Kitabı oku: «GLOVICO», sayfa 4
Unterdessen
Unterdessen hatte die fest an ihren Kletterbaum geklammerte Amerikanerin nicht allzu lange Zeit, um sich zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ihr war klar, dass ihr Versteckspiel jetzt reichlich albern wirken musste. Sie fand es zugleich peinlich dabei ertappt zu werden, dass sie sich aus Angst auf einen Baum geflüchtet hatte. Die beiden Männer unter ihr machten indes keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen. Anstatt die Tasche aufzunehmen und ins Licht zu tragen, beschränkten sich die Männer darauf, die Frau herbei zu rufen.
Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Wenige Zentimeter über den drei Polen klammerte sich die Gesuchte krampfhaft im Geäst der Tanne fest und wagte kaum zu atmen. Die Frau unter ihr wiederholte mit einem Anflug von Panik in der Stimme direkt unter ihr ihre Ansage in gebrochenem Englisch.
„Viola, wenn Sie hier irgendwo sind, bitte kommen Sie zu mir. Ich habe eine Nachricht von Rosi für Sie. Sie müssen sich nicht fürchten. Wir sind Freunde.“ Die Frau auf dem Baum darüber konnte sich nicht mehr länger halten. Ohne den geringsten Laut von sich zu geben, rutschte sie ab, versuchte nachzufassen, griff nochmals nach, griff daneben und schwebte danach ganz, ganz langsam von ihrem Versteck herab, direkt vor die Füße der überraschten Bodybildertypen. Sie fiel der Länge nach hin, spürte plötzlich einen stechenden Schmerz im Kopf und verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, blickte Viola Ekström in die Augen genau der Frau, deren unerwartete Anwesenheit sie zuvor – „wie lange war das eigentlich her?“ -in Panik versetzt hatte. Ihr reflexartiger Versuch, sich aufzubäumen, wurde von der bekannten Unbekannten mit sanfter Gewalt blockiert.
„Beruhigen Sie sich,“ versuchte die fremde Stimme in der bereits vertrauten Tonlage auf die Liegende einzuwirken. „Ich bin Agnieszka,“ gab ihr die Polin zu verstehen und wies zugleich dem am Steuer sitzenden Goliath an: „Fahr los!“
Nach einem Moment der Orientierungslosigkeit realisierte die Angesprochene, dass sie sich in dem von ihr selbst gemieteten VW-Bus befand. Sie lag auf der umgeklappten Rücksitzbank mit den Füßen im Gepäckraum. Vor ihr am Kopfende saß die Polin. Der Wagen war in Bewegung. Einer der beiden Bullen saß am Steuer. Der Zweite fehlte.
„Sie sollen sich nicht beunruhigen.“ Es dauerte einen Moment, bis der Sinn der Worte bis zu ihrem Bewusstsein vorgedrungen war, aber zugleich registrierte die Bedienstete der NSA, dass sie offenkundig am Leben war. Allein diese Wahrnehmung ließ ihre Lebensgeister wieder erwachen.
„Wer sind Sie?“ waren die ersten Worte, zu denen sie sich überwinden konnte.
„Ich bin Agnieszka,“ wiederholte die Frau neben ihr. „Wir waren verabredet. Ich bin die Überraschung, von der Ihnen Rosi hoffentlich erzählt hat. Rosi hat angerufen. Sie hat versucht Sie per Handy zu erreichen. Sie sind nicht an den Apparat gegangen. Wir haben uns Sorgen gemacht.“
Viola begann den Sinn der Worte schrittweise zu erfassen. Sie fing von hinten an.
„Rosi hat angerufen?“ wiederholte sie die letzte Bemerkung und war unmittelbar darauf erneut in der Situation, von der Polin mit sanfter Gewalt daran gehindert werden zu müssen, sich ruckartig auf zu richten.
„Sie werden sich weh tun.“ Immerhin war Viola Ekström bereits so weit wieder hergestellt, dass sie realisierte, dass die Frau neben ihr einen fast mütterlichen Ton anschlug. In der Sekunde danach hatte sie sich wieder voll im Griff.
„Ok, lassen Sie mich aufstehen und erklären sie mir, was hier abgeht,“ raunzte sie die auf der Rücksitzbank des Transporters vor ihr Sitzende mit noch nicht gänzlich wiederhergestellter Stimme an. „Aber passen Sie auf, dass Sie sich nicht den Kopf stoßen beim Aufrichten,“ entgegnete die Polin.
