vor, Magie zu benutzen. Frag nicht nach Gründen, ich habe mich einfach dazu entschieden! Ich habe auch deinen Vater gestern Abend gebeten, dass er mich in seinem Schreiben an Großmeister Nakoro nicht als Magieträger bezeichnet. Ich glaube, er war verwundert, aber letztendlich hat er meinen Wunsch respektiert. Bitte tu du es auch!“
Kels Stimme klang heiser. Das einzige Resultat, das die Wolfsnessel offenbar bei ihm bewirkte.
Jard nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase.
„Du kannst dich auf mich verlassen, Bruder. Niemand erfährt von mir irgendwas. Du bist nur ein ganz normaler Junge, der es auch ohne Magie schaffen will, der beste Kampfschüler aller Zeiten zu werden und sich die begehrte Lotusmandala- Tätowierung zu verdienen.“ Jard versuchte ein lockeres Lächeln zustande zu bringen. Möglicherweise überlegte es Kel sich ja im Tempel noch einmal anders, wenn er erst mit vielen anderen Magieträgern zusammen war, dachte Jard zuversichtlich und setzte die Fellpflege seines Pferdes fort.
***
Sie brachen im Morgengrauen auf. Es war ein warmer Frühsommertag und die Pferde hielten ein angenehmes Tempo. Bis Sonnenuntergang wären sie unterwegs zur Westküste, von wo aus sie mit einer Fähre zur Insel Eriu fahren würden. Die kurze Überfahrt war für die Pferde weniger nervenaufreibend, als die mehrstündige Schiffsfahrt von Aracons Hafen aus. Überdies war Kel noch nie aus Aracon herausgekommen und war neugierig auf die Dörfer und kleinen Städte, die sie auf der Reise durchqueren würden.
Das erste Dorf, das sie am Vormittag erreichten war bekannt für seine wunderbaren Obstplantagen. Hier wurden insbesondere die einheimischen rosafarbenen Chamshi und die herrlich süßen Nashiri gezüchtet, doch auch exotische Früchte von fernen Kontinenten wie Äpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen gab es hier. Kel und Jard kauften bei einem Straßenhändler jeweils einen Beutel Obst, das sie mit ihren Pferden teilten.
Sie pausierten am Rand eines Kürbisfeldes, als ein Wagen, vor den ein klappriger Wasserbüffel gespannt war anhielt. Der Mann auf dem Bock schien sichtlich erschöpft. Zwischen der Fracht auf dem hinteren Teil saßen eine zum Teil verschleierte Frau und zwei kleine Kinder. Die Kinder schliefen. Offenbar war die Familie lange Zeit unterwegs gewesen.
Kel und Jard begrüßten den Mann mit einer freundlichen Geste, als dieser von seinem Wagen sprang.
„Ihr seht hungrig aus“, sagte Jard und bot dem Mann sofort etwas von seinem Obst an.
Der Mann half seiner Frau herunter. Die schlafenden Kinder deckte er mit einigen leeren Säcken zu.
Kel bot der Frau von ihrem Obst an. Dankbar griff sie zu einem Apfel und biss genussvoll zu.
„Setzt Euch zu uns“, sagte Kel und hockte sich wieder ins Gras. Der Mann breitete einen weiteren leeren Sack aus und bedeutete seiner Frau, sich darauf nieder zu lassen. Kel verfolgte den Mann irritiert, der plötzlich einen länglichen hölzernen Gegenstand unter seinem schmuddeligen Hemd hervorzog, der an einer groben Schnur um seinen Hals hing. Sie kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand besser zu erkennen, den der Mann gegen die Sonne hielt und dabei unverständliche Worte murmelte. Dann drehte er sich in jede Himmelsrichtung, streckte das hölzerne Artefakt in die Höhe und wiederholte die geheimnisumwobenen Worte. Rituale jeglicher Art waren nichts Ungewöhnliches im Reich der vier Himmel. Sie gehörten zum Alltag vieler Männer, dachte Kel und wurde prompt wieder an den Blutschwur mit Jard erinnert. Allerdings hatte Kel noch nie so einen fingergroßen Gegenstand gesehen, der aussah, wie eine geschnitzte Pfeilspitze mit einem Drachenkopf am anderen Ende. Auch die fremdartigen Worte kamen ihr nicht bekannt vor. Rituale und Schwüre wurden schon seit über dreihundert Jahren üblicherweise in der heutigen Sprache gesprochen. Es gab nur wenige Worte, die aus der Uraltsprache in den gegenwärtigen Sprachgebrauch übernommen worden waren und meistens nur in der Heil- sowie in der Kampfkunst verwendet wurden.
