Kitabı oku: «In die Transitzone», sayfa 2
Das Gebäude schien verlassen, wo waren die Kollegen? Wo waren überhaupt Menschen in dieser Stadt? Die ja im Grunde keine echte Stadt mehr war, sondern genau genommen nur noch ein Grenzstreifen, jedenfalls auf den Landkarten. Lebte niemand mehr hier? In der Presse waren so viele Gerüchte über diesen Ort verbreitet worden, es konnten doch nicht alle Zeitungsartikel so stark übertrieben oder gelogen haben, als sie berichteten, dass es hier zuging wie nirgendwo sonst.
Er ging über einen kleinen Holzsteg, um ins Gebäude zu treten, aber die Tür war verrammelt, deswegen warf er seinen Rucksack in eines der daneben angelegten Boote, stieg danach selbst hinein und wollte sich kurz ausruhen.
Man würde ihn schon nicht verhaften deswegen.
Sofort verhedderte er sich beim Hinlegen in einem Fischernetz, das zum Trocknen ausgelegt war, er spürte die Knoten und kleinen Gewichte in den Schnüren – oder waren es Schwimmer, eingenähte Korkstücke?, jedenfalls zwickten und piksten sie ihn, bohrten sich in seinen Rücken und, als er sich umdrehte, in seinen Bauch. Das Stechen und Scheuern an seinen Wangen, als er den Kopf tiefer in das Netz vergrub, um sein Gesicht vor der Sonne zu verstecken, das Kratzen auf der Haut, der leichte Geruch von Salz und Moder, auch das Morgenlicht, das ihn weiter blendete, obwohl er die Augen geschlossen hatte, das war ihm nun alles schon gleich.
WASSERRINGE
Die Haut des Mannes, der sich über ihn beugte, glänzte in der Sonne. Einige hellere kleine Flecke bildeten Muster auf den dunklen Wangen, vielleicht Narben aus der Kindheit. Nur seine Stirn war frei von Farbschattierungen oder Unreinheiten. Der Gesichtsausdruck war misstrauisch.
»Ich bitte …«, murmelte Daniel auf die Frage, was er da mache, »… bitte Sie sehr, ich will weiterschlafen, ich bitte Sie.«
»Was machst du hier?«, fragte der Mann erneut, und: »Wer bist du?« Der Schatten, den er über Daniel warf, schien riesig, jetzt rüttelte er ihn sogar an den Schultern, und Daniel gab ein flehendes Geräusch von sich. »Please …«, murmelte er, »… please …«, und wiederholte in mehreren Sprachen das Wort »Schlaf!«
Als der andere endlich verstand, dass es sich bei dem Eindringling um einen Ausländer handelte, legte er den Kopf schief, skeptisch, nicht mehr böse, sein Blick wurde weicher. Er blieb aber weiterhin so nah vor ihm stehen, als wolle er ihn nicht aus den Augen lassen. Zwei andere Kerle hüpften ins Boot, sie versuchten, Daniel hochzuziehen und vom Boot zu drängen, aber er wehrte sich, redete auf sie ein, langsam kam er zu sich.
Man wusste nicht Bescheid, sein Kontakt hatte offensichtlich niemanden vorab informiert, keiner wusste von etwas; auch nicht, als er seinen Namen sagte und erklärte, dass er eigentlich schon vor mehreren Tagen hätte eintreffen sollen, dass sich aber seine Abreise ständig verzögert hatte. Er richtete Bestellungen, Grüße, Nachrichten aus und betonte, dass es um Informationsaustausch ging, vielleicht sogar um eine künftige Zusammenarbeit, nannte noch einige Namen, aber das sagte denen alles nichts. Nach dem fruchtlosen Wortwechsel sprangen die zwei wieder an Land.
Der Mann, der ihn geweckt hatte und während des Gesprächs stumm daneben gestanden war, fragte nur: »Dann willst du also mit? Um es dir anzuschauen?«, und ging dann ans andere Ende des Bootes. Daniel lag nun wieder in der prallen Sonne und legte sich, halb aufgerichtet, schützend den Arm über den Kopf. Der Tag trug keine Spur des frühen Morgens mehr, es war bereits sehr heiß. Das Motorengeräusch ließ ihn zusammenzucken, er richtete sich noch weiter auf, rieb sich ein paar schmerzende Körperstellen, jetzt war es aber zu spät, um noch vom Boot zu springen.