Sodann erzählte sie der Amerikanerin davon, was sie mit Ruth am Telephon vereinbart hatte.
„Wir müssen unbedingt über die Grenze nach Schweden,“ erklärte Agnieszka Malik abschließend, „sonst sind wir geliefert.“
„Ich verstehe nicht, wieso Schweden, wieso Grenze? Schweden gehören doch zur EU,“ begehrte die Frau von der NSA auf.
„Es gibt trotzdem praktisch keine Grenzkontrollen nach da mehr, die Grenze schon,“ belehrte sie Agnieszka, „und auf der anderen Seite sitzen unsere Leute. Erst danach sind wir in Sicherheit.“ Anschließend erfuhr Viola Ekström ein weiteres Mal von dem „Trojaner“. Danach hatte sie das dringende Bedürfnis nach einer Toilette. Der VW-Bus musste zudem nachgetankt werden.
„Ich denke, es wird besser sein, wir setzen die Fahrt getrennt fort,“ hatte die Polin beim Halt entschieden. „Ich fahre mit Tomas voraus. Sie kommen in etwa einer Viertelstunde nach. Kristof wird zur Sicherheit mit Ihnen fahren. Wir treffen uns das nächste mal in Haugastöl,“ hatte Agnieszka der Amerikanerin klar gemacht, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Gleich, nachdem der Audi mit den beiden Polen abgefahren war, hatte sich Viola Ekström auf der Toilette frisch gemacht, anschließend noch schnell einen kleinen Imbiss eingenommen und ein kurzes Telephongespräch von der Telephonzelle aus geführt. Dann war sie mit ihrem polnischen Bodyguard am Steuer im VW-Bus ebenfalls wieder auf die Sieben eingebogen und nach Osten gefahren. Erst eine Viertelstunde später hatten sie den PKW wieder vor sich. Bereits aus der Ferne war das Auto nicht zu übersehen; denn er brannte lichterloh.
Ich bin mir nicht sicher
„Ich bin mir nicht sicher, ob das vernünftig ist, wenn wir so weit voraus fahren,“ hatte der Fahrer des dunkelblauen Audi A6 gerade zu bedenken gegeben, ohne von seiner Vorgesetzten eine Antwort zu erhalten. Nach dem Gespräch mit Viola Ekström hatte Agnieszka Malik das unbestimmte Gefühl, dass es nicht die ganze Wahrheit gewesen sein könnte, als die Amerikanerin in dem vorangegangenen Gespräch den Eindruck erweckt hatte, mit dem ‚Trojaner’ bisher noch nichts zu tun gehabt zu haben.
„Ich fürchte, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die bereit sind über die sprichwörtlichen Leichen zu gehen,“ hatte sie der Amerikanerin eindringlich zu verstehen gegeben und sie danach ganz direkt gefragt: „Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?“
Die Frage war ihr einfach so herausgerutscht und sie hätte sich aufgrund der Unprofessionalität der Fragestellung selbst ohrfeigen mögen.
„Wie meinen Sie das?“ Viola Ekström hatte jedoch scheinbar unbeeindruckt zurück gefragt und dazu gelacht, als ob die Polin einen Scherz gemacht hätte. Agnieszka hatte sich hierdurch nicht beirren lassen, und mit Bestimmtheit gesagt: „Sie werden das alles verstehen, wenn wir auf der anderen Seite der Grenze sind.“ Um ihre neue Bekannte nicht zu beunruhigen hatte sie noch hinzugefügt: „Dort wartet auch Rosi.“ Das war gelogen. „Bis dahin haben Sie Geduld. Wir können von hier jetzt nicht telephonieren. Nach dem, was Rosi erzählt hat schon gar nicht.“ Das stimmte. Die Polin war bei diesen Worten richtig energisch geworden.
„Sie erinnern mich irgendwie an Rose. Behalten Sie um Gottes Willen die Nerven,“ hatte die Amerikanerin mit leicht ironischem Unterton noch festgestellt, bevor sie sich getrennt hatten. Die polnische Polizistin wurde aus ihren Gedanken gerissen. Der Wagen hatte abrupt abgebremst und angehalten.
„Eine Polizeikontrolle,“ stellte ihr Fahrer knapp fest. Kurz nach der norwegischen Ortschaft Maurset führten die Beamten vermutlich eine Routinekontrolle durch. Der Audi mit dem polnischen Kennzeichen hatte so kurz vor der schwedischen Grenze wohl ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als die Insassen des Fahrzeuges sich mit ihren Pässen auswiesen, war ihr Schicksal besiegelt.