Als der Mann fertig war, küsste er die kleine Figur dreimal und ließ sie wieder unter seinem Hemd verschwinden. Dann setzte er sich neben seine Frau und biss gierig in eine saftige Chamshi.
„Was war das für ein Brauch?“, fragte Jard interessiert. „Mir scheint, Ihr seid nicht von hier.“
Der Mann berührte die Stelle auf seiner Brust, wo die Figur unter seiner Kleidung lag.
„Wir sind aus Ashamur. Seit sechs Tagen sind wir unterwegs. Wir wollen zur Insel Katuri, denn dort sind wir sicher!“ Der Mann war sichtlich aufgeregt, während er sprach; zudem blickte er ständig in den Himmel, als suche er dort etwas.
„Sicher wovor?“, erkundigte sich Kel.
„Vor der Prophezeiung, Junge!“, zischte die Frau unter ihrem Halbschleier hervor.
„Ruhe Weib! Wer hat dich gefragt?“, brummte der Mann.
Die Frau blickte rasch zu Boden.
„Es wird zurückkehren und nichts als Verwüstung hinterlassen. Ich spüre es. Ich bin kein großer Magieträger, aber ich habe es in den schwarzen Wolken gelesen, die über die Königsstadt zogen. Es wird kommen! Ich habe es den anderen gesagt, doch sie glaubten mir nicht. Sie sind verdammt! Daraufhin haben wir unser Hab und Gut gepackt und sind losgefahren. Katuri ist ein sicherer Ort, denn die Insel gehört nicht zum Reich der vier Himmel. Dort wird diese Kreatur uns nicht finden.“ Wieder starrte der Mann in den Himmel, offenbar fürchtete er, die düsteren Wolken könnten ihn bis hierher verfolgt haben.
„Eine Prophezeiung sagt Ihr?“ Jard kratzte sich am Kinn. „Von welcher Prophezeiung genau sprecht Ihr? Es gibt dutzende, dreiviertel davon wurden erfunden, um Kindern das Fürchten zu lehren.“ Kel bemerkte, dass Jard die Geschichte des Mannes genauso wenig ernst nahm wie sie selbst. Doch der Aberglaube war fest verankert in den Köpfen vieler Menschen.
Eine Prophezeiung, von der sie immer wieder gehört hatte, offenbarte beispielsweise, dass die Sonne nie wieder scheinen werde und die Menschen in ewiger Dunkelheit leben sollten, wenn sie nicht vor Mitternacht in ihren Betten lagen. Aus diesem Grunde war vor Jahrhunderten die Sperrstunde eingeführt worden, an die sich weniger als die Hälfte der Menschen hielt. Angst, dass die Sonne nie wieder scheinen würde, hatte sie längst nicht mehr.
„Ihr glaubt mir nicht?“, fuhr der Mann die beiden an. „Ich sehe es in euren Augen! Ich sage euch, flieht solange ihr noch könnt, Burschen!“ Er sprang auf die Füße und zerrte seine Frau sogleich mit sich. Er schob sie unsanft auf den Karren, stopfte dem Büffel den Rest seiner Chamsi ins Maul und schwang sich auf den Kutschbock.
„Unser aller Untergang naht!“, rief er mit mahnender Stimme und knallender Peitsche. Der Karren setzte sich in Bewegung. Kel und Jard verfolgten ihn mit skeptischen Blicken, bis er um eine Kurve verschwunden war.