Der Mann bediente beiläufig einige Knöpfe, Hebel und Schalter, zog an ihnen, verschob sie, stellte sie anders ein. Das Boot bewegte sich an anderen vorbei. Daniel wartete ab, ob ihm übel würde, und betrachtete seine in Seile und Netze verhedderten Beine. Es dauerte noch, bis er sich wirklich sicher fühlte, dann stellte er sich aufrecht hin, das ging ganz gut, er löste einige Schnüre, die sich in seinem Pullover verfangen hatten.
»Der Rucksack!«, das fiel ihm jetzt auf. »Der Rucksack ist weg!«
Es dauerte nur eine Sekunde, bis er verstand, dass er, während er geschlafen hatte, bestohlen worden war, und in dieser Sekunde erfasste ihn unvermittelt ein kalter Schauder. Zunächst dachte er an die schmutzige Wäsche, dann an sein Handy, gleich darauf fielen ihm die Geldbörse und dann der Pass ein, er griff sich an beide Hosentaschen – zum Glück hatte er die eingeschoben, alles da, alles gut! –, sein Notizheft allerdings, dachte er, war futsch, und auch die Infobroschüren, die man ihm beim Briefing letzte Woche überreicht hatte. Das war ihm aber egal, kein Gefühl des Bedauerns kam nach diesem Schreckmoment in ihm auf. Wenn er jetzt an das Telefon, das Heft und die Mappe dachte, war er sogar erleichtert und spürte, dass die Gänsehaut auf seinen Unterarmen bereits vergangen war.
Weil ihm nach dem kurzen Schock, die Hitze umso mehr zu schaffen machte, zog er seinen Pullover aus und warf ihn aufs Fischernetz. Das Baumwollhemd darunter hing zerknittert und schmutzig an seinem Oberkörper, er stopfte es in die Jeans und krempelte die Ärmel hoch. An seinen Ellbogen war die Haut an manchen Stellen wieder frisch aufgerissen, an anderen noch blutverkrustet.
Das Geräusch des Motors hatte ein paar Möwen aufgeschreckt, die laut und rhythmisch loskreischten, als riefen sie sich gegenseitig Warnungen zu. Die ganze Zeit über beobachtete ihn der Kapitän, und irgendwann stellten sie sich einander mit Namen, Lächeln und Händedruck vor. »Bakary«, wiederholte der andere mehrmals, nachdem er über Daniels Akzent gelacht hatte, und Daniel ahmte ihn nach, bis er mit der Aussprache zufrieden war. Er erzählte ein paar Witze, lachte und redete, sie wechselten öfters von der Landessprache ins Englische, es ging fast freundschaftlich zu. Das Boot tuckerte aus dem Hafen, an den kleinen Ausflugsbooten, an den Festungsmauern und an der Mole vorbei, weiter hinaus, immer mehr steigerte Bakary jetzt die Geschwindigkeit.
So also sah die Stadt vom offenen Meer her aus.
Daniel entdeckte in der Ferne die Küstenstraße, später die kleine Bucht mit der Bar, in der er gestern Abend getrunken hatte. Die Häuser waren winzige Farbpunkte, ocker, rosa, weiß, hinter dem Blau, das zwischen ihm und der Küste lag. Sie waren nicht größer als die über ihnen Kreise ziehenden Möwen. Er hielt sein Gesicht in den Wind und versuchte breitbeinig sein Gleichgewicht zu halten, wenn das Motorboot schwankte.
Bakary deutete übers Meer hin zur Stadt, kommentierte die Küstenabschnitte, plapperte: Der Strand dort, »einer der schönsten, glaub mir!«, da könne man hingehen und nichts tun als herumliegen, ins Wasser gehen, wieder in der Sonne liegen oder im Schatten unter den kleinen Sonnenschirmen. »Früher jedenfalls!«, oder drüben, noch weiter abseits, »genau dort!«, er deutete auf einen Teil der Stadt, der vom Meer aus wie ein Farbstreifen am Ufer wirkte, nein, »noch weiter links!«, das sei der Industriehafen, der vom Wasser aus nur klein zu sehen war, obwohl er eigentlich riesig sei.