Der kontrollierende Beamte wandte sich um, trat einen Schritt zu Seite und stürzte mit einem Hechtsprung in den Straßengraben.
Der Pole auf dem Fahrersitz kam nicht mehr dazu, das Fahrzeug zu verlassen.
Die Detonation der Handgranate, die der hinter dem Seitenfenster des allradgetriebenen Fahrzeugs stehende Polizist in den Wagen geworfen hatte, ließ das Auto erbeben und zerfetzte den Mann.
Die Wucht der Explosion drückte die Heckscheibe des Wagens auf und die auf der Rückbank sitzende Polin wurde halb aus dem Fahrzeug geschleudert. Agnieszka Malik hatte die Granante ins Auto fliegen sehen und den verbleibenden Sekundenbruchteil bis zur Explosion genutzt, um geistesgegenwärtig die neben ihr liegende Reisetasche der Amerikanerin schützend vor sich zu reißen.
Ihr Leben war dadurch nur wenige Augenblicke länger erhalten geblieben. Einer der drei Polizisten war nach dem Abklingen der Explosion von hinten an das Fahrzeug herangetreten und hatte das Stöhnen der halbschräg über die Rücklehne gedrückte Frau beendet, indem er ihr Dreimal in den Kopf schoss. Einmal hätte auch gereicht, aber der Schütze wollte wohl auf Nummer sicher gehen. Anschließend setzten die Täter das Auto in Brand und verließen dann eilig den Tatort. Von hinten näherte sich ein anderes Auto mit hoher Geschwindigkeit. Die Attentäter hatten ganze Arbeit geleistet. Aber ihr Auftrag war noch nicht beendet.
Trotz der kurvigen, engen Straße hatte der Fahrer des nachfolgenden VW-Busses nur wenige Minuten gebraucht bis er den brennenden Audi erreichte.
Im Scheinwerferlicht konnten er und seine Baifahrerin eine Person erkennen, die ihnen wild gestikulierend entgegen gerannt kam und versuchte, den Wagen zum Halten zu veranlassen. Es hätte dieser Mühe nicht bedurft.
Der Fahrer des Wagens bremste scharf ab, sprang aus dem Fahrzeug und rannte, ohne die Frau zu beachten zu dem brennenden PKW. Doch auch er musste schnell erkennen, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Zwar gelang es ihm noch, zunächst seinen Kameraden vom Fahrersitz des brennenden Autos zu ziehen und danach sogar noch die am Boden vor dem Rücksitz zusammengekrümmte Frau an den Füßen zu packen und herauszuzerren, doch damit erreichte er lediglich, dass beide nicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannten.
Auch Viola Ekström war aus dem Bus gesprungen. „Was ist passiert?“, fragte sie gehetzt die Frau, die Ihnen winkend entgegengekommen war auf Schwedisch. Die Angesprochene stand unter Schock. Den hastig und brockenweise vorgebrachten Erklärungen entnahm die Amerikanerin nur so viel, dass die Winkende erst am Ort des Geschehens eingetroffen war, als das Auto schon brannte. Kurz zuvor war ihr ein ausländischer Wagen entgegengekommen. In dem Privatwagen hatten seltsamerweise Polizisten in Uniform gesessen. Selbst diesen Angaben vermochte der Leibwächter schon aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse nicht zu folgen. Erschöpft hatten sich beide nach der Bergung der zwei Toten zunächst auf die Böschung am Straßenrand fallen lassen.
Die Norwegerin hatte über Handy die Polizei verständigt. Bis zu deren Eintreffen war mehr als eine halbe Stunde vergangen. Dies hatte den beiden Überlebenden die Gelegenheit gegeben, sich über die weitere Vorgehensweise trotz der sprachlichen Hindernisse grob zu verständigen.
Viola Ekström fröstelte. Sie zwang sich dazu, ihre Gedanken zu ordnen.
Während die lodernden Flammen der Amerikanerin die gespenstische Szene ins Gedächtnis brannten, rückten kurz nach einander die Feuerwehr, der Notarzt, die Polizei und zwei Krankenwagen an. Für einen Augenblick hatte Viola Ekström daran gedacht, die frischgebackene Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft in Moskau, Tatjana Wolkowa alias Ruth Waldner per Handy anzurufen, diesen Gedanken dann aber doch schnell wieder verworfen. Sie konnte nicht ahnen, damit die für lange Zeit letzte Gelegenheit verpasst zu haben, um mit ihrer Freundin in Kontakt zu treten.