„Wen meinte er mit es?“, fragte Kel. Achselzuckend kramte Jard in seinem Beutel nach einer Pflaume.
„Ich glaube, er sprach von einer Kreatur. Was auch immer man darunter versteht. Ich glaube zwar an Magie, immerhin sind wir selbst Magieträger, aber alles hat seine Grenzen. Zum Beispiel kann niemand – nicht einmal der beste Magieheiler – jemanden wieder vom Tode erwecken. Genau deswegen, glaube ich auch nicht, dass es etwas so Mächtiges gibt, das die Welt einfach zerstören kann.“
„Du hast sicher Recht“, erwiderte Kel und blickte in den Himmel. Für eine Schreckenssekunde meinte sie, eine Düsternis über ihnen zu erkennen, doch als sie den Blick schärfte war dort oben nichts als ein tiefblauer Sommerhimmel.
Kapitel 4
Insel Eriu, Ausbildungstempel des Westens
Aris liebte die traditionelle Kampfkunst, ebenso wie den Schwertkampf. Sein Ziel war es, beides so weit zu perfektionieren, um eines Tages als bedeutendster Kämpfer des Vierhimmelreichs in die Geschichtsbücher einzugehen. Und diesem Ziel kam er stetig näher. Zwei Jahre lang hatte er im Ausbildungstempel des Nordens täglich viele Stunden den Schwertkampf unter Großmeister Seki trainiert. Kein anderer Schwertkämpfer konnte ihm das Wasser reichen. Niemand war so schnell und wendig wie Aris. Die Tätowierung einer sich um ein Schwert windenden Schlange, auf seinem rechten Unterarm, zeugte von seiner ausgezeichneten Leistung und der abgeschlossenen Ausbildung. Nun wollte Aris sich voll und ganz auf den traditionellen, waffenlosen Kampf konzentrieren. Großmeister Nakoro vom Westtempel war nun sein neuer Lehrmeister. Seit einem Jahr und neun Monaten lebte Aris nun im Tempel des Westens. Er fühlte sich wohl auf der Insel Eriu. Nicht umsonst wurde sie die schönste Insel des Reiches genannt, mit ihren vielen uralten Bäumen, die im Frühling in allen erdenklichen Farben erblühten und deren Sommerlaub eine Farbenvielfalt zwischen zartem Rosa und kräftigem Azurblau aufwies. Nirgendwo sonst war die Natur so außergewöhnlich und schillernd wie auf Eriu. Das Klima war das ganze Jahr über mild und hier nahm man die alten Kräfte der Natur sehr intensiv wahr, insbesondere wenn man sich der Meditation hingab. Doch auch etwas Mystisches war hier spürbar. Den alten Sagen nach, waren auf dieser Insel, fernab der Königsstadt Ashamur, angeblich die Überreste eines alten Herrschergeschlechts von gefürchteten Halbwesen verscharrt worden, nachdem das Reich vor über viertausend Jahren von der ersten Dynastie und Herrscher Od-Khato übernommen wurde. Auch wenn Aris nicht wusste, wie viel von den althergebrachten Erzählungen der Wahrheit entsprach und wie viel Einfallsreichtum und Aberglaube sich im Lauf der Jahrhunderte darunter gemischt hatte, so spürte er doch eine gewisse Mystik.
Aris saß auf einem Gras bewachsenen Hügel über der sandigen Meeresküste und meditierte. Er trug ein traditionelles senfgelbes, knielanges Meditationsgewand, das um die Taille herum mit einer schwarzen Seidenschärpe gebunden wurde. Darunter lockere Hosen derselben Farbe. Sein dunkelblondes Haar hatte er mit einem Stirnband fixiert, sodass es ihm nicht ins Gesicht und die Augen fiel. Die warmen Strahlen der untergehenden Frühsommersonne tauchten die hügelige Landschaft in ein schimmerndes Rot-Orange während das Wasser des Ozeans wirkte, als hätte jemand Blut hineingemischt. Er verharrte noch ein wenig gelöst im Lotussitz, als er in der Ferne zwei dunkle Punkte bemerkte, die sich näherten. Dem aufgewirbelten Staub nach, musste es sich um Reiter handeln. Neuankömmlinge?