Als sie sich nach längerem Schweigen wieder etwas dem Ufer näherten, lösten sich die Schatten, die Daniel aus der Entfernung für Spiegelungen von Wolken gehalten hatte, in ein Dutzend kleinerer und größerer Boote auf. Im Hintergrund war ein weiterer Stadtstrand zu erkennen, mit Bars, Duschen und Toiletten, die Farben von der Sonne aufgehellt. Mehrere der Boote gehörten wohl, ihren Farben und Aufschriften nach zu urteilen, zur Küstenwache, andere schienen Ausflugsboote oder private Kähne zu sein. Zwei Gummiboote wurden mitgezogen. Beim Näherkommen konnte er an Deck Menschen ausmachen, die sie zu erwarten schienen. Nicken, Winken, scherzhaftes Salutieren, man sprang zu ihnen ins Boot herüber, man beredete etwas mit Bakary, man wusste ebenfalls nichts von alten oder neuen Vereinbarungen.
Angeblich war Daniels Kontakt schon seit Wochen nicht mehr in der Stadt.
Rufe flogen hin und her, Anleitungen und Befehle, die Boote wurden in Formation gebracht, das Netz, in dem Daniel eben noch geschlafen hatte, wurde ausgeworfen, Ziehen, Loslassen, Wieder-Anziehen, es war riesig, die Glaskugeln und Eisengewichte glitzerten in der Sonne, einige versanken, andere schwammen. Menschen in Neoprenanzügen und mit Tauchermasken warfen sich rittlings ins Wasser, und ihr Strampeln hinterließ kleine schäumende Ringe an der Meeresoberfläche. Eines der Boote hatte einen Krahn eingebaut, der mehrfach neu eingestellt wurde, er schien nicht zu funktionieren. Auch aus den anderen Booten warf man kleinere Netze aus.
An manchen Stellen wirkte das Meer wie von der Sonne durchleuchtet, als wäre es teils weiß, teils türkis gefleckt, an anderen warfen Steinformationen am Meeresboden Kühle und Dunkelheit herauf, und auch die Spiegelungen der Boote schwärzten vereinzelt das Wasser.
Einige Schwimmer tauchten auf, riefen den anderen etwas zu, eine Frau an Bord des größten Bootes warf ihnen Leinen und Werkzeug zu. Die im Wasser nur noch als Schatten sichtbaren Menschen versuchten etwas mit Händen einzufangen, es festzubinden?, anzuschieben?, die Sicht unter Wasser musste schlecht sein, es dauerte alles seine Zeit. Man spannte Schnüre, dunkel und schwer wurde der Fang mithilfe einer schwimmenden Trage aus dem Meer gehoben, das Wasser bildete glitzernde Perlen, die von Haut und Kleidung tropften.
Daniel merkte erst nach einigen Sekunden, dass er aufgeschrien hatte; Bakary rief in Richtung der verwunderten Gesichter auf einem nahen Boot: »Er ist neu. Er hat das noch nie gesehen«, und wandte sich danach vorwurfsvoll Daniel zu: »Ich habe es dir doch gesagt.«
Die anderen nahmen ihre Arbeit wieder auf, ließen sich wieder ins Wasser fallen und tauchten ab. Wenige der Toten, die sie aus dem Wasser holten, waren unversehrt, da gab es alles: zertrümmerte Kiefer, zerquetschte Schädel, entstellte Gliedmaßen.