Aufgrund der Verbrennungen, die er sich bei der Bergung der Leichen aus dem brennenden Fahrzeug zugezogen hatte, wurde der Pole zur Notaufnahme der Krankenstation in Eidfjord gebracht und dort behandelt. Trotz ihrer Benommenheit bestand Viola darauf, den VW-Bus selbst dorthin zurückzufahren. Anschließend nahm sie sich ein Zimmer im Motel. Da die Verletzungen des Polen sich als nur geringfügig erwiesen, konnte er bereits am nächsten Morgen aus der Krankenstation wieder entlassen werden. Bei der anschließenden Befragung durch die norwegische Polizei konnten weder er noch Viola zum Tathergang sachdienliche Hinweise geben. Übereinstimmend haben beide wahrheitsgemäß ausgesagt, dass der Pole die Amerikanerin erst an dem Ferienhaus kennen gelernt hat. Spontan hätten sie sich trotz der späten Stunde am Vorabend noch zu einem kleinen Ausflug in die Umgebung entschlossen. Um im Fall einer Panne nicht hilflos in der Landschaft zu stehen, hatten sie sich entschlossen, mit beiden Wagen zu fahren. Da Viola wegen der schlechten Straßenverhältnisse nicht selbst habe fahren wollen, waren die beiden Getöteten mit dem Audi unterwegs gewesen. Da die Tankanzeige des VW-Busses unterwegs aufgeblinkt habe, hatte dessen Fahrer sich entschlossen, den Treibstoff aus dem mitgeführten Reservekanister nachzufüllen. Dies entsprach im Kern der Wahrheit. Dadurch hatten sich beide Fahrzeuge für einige Minuten aus den Augen verloren. Auch das entsprach der Wahrheit. Als sie den A6 schließlich wieder eingeholt hatten, brannte dieser bereits lichterloh. Zu dem, was zwischenzeitlich geschehen war, konnten sie keine Angaben machen. Das entsprach aber nur zum Teil der Wahrheit.
Der brutale Mord
Der brutale Mord an der polnischen Sonderermittlerin im Dezernat Organisierte Kriminalität von Lublin löste in den kommenden Tagen und Wochen in ihrem Heimatland hektische Betriebsamkeit aus. Die Hinrichtung im fernen Norwegen an sich war bereits ein ungeheuerlicher Affront, der nur als Signal verstanden werden konnte: „Überlegt euch gut, wie weit ihr geht,“ lautete die unmissverständliche Botschaft der Täter, „wir finden euch überall und wir zögern nicht, diejenigen aus dem Weg zu räumen, die uns in die Quere kommen.“
Die besonderen Umstände des Attentats hatten anscheinend diesen Eindruck noch verstärken sollen. Die Ausführung der Tat war als offenkundiger Mord erfolgt. Dadurch sollte wohl verhindert werden, dass auch nur der geringste Zweifel aufkam. Das konnte nur als Provokation verstanden werden. Üblicherweise pflegten diese Kreise es vorzuziehen, ihre Anschläge so zu organisieren, dass die Tat wie ein Unfall aussehen konnte. Jedes Mal, wenn die Täter keinerlei Mühe darauf verwendeten, den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern, war das eine Warnung an die Überlebenden: „Seht her, so wird es euch auch ergehen, wenn ihr nicht spurt.“ Dieser Vorgehensweise waren in den vergangenen Jahren wiederholt leitende Banker und Journalisten aber auch scheinbar kleine Fische zum Opfer gefallen. Nur hatte sich das eben in Moskau, Minsk, Kiew oder St. Petersburg abgespielt. Praktisch in keinem einzigen Fall war es gelungen der Täter, geschweige denn ihrer Auftraggeber habhaft zu werden. Der Glaubwürdigkeit der Drohung auf die potentiell Betroffenen hatte das verständlicherweise keinen Abbruch getan. Die Botschaft war klar: „Die Macht kann euch nicht schützen und uns nicht zur Rechenschaft ziehen.“ Verbrechen dieser Art richteten sich immer an das Umfeld der Ermordeten. In diesem Fall war das auch so und auch genauso verstanden worden. Nur, dass sich die Täter nicht einen beliebigen neuen Russen als Demonstrationsobjekt ausgesucht hatten, sondern eben eine polnische Polizistin. Das verlieh der Angelegenheit eine besondere Qualität und das „Umfeld“ der Getöteten war sich dessen nur zu gut bewusst.