Neugierig schärfte Aris den Blick, doch die beiden waren noch zu weit entfernt. Ein paar Meter neben ihm hatte ein anderer Lehrling gerade seine Abendmeditation im Sonnenuntergang beendet.
„He, Navar!“, rief Aris dem dunkelgelockten jungen Mann zu, der durch die unerwartete Unterbrechung der Stille erschrocken zusammenfuhr.
„Wusstest du, dass wir Neue bekommen?“, wollte Aris wissen.
Navar legte die Stirn in Falten und nickte. „Ja, hab gehört, dass zwei Schüler aus Aracon kommen sollen. Eigentlich wurden sie erst im Herbst erwartet. Sie sollen aus einem der angesehensten Häuser des Westreiches stammen, deswegen wurde wohl eine Ausnahme gemacht. Ich wette, dass da wohl ein paar großzügige Zuwendungen für Eriu und den Tempel im Spiel waren, die letztendlich zu der übereilten Aufnahme geführt haben.“
Aris kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Aber es sind keine Betten mehr frei!“
Wieder nickte Navar und beobachtete nun ebenfalls die sich nähernden Punkte. „Also, mein Zimmer ist voll. Wir sind schon zu fünft. Die anderen Zimmer sind ebenfalls überfüllt.“
Aris´ Augen weiteten sich sorgenvoll.
„Scheint so, als müsstest du das Privileg eines Einzelzimmers aufgeben und zwei Beistellbetten aufstellen, Aris. Dein Zimmer ist das einzige, wo die zwei noch reinpassen!“
„Auf gar keinen Fall!“, protestierte Aris.
Navar kräuselte die Stirn. „Die anderen und ich fragen uns schon die ganze Zeit, warum du eigentlich ein Einzelzimmer hast. Sagtest du nicht, deine Familie züchtet Wasserbüffel in Nord-Bego?“
Aris schob den Ärmel seines rechten Armes hoch. Die Schlangentätowierung blitzte hervor. „Noch Fragen?“, zischte er in Navars Richtung. Ehrfürchtig blickte Navar auf die Tätowierung, die im Schimmer des blutigen Abendrots wirkte, als würde sie sich bewegen.
„Ich war der beste Schwertkampfschüler, den Großmeister Seki je unterrichtet hat. Und als nächstes wird das Lotusmandala des Westtempels auf meinen Rücken tätowiert werden, sobald ich im Spätsommer die Meisterprüfung bestanden habe“, verkündete Aris stolz. „Wie du siehst, kann sich auch der Sohn eines Büffelzüchters Privilegien verdienen und deswegen lasse ich nicht zu, dass zwei dahergelaufene Schnösel so einfach in mein wohlverdientes Einzelzimmer einziehen!“
„Willst du etwa gegen die Entscheidung der Tempelvorsteher angehen?“, fragte Navar mit großen Augen.
Aris seufzte. Selbstverständlich würde er das niemals wagen. Angespannt kniff er die Lippen zusammen. Aber wie wurde er diese beiden Eindringlinge, die soeben das große Vordertor des Tempels erreicht hatten, bloß schnell wieder los?
Es war nun fast dunkel. Er beobachtete angestrengt, wie die zwei Gestalten und ihre Pferde das Tor passierten. Im Innenhof nahm ihnen jemand die Pferde ab. Bis auf diese gepflegten, gut genährten Rassepferde, wirkten die beiden auf den ersten Blick nicht sehr besonders, stellte Aris fest. So winzig, wie der eine war, musste es sich bei ihm offensichtlich noch um ein Kind handeln. Den anderen schätzte Aris höchstens eineinhalb Jahre jünger als er selbst war. Ob sie wohl Magieträger waren, so wie er und Navar? Na gut, Navars magische Fähigkeiten waren nicht der Rede wert und an einer Hand abzuzählen. Aris´ Magie dagegen war, wenn man den Worten des Großmeisters Glauben schenkte, außergewöhnlich und äußerst viel versprechend. Denn während Navar die selten nutzlose Fähigkeit besaß, mit einer magischen Berührung Pflanzen zum Welken zu bringen, gelang es Aris mit der gleichen Berührung, Gliedmaßen anderer Menschen für kurze Zeit zu lähmen.