Er kenne das doch bestimmt, erklärte Bakary Daniel mit angespannter Stimme, die Stadtufer müssten von den Angetriebenen freigehalten werden, denn wenn sie auf den Stränden verwesten, breiteten sich Krankheiten aus. Außerdem reagierten die Menschen unterschiedlich, wenn sie auf sie stießen. »Die hier sind höchstens dreißig Stunden im Wasser gelegen.« Am Anfang habe es bei den Aktionen noch Schaulustige gegeben, aber heute interessiere das niemanden mehr. Einige Freiwillige von der Küstenwache versuchten weiterhin jeden Tag, Überlebende zu finden, aber zumeist erfolglos. Etwas freundlicher im Ton meinte er dann, manchmal kämen auch ihm beim Arbeiten noch die Tränen. Daniel wünschte sich, er würde wegschauen und aufhören, ihm all das zu erklären, was er ohnehin wusste, weil der andere aber immer weiter redete, wohl um ihn zu beruhigen, bekam er das Gefühl, es an Bord nicht mehr auszuhalten. Er stürzte sich bekleidet ins Wasser, nachdem er Bakary seine Geldbörse und seinen Pass in die Hand gedrückt hatte.
Das Meer war kalt, und die Nasenschleimhäute, das Zwerchfell und die Lunge reagierten sofort darauf. Durch die halbgeöffneten Augen sah er die Boote und den Himmel darüber. Seine Augen brannten, und es ekelte ihn, im Wasser zu schwimmen, in dem auch die Leichen lagen. Aber es tat zugleich gut, also tauchte er noch tiefer hinab und blickte in das schaumige Weiß um ihn herum. Es war schön, als versuche die Helligkeit im Wasser zunächst mit ihm zusammen abzutauchen, würde aber nach oben getragen, wo sie sich in Bläschen verwandelte, die in verschiedene Richtungen auseinandertrieben, der Oberfläche entgegen und zum Sonnenlicht hin.
Mit Armen und Beinen schob er kurz darauf seinen Körper wieder nach oben, vom Meer niedergedrückt, aber mit heftigen Bewegungen dagegenhaltend. Dann griff er nach den Händen, die ihm vom Boot aus entgegengestreckt wurden.
TRANSPORT
Der LKW war von einem pulvrigen Grau überzogen, einer Mischung aus getrocknetem Schlamm und Staub. Die Toten wurden in den Laderaum gelegt, und bald war dessen Boden vom Meerwasser nass, man ging behutsam vor, wenn es ging, und gehetzter, sobald die nächste Leiche herbeigetragen wurde. Den Tauchern half man aus den Anzügen, zwei Bootsfrauen stritten sich leise mit ihnen, Schnalzgeräusche und Surren, sie überprüften ihre Ausrüstung und die Masken, diskutierten miteinander, einer wischte sich die Augen, schüttelte immer wieder den Kopf, andere klopften ihm auf den Rücken. Die Toten wurden mit braunen Tüchern zugedeckt, und da sich die Körperreste durch den Stoff abzeichneten, wurde noch deutlicher, wo ein Kopf, ein Arm oder ein Bein fehlte. Daniel strich mehrmals über sein Hemd und seine Hose, sie trockneten bereits im Wind und in der heißen Sonne. So wie die anderen ihn mit Blicken maßen, wurde ihm klar, dass er rote Augen haben musste. Es war ihm peinlich.
»In den Wagen!«, rief Bakary durchs Seitenfenster in seine Richtung, und er stieg auf einen der Vordersitze. Zwei Typen quetschten sich neben ihn, einer der beiden zog an der Tür, die zunächst knirschte und dann mit einem Knall zufiel, daraufhin drehte er gleich die Fensterscheibe hinunter und rief, während der Wagen losfuhr, einigen Leuten am Ufer Aufforderungen zu.
Die anderen schienen sich untereinander nicht zu kennen, stellten sich der Reihe nach vor. Zu beiden sagte Bakary: »Was für ein hübscher Name.«
Niemand fragte Daniel, was er hier mache, und er war dankbar, nicht reden zu müssen.
Dem LKW fuhren ein paar Autos hinterher, die am Strand auf sie gewartet hatten, Verstärkung?, dahinter reihten sich Fahrräder und Motorroller ein. Der Beifahrer kurbelte jetzt die Scheibe des Autofensters wieder nach oben, weil der Wind ihm die schulterlangen Haare ins Gesicht warf, und danach war es, als hätte sich die Stimmung im Wagen mit einem Mal verändert. Permanent spuckten die beiden Männer in Richtung Bakary Sätze aus wie: »Was wir uns schon wieder antun müssen!«, »Hundsarbeit!« Der eine seufzte darüber, dass »es« auf die Art nicht weitergehen könnte, der andere meinte, dass »es« von Anfang an schiefgelaufen war, auch waren sich beide darin einig, dass man »es«, weil es aussichtslos war, sein lassen sollte. »Wir sind doch keine Viecher!« Es fielen auch ein paar Namen und Flüche.