Selbst an der Spitze der Behörde, im polnischen Innenministerium hatte man zugleich auch recht gut die Zwickmühle verstanden, in die der gesamte Apparat durch diese Tat gebracht worden war. Natürlich musste man reagieren und war dabei zum Erfolg verurteilt. Wenn es nicht gelänge, Täter und Hintermänner ausfindig zu machen, dann würde die Saat der Angst auch hier aufgehen. Wer immer es wagen würde, sich denen in den Weg zu stellen, würde das Risiko kennen. Und darin bestand zudem das Dilemma: Jeder, der es versuchen würde, sich dieser netten kleinen Herausforderung zu stellen, der musste damit rechnen, sich der Früchte seiner Ermittlungsarbeit nicht mehr so recht erfreuen zu können. Übereifrige Ermittler waren ohnehin selten, denn in solchen Fällen reichte dann in der Regel eine einfache kleine anonyme Mitteilung auf der die Anschrift des Unbequemen, gegebenenfalls noch die Arbeitsstelle seiner Frau, die Anschriften der Schulen der Kinder und so weiter kommentarlos aufgelistet waren, um die jeweiligen Sachbearbeiter dazu zu veranlassen, ihrem Ermessensspielraum freien Raum zu lassen und die Ermittlungen in eine Richtung zu lenken, die den Ermittler selbst aus der Gefahrenzone herausbrachte. So etwas fiel in der Regel niemandem auf. Für die Versender der Grußbotschaften hatte das Einknicken der Betroffenen zudem die Rückmeldungsfunktion: „Schaut her, ich habe Angst. Verlangt in Zukunft von mir, was ihr wollt. Ich werde mich fügen.“
Dass eine solche Grundhaltung der Ergreifung der Täter nicht gerade dienlich war, verstand sich von selbst.
Dass die Aufklärungsquote in solchen Fällen gegen null tendierte, verstärkte wieder die Glaubwürdigkeit der Drohungen.
Die Auftraggeber lebten so in der beruhigenden Sicherheit grenzenloser Macht. Wenn es gleichwohl doch einmal einen Unbelehrbaren geben sollte, der meinte sich querstellen zu müssen, so wurde zunächst einmal dafür gesorgt, dass dessen Aufsässigkeit eine Zeitlang ungeahndet blieb. So konnte sich herumsprechen, dass hier jemand am Werk war, der sich traute, den Kriminellen ins Handwerk zu pfuschen. Erst danach wurde dann das Exempel statuiert, mit der Folge, dass der Einschüchterungseffekt nur umso nachhaltiger wirkte. Aber solche Unbelehrbaren waren selten. Ganz besonders selten bei Polizisten. Wenn überhaupt, so fanden sich solche Unbelehrbaren noch am häufigsten unter den Journalisten.
Agnieszka Malik hatte das möglicherweise nicht wahrhaben wollen. Das war Russland. Im Westen - und als Polin fühlte sie sich dem Westen zugehörig, auch wenn viele im Westen, insbesondere ihre unmittelbaren westlichen Nachbarn, das anders zu sehen beliebten - im Westen hatte sich dieses System bisher nicht durchgesetzt. Jedenfalls wenn man den Medien glauben schenken wollte. Obwohl – ja obwohl – der Begriff für diese Art von Kriminalität – Mafia – ja eigentlich nicht wirklich ein Wort der russischen Sprache war. Insofern war dieser Fall auch als eine Art Probelauf zu verstehen, der demonstrieren sollte: „Seht her, das klappt nicht nur bei uns, das klappt genauso gut auch bei euch.“ Insofern war den Verantwortlichen klar, dass gehandelt werden musste und das sehr energisch. Dass es aufgrund der Tatumstände nach menschlichem Ermessen tatsächlich unmöglich sein würde, der Täter habhaft zu werden, machte das Dilemma nicht wirklich kleiner.
Da waren berufsmäßige Killer am Werk gewesen, die ihre Aufträge so ausführten, wie es von ihnen verlangt wurde. Diese Leute verhielten sich professionell, machten ihren Job, hinterließen üblicherweise keine verwertbaren Spuren, tauchten dann wieder in der Versenkung ab. Zwischen ihnen und den Tätern gab es keinerlei Berührungspunkte. Die übliche Methode der Polizei, dem Täter über sein mögliches Motiv auf die Schliche zu kommen, versagte hier ebenso, wie die Täterermittlung über Spuren, die zurückgelassen wurden.