Unter den derzeitigen Tempellehrlingen gab es nicht ausnehmend viele Magieträger. Die meisten von ihnen zeigten lediglich heilerische Fähigkeiten. Navar besaß die Fähigkeit sich vor Angriffen zu schützen, indem er blitzschnell eine unsichtbare Schutzwand vor seinem Körper aufbauen konnte, die allerdings nur für wenige Sekunden bestehen blieb. Auch Aris besaß diese Fähigkeit, hatte sie jedoch schon so weit optimiert, dass er mehr als nur einem Wurfgeschoss standhalten konnte. Auch hatte er erkannt, dass er durch die Spiritualität, die er durch die tägliche Meditation erlangte, immer wieder stärkere magische Kräfte entwickelte. Schon als Kind hatte Aris orakelhafte Vision gehabt. Er sah Bruchstücke von Ereignissen, die kurz darauf geschahen. Zuerst hatte er sich diese zu Nutze gemacht, indem er sich bei Versteckspielen auf die Person konzentriert hatte, die es zu suchen galt und sogleich erschien vor seinem inneren Auge splitterartig der Ort, an dem sie sich versteckt hatte. Eine derartige Fähigkeit war natürlich in jeder Lebenslage von erheblichem Vorteil.
Aris und Navar standen von ihren Meditationsstätten auf und stiegen den Hügel hinab. Sie begaben sich zum hinteren Eingang des Tempels.
„Der Ältere ist ein Magieträger“, sagte Navar.
„Woher weißt du das?“, erkundigte sich Aris nun interessiert.
„Das habe ich zufällig Großmeister Nakoro zu Meister Asak sagen gehört, als sie zusammen durch den Korridor gingen. Er will Heiler werden.“
Heiler?
Enttäuschung machte sich auf Aris´ Gesicht bemerkbar.
„Als gäbe es nicht schon genug Heiler im Reich der vier Himmel!“, brummte er. Navar zuckte nur mit den Achseln.
Bei den Allmächtigen. Ein Kind und ein Heiler, dachte Aris. Schlimmer hätte es ihn nicht treffen können!
Doch Aris wollte sich seinen Unmut keinesfalls äußerlich anmerken lassen. Schon gar nicht vor dem Großmeister. In den vergangenen Jahren im Tempel hatte er gelernt, wie er seine innere Mitte fand und schlechte Energien verbannte und so konzentrierte er sich darauf, ruhig Blut zu bewahren und den Dingen seinen Lauf zu lassen.
***
Mit pochendem Herzen trat Kel vor Großmeister Nakoro. Dass Jard nur ein paar Zentimeter neben ihr stand, bereitete ihr aber kaum das Gefühl von Sicherheit. Wenn dieser weise alte Mann auch nur den kleinsten Verdacht schöpfte, was sie in Wahrheit war, war es nicht gut um sie bestellt. Prompt offenbarte sich ihr mahnend ein kirschrot angestrichenes Haus vor ihrem inneren Auge. Hastig schüttelte sie diesen entsetzlichen Gedanken ab.
Großmeister Nakoro war ein kleiner, leicht untersetzter Mann, mit grauem Haar, das er zu einem strengen Knoten auf seinem Kopf gebunden trug. Seine freundlichen mandelförmigen Augen glänzten beinahe schwarz. Er hatte einen schmalen Kinnbart, der bis zur Mitte seines Brustbeins reichte und trug eine knöchellange Robe aus schwarzem Brokat, die mit prachtvollen bunten Mustern verziert war und in der Taille mit einer goldenen Schärpe gebunden war.