Stritten die, oder war das ihre Art zu reden?
Bakary hielt die ganze Zeit über den Kopf schief, wie alt der wohl war, er hatte überall feine Falten in der dunklen Haut, nicht nur am Ellbogen, auch am Hals oder an den Knöcheln der Finger, mit denen er auf das Lenkrad trommelte. Eine Zeit lang hörte er nur zu, dann unterbrach er die beiden doch, das Gespräch schien ihm keinen Spaß zu machen, sogar aufzuregen, er meinte, es seien nicht die Hafenarbeiter, sondern es sei die Regierung gewesen, die den Hafen gesperrt habe.
Das ließ man nicht gelten: »Keineswegs die Regierung, auch nicht die Hafenarbeiter. Die Flüchtlinge, die waren es. Die haben blockiert. Und zu uns haben sie immer so schön gesagt …«, der Mann verstellte seine Stimme spöttisch, »… die Flüchtlinge werden uns näher zusammenbringen.«
Konzentrierte Ruhe in Bakarys Gesicht, der immer schneller fuhr, er sagte nur: »Nein, das ist so nicht korrekt«, was schon ausreichte, um den anderen aufzuregen: »Was aber ist mit –?«, er brach ab, begann wütend einen nächsten Satz: »Müsste man nicht –?«, und setzte noch einmal neu an: »Haben nicht gerade –?« Bakary ermahnte ihn lächelnd, er solle in ganzen Sätzen sprechen, daraufhin schwieg der Mann demonstrativ, aber auch das nur kurz, dann redete er gleich weiter, in der für Daniel schwer verständlichen Sprache der Stadt. »Naaa, ist es nicht so? Das mit den Flüchtlingen ist doch nur die Ausrede gewesen.« – »Und der Lolly-Garche? Hat der nicht mitgetan?« – »Was mitgetan?« – »Er hat erklärt, dass es keine Alternative gab, zu dem –!« – »Dem brauchst du nichts zu glauben.« – »Und der Charbonnier erst!« – »Ist doch unwichtig, mir ganz egal, was der sagt. Es wär’ besser gewesen, wenn die Gewerkschaft den Hafen nicht zuzumachen begonnen hätt’!« – »Die haben ihn nicht zugemacht, das war ja nur denen ihr Streik; zugemacht hat die Stadtregierung das Meer; oder du weißt schon, die Grenze hin zum Meer.«
Ein Weg hinaus aus dem gereizten Wortwechsel, den ungehaltenen Gesten und angespannten Mienen wurde immer schwerer. Was Daniel aus allem, was die drei redeten, heraushörte, war, dass der Zugang zum Meer jedenfalls unmöglich geworden war, jede Verbindung zu anderen Häfen gekappt, die Routen nach Afrika geschlossen. Die Marine hielt jedes Schiff an, egal aus welcher Richtung, unter welcher Flagge, mit wie vielen Menschen darauf es in die Stadt unterwegs war.
Immerhin habe es zum angedrohten Militäreinsatz nicht gereicht, meinte Bakary trotzig, aber auch das ließen die anderen beiden so nicht gelten: »Weil die Grundlage dafür noch nicht gegeben ist. Nach dem, was bislang in den Verordnungen steht, ist ein Einsatz dann möglich, wenn Makrique gegen die neuen Regelungen verstößt. Absurd, das musst du zugeben: Das Militär hindert uns dran, die Boote bei uns anlegen zu lassen. Deswegen können wir nicht anders, als uns an die Gesetze zu halten, und so bewahren die uns vor ihrer Bestrafung, immerhin. Aber so wird es nicht bleiben, da arbeiten sie längst daran. «
Der Laster polterte mit zu hoher Geschwindigkeit durch ein Schlagloch.