Im vorliegenden Fall beschränkten sich die Hinweise auf die drei Geschosse, die durch den Kopf der Getöteten in deren Körper eingedrungen waren. Dass es jemals gelingen würde, die dazu gehörige Waffe zu finden, erschien auch den optimistischsten Ermittlern in Anbetracht der Weitläufigkeit der norwegisch-schwedischen Seenlandschaft äußert unwahrscheinlich.
Auch ohne den Einschüchterungseffekt waren so konstruierte Straftaten bereits schwer genug aufzuklären. In diesem Fall, wo die Tat im Ausland begangen worden war, dürften die Wetten darauf abgeschlossen werden, dass das Kamel wohl eher durch das Nadelöhr schlüpfen werde. Es wäre daher unter dem Strich klüger gewesen, wenn man so hätte tun können, als ob es sich eben nicht um ein Verbrechen handelte, sondern zum Beispiel um den sprichwörtlichen, bedauerlichen kleinen Unfall. Aber diesen Ausweg hatten die Täter im Fall von Agnieszka Malik und ihren Begleitern Tomas und Kristof gezielt verbaut, indem sie dafür sorgten, dass auch nicht der geringste Zweifel am Tathergang aufkommen konnte. Nur so bekam der Fall die gewünschte Öffentlichkeit. Nur so konnten die Auftraggeber sicher sein, dass ihre Entschlossenheit und Fähigkeit zur Durchführung jedweder Aktion über jeden Zweifel erhaben war. Die Provokation war unübersehbar und zugleich auch die mit ihr ausgesprochene Herausforderung. Das konnte und durfte natürlich nicht ungeahndet bleiben, auch oder gerade weil nicht klar war, warum die Auftraggeber es in diesem Fall für nützlich erachtet hatten, den Sicherheitsbehörden den Fehdehandschuh mit solcher Energie vor die Füße zu werfen.
Der Polizeioffizier, der mit der Bearbeitung des Falles offiziell betraut wurde, beneidete sich folglich nicht um diesen Job. Er hatte sich nicht danach gedrängt. Aber auch sonst hatte sich niemand gedrängt und so war dann die Wahl auf ihn gefallen. Seinen Vorgesetzten war die Wahl nicht schwer gefallen. Unter den in Frage kommenden Leitern war er der einzige Ledige gewesen. Er war nicht auf den Kopf gefallen und hatte das Auswahlkriterium unschwer durchschaut.
„Das bedeutet zwar nicht unbedingt eine Anerkennung deiner besonderen Fähigkeiten und ist damit auch nicht einmal ansatzweise schmeichelhaft, dafür aber rational richtig, denn damit reduzierten sich in seinem Fall die Möglichkeiten zur Einschüchterung.“
Der frisch gebackene Leiter der Sonderkommission hatte keine Mühe dies anzuerkennen. Bei der Auswahl der Mitglieder seiner Einheit ließ er ähnliche Gesichtspunkte gelten. Dies hatte zur Folge, dass der Sonderermittlungsgruppe schließlich zumindest keine Person angehörte, die über eigene kleine Kinder erpressbar war.