Er legte seine Faust in die Handfläche vor seiner Brust und empfing die beiden mit einer würdevollen Verneigung. „Willkommen im Tempel des Westens, dem größten im ganzen Reich der vier Himmel!“, sagte er mit einem fremd klingenden Akzent. Vermutlich hatte er in jungen Jahren noch eine der älteren Sprachen erlernt, die seit Jahrhunderten immer mehr in Vergessenheit gerieten und nur noch von sehr wenigen Familien besonders im Ostreich gesprochen wurden.
Kel und Jard erwiderten die Begrüßung auf die gleiche Weise. Kel atmete innerlich auf. Der Großmeister schien sie für einen ganz normalen Jungen zu halten.
Ein paar Schritte hinter dem Großmeister stand ein langer, dürrer Bursche von etwa siebzehn Jahren, mit raspelkurz geschorenen rötlichen Haaren. Sein Gesicht war mit Pickeln und roten Pusteln übersäht und seine wimpernlosen, hellblauen Äuglein waren rosa umrandet, außerdem hatte er ungewöhnlich große Nasenlöcher, insgesamt erinnerte sein Anblick verblüffend an ein Ferkel.
Er trug die typische Kleidung eines Heilers – weißes, knielanges Gewand mit Stoffknotenleiste über dunkeln Hosen – allerdings mit einer roten Gürtelschärpe, was ihn als ranghohen Schüler auswies.
„Koho Kel, Koho Jarden, darf ich euch Taik vorstellen, er ist der ranghöchste Lehrling der Heilkunst und wird euch euer Quartier zeigen und euch über alles, was ihr wissen müsst, informieren“, sagte Nakoro und trat einen Schritt zur Seite, sodass der Junge vortreten konnte. Taik verneigte sich ehrfürchtig vor dem Großmeister, bevor dieser lautlos den Gang entlang verschwand. Dann wandte Taik sich Kel und Jard zu. Zur Begrüßung deutete er eine wenig manierliche Verneigung an, seine Arme und Hände hatten kaum Spannung während der vollführten Geste.
Ohne ein weiteres Wort ging er den Korridor hinab. Kel und Jard wechselten fragende Blicke und folgten ihm eilig mit ihrem Gepäck.
Nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, blieb Taik stehen und musterte Jard von Kopf bis Fuß.
„Ich bin jetzt dein Sempo und da du nur ein unbedeutender Koho bist, verlange ich, dass du mich auch so ansprichst, verstanden!“, zischte er.
Jard schien perplex über den schroffen Ton des Schülers, dennoch verneigte er sich demütig. „Ja, Sempo Taik!“
„Also, es läuft hier so. Ich entscheide, ob und wann du gut genug bist, für den Unterricht bei den Lehrmeistern. Ob ich dich allerdings für die Teilnahme an Großmeister Nakoros Unterricht vorschlage, steht in den Sternen!“ Er grinste herablassend. Dann setzte er den Weg durch den mit Fackeln beleuchteten Gang fort. Kel begegnete Jards entgeisterten Blick mit einem Augenrollen.
Armer Jard, dachte Kel. Mit diesem Wichtigtuer an der Backe, würde er es ganz sicher nicht leicht haben.
Vor einer dunklen Holztür machte Taik halt. „Hier werdet ihr schlafen und lernen!“
Er klopfte kurz an die Tür und öffnete sie sofort, ohne ein Zeichen von drinnen abzuwarten.
***
Nicht nur, dass ohne sein Wissen bereits zwei schmale zusätzliche Betten in seinem Zimmer aufgestellt worden waren, während er auf dem Hügel meditiert hatte, ließ Aris´ Laune auf einen Tiefpunkt sinken. Jetzt standen diese beiden Schnösel mit ihrer mondänen Stadtkleidung mitten in seinem Quartier und glotzten auf seinen nackten Oberkörper. Nicht, dass er sich für seinen wohlgeformten Schulter- und Brustbereich hätte schämen müssen. Und auch seinen flachen Bauch und die muskulösen Arme musste er nicht verstecken. Zum Glück hatte er die Hosen im gleichen Moment hochgezogen, als es geklopft hatte und Taik – dieser Wichtigtuer – mit den beiden Neuankömmlingen ohne seine Einwilligung hereinplatzte.