Einer der Mitfahrenden ergriff wieder das Wort, nachdem sich alle aneinandergeklammert hatten, jetzt schimpfte er darüber, dass die Fischerboote und Motoryachten in den Bootstankstellen oder an den hölzernen Anlegestellen in den Stadthäfen geplündert worden waren, und als Bakary wieder beschwichtigend dazwischengehen wollte, hieß es: »Red’ nicht! Ich hab’s ja selbst gesehen.« Der andere nickte bestätigend, beschwerte sich über die von Schlamm und Algen überschwemmten Uferbänke, dann redeten sie über den Industriehafen, über seinen Untergang, die verwaisten Container, die stillgelegten Kräne, die aus dem Beton ragten wie riesige gebrochene Mittelfinger, vor allem aber über die Kolonnen von Lastern, die die Einfahrten zu den Depots blockierten, weil sie seit Wochen niemand wegbrachte.
Der Wagen war in eine Straße eingebogen, die vom Meer weg und einen eng bebauten Hügel hinauf führte. Einige Autos, Fahrräder und Motorroller fuhren ihnen noch immer hinterher, die Fahrräder fielen wegen der Steigung der Straße zurück. Daniel versuchte sie durch den Seitenspiegel zu beobachten, aber Bakarys Hände am Lenkrad versperrten ihm die Sicht. Die Fahrt dauerte insgesamt nicht lange. Bevor die kurvenreiche Straße wieder abwärts führte, hielten sie an. Die Männer sprangen aus dem Wagen, Bakary klopfte an die Glastür eines Lokals, die zwei anderen schlugen sachte gegen die Fenster. Niemand reagierte.
Hinter ihnen trafen die ersten Mopeds, dann weitere Autos ein.
Wie springlebendig die Männer wirkten, während sie versuchten, auf sich aufmerksam zu machen, alles an ihnen war beweglich und kraftvoll. Das fiel Daniel jetzt besonders auf, weil er sich beim Aussteigen wieder an die Ladung im LKW erinnert hatte. Wie konnte es sein, dass ihn die Erinnerung an die Toten in diesem Moment, obwohl er noch kurz davor geglaubt hatte, ihren Anblick nicht verkraften zu können, so wenig in Schock versetzte?
Bakary schlug heftiger gegen das Glas, einige der Männer fingen an, »Hallo!«, »Hey«, »Jemand da?« zu rufen, zunächst immer noch sachte, vorsichtig, fast steif, dann immer lauter, geradezu rücksichtslos. Erst nach einiger Zeit erhob sich im Inneren des Lokals eine Frau hinter einem der Tische.
ABMACHUNG
»Was willst du?« Hinter ihr standen mehrere Frauen, sie alle hatten ihr Haar streng zurückgebunden und tauschten mit den Besuchern Wangenküsse aus, ohne dabei zu lächeln, kaum dass sie überhaupt eine Miene verzogen. Mit einigen Männern, die verspätet hereinkamen, stießen sie zum Gruß nur die Fäuste kurz aneinander. Es stank nach Schweiß und Zigaretten. Bakary hob die Arme, abwehrend, fast entschuldigend: »Etwas mit dir besprechen, Malika.«
Er sah sich um, einige der Frauen folgten seinem Blick: »Ist Hakim hier?«
Eine Zeit lang blieb es still. Eine der Frauen, die weit auseinanderliegende Augen hatte, trat zur Seite, als Malika einen Schritt zurück machte, ihre Arme ausbreitete und in mehrere Richtungen deutete: »Siehst du ihn irgendwo?«
Sie schaukelte ihren dünnen, leicht gekrümmten Oberkörper dazu, unruhig. Als sie ihnen kurz den Rücken zukehrte, war an ihrem Hinterkopf das zu vielen Zöpfen geflochtene Haar zu sehen und eine kleine kahle Fläche dazwischen, wo die braune Haut hervorblitzte, die sich dann in ihrem Nacken und auf den Schultern fortsetzte, nur abschnittsweise von einem T-Shirt verdeckt. Irgendetwas störte Daniel an ihr, vielleicht bewegte sie sich auch nur zu viel.