„Wir können das nicht auf uns sitzen lassen,“ hatte der Hauptmann seinen Kollegen der Sonderkommission zur Begrüßung gleich beim ersten Treffen klar gemacht, „sonst machen die endgültig, was sie wollen.“
Darüber, dass die Chancen der Ermittler diesen Fall aufzuklären, nicht besonders rosig waren, machte er sich gleichwohl keinerlei Illusionen. Von seinen Kollegen nahm er an, dass sie die Angelegenheit mit ähnlichen Augen betrachteten. Laut sagen würde das natürlich niemand. Tomeck Miller entschied sich daher dafür zweigleisig zu fahren. Einerseits würde es darauf ankommen herauszufinden, wo sich seine Kollegin vor ihrem Tod aufgehalten hatte und andererseits galt es zu klären, welche Ermittlungen als so brisant eingestuft wurden, dass man es für nötig hielt, sie öffentlich hinzurichten. „Weshalb und woran“, so fragte er sich, „hatte Agnieszka Malik so verdeckt ermittelt, dass sich darüber keinerlei Hinweise in den Akten finden ließen?“
Auch in Norwegen sorgte der ganze Fall in der sonst so ruhigen Gegend für erhebliches Aufsehen. Ein kaltblütiger Mord, begangen von Menschen in Polizeiuniform an einer Polizeibeamtin aus Polen und ihrem Fahrer, so etwas passierte schließlich nicht alle Tage. Aber weder die bereits gleich in der Nacht eingeleitete Großfahndung hatte zu greifbaren Ergebnissen geführt, noch hatten die Ermittlungen der zur Lösung dieses Falles gebildeten Sonderkommission der Kriminalpolizei Erkenntnisse zu Tage gefördert, die eine Identifizierung der Täter erlaubt hätte. Es blieb bei der Anfangsvermutung, dass diese wohl im Dunstkreis der osteuropäischen organisierten Kriminalität zu suchen seien. Sowohl deren Ein- wie auch die Ausreise, so wurde vermutet, war über die schwedische Grenze erfolgt. Von dort aus konnten die Täter über Finnland weiter in ihr Heimatland gereist sein. Seit der EU-Mitgliedschaft Polens und der baltischen Staaten zum 1. Mai 2004 waren die Grenzkontrollen Schwedens und Finnlands gegenüber den Bewohnern der neuen Mitglieder von einem Tag auf den anderen spürbar gelockert worden. Die Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden der Nachbarländer hatte sich keineswegs mit vergleichbarer Geschwindigkeit entwickelt. Die unendlich lange Grenze zwischen Norwegen und Schweden war auch in der Vergangenheit nie wirklich auch nur annähernd wirksam zu kontrollieren gewesen. Dafür gab es bis dahin allerdings auch keinen Anlass. Die Ermittlungen stießen demzufolge schnell an ihre Grenzen und beschränkten sich bereits nach wenigen Wochen auf die Sammlung von sachdienlichen Hinweisen. Die gesamte Angelegenheit wäre damit vermutlich recht bald zu den Akten gelegt worden. Dass der Vorgang wenig später eine gänzlich unerwartete Wendung nehmen sollte, lag an Hartmut von Dormann. Der Kriminalreporter mochte sich nicht dazu entschließen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er hatte hierfür sehr persönliche Gründe.
Die traurige Nachricht von der Ermordung seiner polnischen Vertrauten erhielt der britische Experte für Datensicherheit Jonathan Bird am späten Abend des Tages, an dem seine Frau und er wieder in England angekommen waren. Als die Hunde vor dem Haus in der Nähe des dänischen Dörfchens Lönstrup angeschlagen hatten, war das Gespräch zwischen den Beteiligten auf einen Schlag verstummt. Alle Anwesenden hatten sich fragende Blicke zugeworfen. Als das Gebell nicht aufhörte, hatten der Franzose und Günther Rogge mit ihren Nachtsichtgeräten das Gebäude verlassen und sich einen Überblick darüber verschafft, was sich in der Umgebung abspielte. Dank der Restlichtverstärker war es nicht schwierig gewesen, mehrere Gestalten ausfindig zu machen, die damit beschäftigt waren, um einige der Häuser herumzuschleichen, die sich etwa drei- bis vierhundert Meter links von dem Haus befanden, in dem sich die kleine Gruppe aufhielt. Als die beiden Beobachter feststellen mussten, das sich die Unbekannten auf den Weg zu ihnen machten, war Rogge ohne zu zögern in das Haus zurückgekehrt und hatte den dort Wartenden zu verstehen gegeben, dass es wohl besser sei, die Begegnung abzubrechen. Während Mrs. Bird die Hunde beruhigte, hatten die übrigen Teilnehmer mit wenigen Handgriffen ihre Siebensachen zusammen gepackt.
Gemeinsam waren gleich darauf alle über die Düne hinab zum Strand geeilt. Mr. Bird und der Franzose hatten die Außenborder der Schlauchboote angeworfen, während Mrs. Bird, Agnieszka und Rogge das wenige Gepäck in den jeweiligen Autos verstauten. Erst nachdem das Knattern der Boote die Motoren der Autos übertönte, wurden diese angelassen. Während die Boote auf den Wellen allein auf das Meer hinaus hüpften, hatten Marcel und Mr. Bird auf den Beifahrersitzen der bereit stehenden PKW Platz genommen.