Alle drei machten große Augen. Aber der Kleine schien geradezu verlegen, denn seine Wangen färbten sich rot. Er senkte eilig den Blick auf die gewienerten Holzdielen.
Aris griff hastig nach seinem Hemd und zerrte es über den Kopf. Dann warf er den unwillkommenen Gästen missbilligende Blicke zu.
„Schon mal was von Höflichkeit gehört?“, murrte er und funkelte Taik an. Er konnte diesen blasierten Heilkunstlehrling vom ersten Tag an nicht besonders leiden.
„Ich hab doch angeklopft!“, rühmte Taik sich. „Hier bringe ich dir deine Zimmergenossen. Koho Kel und Koho Jarden. Wie ich gehört habe, bist du vorerst für diesen Knirps verantwortlich, bis er die Grundlagen der Kampfkunst beherrscht. Und wenn er soweit ist, wird Meister Asak ihn in seinen Unterricht aufnehmen.“ Mit diesen Worten machte Taik auf dem Absatz kehrt. „Ach und...Koho, ich erwarte dich vor Sonnenaufgang zur täglichen Meditation auf dem Ahnenhügel!“, brummte er im Vorbeigehen dem älteren Neuankömmling zu.
„Ja, Sempo!“, antwortete dieser und deutete eine hastige Verneigung an. Die Tür schwang zu und Aris war allein mit den beiden Neuen, die sich gegenseitig so unbeholfen anschauten, als befänden sie sich in einem gefährlichen Labyrinth, dessen Ausgang es zu finden galt, wenn sie allerdings den falschen Weg einschlugen, konnte sie dieser womöglich ins Verderben führen.
Aris fand seinen Vergleich äußerst passend.
„Was steht ihr hier so dämlich herum?“, unterbrach Aris die andauernde Passivität der beiden. „Los, packt eure Sachen aus und beeilt euch ein bisschen. In einer halben Stunde ist Nachtruhe.“
Er wies auf eine Wand. „Dort im Wandschrank könnt ihr eure Sachen verstauen!“ Dann setzte er sich auf sein Bett, das, im Gegensatz zu den Pritschen der beiden, breiter und bequemer war. Der größere begann sofort seinen Reisebeutel zu entleeren, während der Kleine noch zögerte. Er war wirklich noch sehr jung, befand Aris, als er in dessen pfirsichglatten Gesicht vergeblich nach Spuren von Bartwuchs suchte. Er versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, doch er fiel ihm nicht ein.
„He du... hab deinen Namen vergessen. Mach ein bisschen schneller, gleich müssen wir die Lichter löschen!“, heischte er den Jungen an, der nervös an den Schnüren seines Bündels hantierte.
„...Kel..., mein Name ist Kel!“, antworte er kaum hörbar. Seine helle Stimme bestätigte Aris´ Verdacht. Der Bursche konnte nicht älter als dreizehn sein.
„Also, Kel. Was ist nun?“
Sofort griff Kel in den Beutel und förderte seine Habe zu Tage. Der andere, Jarden, an dessen Namen erinnerte er sich, hatte schon alles in den Schrank geräumt. Für hoch angesehene Sprosse aus Aracon hatten sie erstaunlich belanglose Dinge im Gepäck, dachte Aris gelangweilt, als sein Blick plötzlich auf allerlei Grünzeug stieß, das die beiden aus ihren Taschen räumten.
„Wolfsnessel? Euer Ernst?“, brachte Aris erstaunt hervor und bedachte die beiden mit einem spöttischen Lachen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Scheint ja hervorragend zu wirken“, gluckste er und konnte dabei dem Drang nicht widerstehen, seinen Worten eine großzügige Portion Ironie beizumischen.
„Stählerne Muskeln wachsen nicht von einem Tee“, sagte er in belehrendem Ton und nahm einen der rauen Krautstängel zwischen Daumen und Zeigefinger, wobei er prompt ein Brennen an den Fingerspitzen spürte, was er sich jedoch nicht anmerken ließ.