»Siehst du nicht, dass wir Besuch haben?«, Bakary deutete auf ihn. »Der da ist neu in der Stadt.« Ihr Nicken war schamlos gleichgültig, statt ihn zu begrüßen, sagte sie nur gelangweilt zu Bakary: »Hab ich nicht gesehen«, dann ungeduldig: »Lass mich raten? Es ist wieder wegen einer Verabschiedung?«
Es folgten Berichte, Einwände und Bitten, ein paar Fragen: Wie viele Tote? Hinweise auf deren Herkunft? Darauf, woher das Boot kam. Wie es zum Schiffbruch gekommen war. Während sie die Details ausmachten, brachte man ihr einen Kaffee, und gerade als Bakary ein Problem mit dem Transport ansprach, fragte sie, wo der Zucker sei, dabei sah sie an ihm und auch an Daniel vorbei, der sich auf einen Barhocker gesetzt hatte und über der Theke lehnte. Fast direkt vor seiner Nase stand ein Basilikumstrauch in einer bunten Keramikschale, einzelne Blätter waren verwelkt, gräulich und trocken, andere immer noch hellgrün. Er beobachtete von seinem Platz aus alles reglos. Auch Bakary sah jetzt verärgert über Malika hinweg auf etwas an der Decke, als wüsste er, dass es während der Unterbrechung keinen Sinn habe, weiter nachzufragen. Und so schwiegen alle. Nachdem man ihr ein einzelnes Stück Zucker gebracht hatte, rührte sie langsam im Kaffee, danach erst reagierte sie auf die ihr gestellte Frage, abweisend und knapp: Den Transportweg werde sie freihalten. Sie diktierte einer der Frauen den Text für eine kurze Presseaussendung, dann ging es hin und her: Das Material vom letzten Mal?, sei noch im Keller, Musik oder nicht bei der Verabschiedung?, wie viele Reden?, das sei zu viel, das werde kaum möglich sein, sie könne für nichts garantieren.
Die Frauen hinter ihr schauten abweisend drein. Die mit den auseinanderstehenden schwarzen Augen trat immer wieder einen Schritt näher an Daniel heran, verschränkte die Arme, trat wieder zurück. Selbst im dunklen Licht des Lokals zog sie alle Blicke auf sich. Im Hintergrund hingen die Bilder zerstörter Städte, daneben einige an den Rändern klebrig wirkende, abblätternde Plakate, eines davon halb auseinandergerissen, das andere teilweise übermalt; eine Afrika-Karte mit eingezeichneten Routen, darauf das Logo einer Organisation, dem jemand zwei rot ausgemalte Teufelshörner aufgesetzt hatte. Aus den Lautsprechern hinter der Theke war eine Arabisch sprechende Radiostimme zu hören, ein Ventilator drehte sich neben schmutzigen Gläsern auf der Theke im Kreis.
Bakary sagte jetzt etwas an dem Ort unpassend Zärtliches zu Malika, sie rührte sich nicht, wirkte zerstreut, unkonzentriert, es war eine Spannung zwischen den beiden, fast als sähe man ein Flimmern. Zum Glück kicherte niemand, auch wenn einige der Frauen es sich kaum verkneifen konnten. Erst einige Augenblicke später, als hätte sie sich tatsächlich in Gedanken an diese Zärtlichkeit verloren, meinte Malika, das klinge zwar nett, bringe ihr aber nichts, dazu streckte sie ihre Hand aus und machte eine auffordernde Geste, gleich mehrmals hintereinander.
Man holte Flaschen, Gemüse- und Obstkörbe, einige Schachteln Aspirin, weitere Plastiksäcke und einen Karton mit mehreren Stangen Zigaretten aus den vor dem Lokal geparkten Autos und übergab alles den Frauen. Die schienen zufrieden, es gab nichts zu kommentieren. Als das Telefon auf der Theke klingelte, reichte man Malika den Hörer, sie sagte: »Ja?« Ein Augenblick kurzer Stille trat ein, bis sie fragte: »Was?« Dann schwieg sie erneut, antwortete nur: »In Ordnung« und legte auf.