Ohne die Fahrzeugbeleuchtung einzuschalten hatten alle vier Wagen sodann nacheinander den breiten Strand bis zur Einfahrt nach Nörlev Strand genommen und waren dort nach rechts auf die Zufahrtsstraße eingebogen.
Beim ‚Strandköpmanden’ hatte der vorderste Wagen das Fahrtlicht eingeschaltet. Nacheinander waren die Fahrzeuge die kleine Anhöhe hinaufgefahren, die den Strandbereich vom Hinterland trennt. Wenig später waren sie nach links in Richtung Hjörring abgebogen. Bei Vidstrup hatten sich die Fahrzeuge getrennt.
Die Polin nahm mit ihren Begleitern die Straße nach Hirtshals. Von dort aus bestieg sie am nächsten Morgen die Fähre nach Kristianssand und fuhr anschließend auf der E39 über Stavanger und Bergen in Richtung Eidsfjord, wo sie am Abend des folgenden Tages kurz nach Viola Ekström eintraf. In Bergen hatte sie zuvor eine Pause eingelegt und sich ausgiebig die alten Gebäude des früheren Hansekontors angesehen. Wenn es der Zufall so gewollt hätte, hätte sie hier bereits auf Viola treffen können. Aber solche Zufälle gibt es nicht.
Günther Rogge war ihnen noch bis Sonderby gefolgt und dann auf der gut ausgebauten Landstraße in Richtung der E 39 gefahren, in diese eingebogen und auf ihr in der entgegengesetzten Richtung über Alborg, Ahus und Kolding noch in der Nacht zurück nach Deutschland gefahren. Der Franzose sowie Mr. und Mrs. Bird hatten in Hjörring übernachtet, waren am nächsten Tag noch gemeinsam nach Frederikshavn gefahren und hatten sich dann ebenfalls getrennt. Mr. und Mrs. Bird waren anschließend mit der Fähre zurück nach Göteborg in Schweden gefahren, hatten dort den Leihwagen am Flugplatz zurückgegeben und waren am nächsten Morgen um 06.45 Uhr heim nach England geflogen. Nach seiner Rückkehr vom Treffen in Dänemark hatte sich das Ehepaar Bird früher als sonst üblich zu Bett begeben. Den späten Anruf hatte zunächst seine Frau entgegengenommen.
„Lublin ist am Apparat,“ hatte sie leichenblass gesagt, als sie ihm das Telephon reichte. Mr. Bird war sofort wieder hellwach gewesen. Am anderen Ende der Leitung saß Agnieszkas Mann. Er war in den Mittagsstunden von zwei Angehörigen der Kripo Lublin aufgesucht worden. Diese hatten ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau schonend versucht beizubringen. Es hatte einen ganzen Moment gedauert, bevor er den Inhalt der Nachricht vom Tod seiner Frau völlig realisiert hatte. Unter dem Druck der Mitteilung war er danach kurzfristig zusammengebrochen.
„Das ist nicht wahr,“ war es zunächst aus ihm herausgebrochen. Die mitleidsvollen Blicke der Kollegen seiner Frau hatten ihn vom Gegenteil überzeugt. „Wie konnte das geschehen?,“ hatte er mit sich überschlagender Stimme nachgefragt.
„Wir wissen es wirklich nicht,“ hatten die Beamten geantwortet und das war keine Höflichkeitslüge gewesen.
Sein Anruf in England war im Grunde nicht viel mehr, als ein Ausdruck seiner eigenen Hilflosigkeit. Agnieszka hatte ihm gesagt, dass sie wieder für ungefähr vierzehn Tage nach Skandinavien reisen wollte. In Dänemark war ein kurzes Treffen mit ihrem gemeinsamen Bekannten aus England geplant. Danach wollte sie wie in den vergangenen Jahren für einige Tage in das Haus am Eidfjorden in Norwegen fahren, in dem es ihr immer so gut gefallen hatte. Anschließend würde sie sich vielleicht noch mit Radek und seiner Frau in Schweden treffen, die dort ihren diesjährigen Sommerurlaub verbrachten. Seit dem Beitritt Polens zur EU waren derartige Reisen ja erfreulicherweise nochmals ein gutes Stück leichter geworden als früher. „Wenigstens das ist ein Vorteil,“ hatte seine Frau noch gescherzt. Aufgrund ihrer exponierten Stellung im Lubliner Polizeidienst und angesichts der Vorfälle vom Mai, hatte sie sich entschieden, die gesamte Reise in Begleitung von zwei Männern vom Personenschutz anzutreten.