Alle redeten jetzt durcheinander, bis Bakary unterbrach: »Das ist wirklich nicht wichtig, wir müssen los!«, und Malika zum Abschied betont beiläufig auf beide Wangen küsste. Beim Hinausgehen drehte er sich aber noch mal zu ihr um und sagte: »Du weißt doch: Die Leute erwarten etwas.« Als rumorte doch die Angst in ihm, nachlegen zu müssen, wandte er sich kurz vor der Tür an Daniel, der mit ihm hinausgehen wollte: »Du bleibst hier und hilfst ihnen.«
Danach ging er weg.
Daniel ließ sich befehlen, ohne viel zu fragen und ohne viel gefragt zu werden. Mikrofonständer, Verstärker und mehrere Kabelrollen trug er aus dem Keller des Lokals hoch und stellte sie im Raum ab. Er stieg sicher mindestens dreimal die Holztreppe hinab und wieder hinauf, setzte sich dann auf die Couch im hinteren Teil des Barbereichs, um durchzuschnaufen. Das gesamte Lokal war schon vollgestellt mit Geräten, er und ein paar Frauen warteten eine Zeit lang, bis ein paar der Schlepper zurückkamen, um die Boxen und Ständer wegzubringen. Man befahl, diktierte, rief sich zu, redete durcheinander, mehrere Telefone läuteten gleichzeitig: »Den Gerichtsmediziner informieren und einen Polizeifotografen vorbeischicken!« – »Wir sollten herausfinden, wer sie waren.« – »Das Boot ist in Sirte gestartet, so viel wissen wir bislang.« – »Die Behörden in Libyen haben wir in der Datenbank. Und dreizehn Organisationen kooperieren dort mit uns. An Amnesty auch? Das Flüchtlingswerk? Wer ist dort aktiv?« – »Vielleicht waren sie davor woanders.« – »Haben wir Kontakt zu einem Antirassismusbüro oder einem betreuten Lager?« – »Die Fotos sollten trotzdem hingemailt werden.« – »Da musst du telefonieren.« – »Ans Innenministerium schreibst du persönlich?« – »Heute nachmittag.« – »Fotografiert werden sie noch, bevor sie hingebracht werden.« – »Man hat keine Pässe und Ausweise gefunden.«
Die Stimmen um ihn herum wurden langsam zu einem unverständlichen Murmeln, das er nur noch an der ihm fremd gewordenen Oberfläche seines Bewusstseins wahrnahm, es vergingen Stunden oder Minuten.
Diese Müdigkeit, dazu die Schwüle, er musste wohl eingeschlafen sein.
Man zog ihn von der Couch hoch. Was sollte dieses Drängeln, er stand ja schon, er ging ja schon, er konnte das schon selbst, »Verstehst du uns?«, der Geschmack in seinem Mund war unangenehm, und er spürte seine Arme nicht, sie waren taub geworden, als sein Kopf darauf lag. »Der versteht uns nicht.«
Nach einem Türknallen auf einmal die große Helligkeit. Er stand wieder auf der Straße, die Sonne brannte, der LKW und die Autos waren fort, man klopfte ihm auf den Rücken, und aus den grellen Bildern vor seinem Auge entstand die heiße Stadt, durch die ihn eine Gruppe von Menschen mitzog. Jemand reichte ihm Wasser, er trank im Gehen.
Einmal gut essen und dann ausschlafen wäre fein gewesen.
Sie gingen an einstöckigen Häusern und kleinen Stadtvillen vorbei, eine Steintreppe hoch, bis sich der Blick auf einen Hügel und eine Kathedrale öffnete. Kinder kletterten auf den Stufen herum und wurden von Frauen in schwarzen Kopftüchern angetrieben: »Lasst den Blödsinn!«
Der Hügel war mit Hunderten Menschen gefüllt, Motorroller und Fahrräder standen dazwischen oder waren ins Gras gelegt worden, da war auch der Laster mit den Toten, er hätte ihn fast nicht wiedererkannt, so übertrieben bunt geschmückt mit Tüchern, Blumenimitaten aus Plastik und kleinen Palmenzweigen. Die Reifen rollten über Straßenunebenheiten, dann über Gras, das zu dieser Jahreszeit einen Gelbstich hatte; die Erde auf dem Hügel war trocken. Im LKW sah er Bakary sitzen, der jetzt eine große Sonnenbrille trug und ein paar Worte in seine Richtung schrie.
Daneben gingen mehrere Frauen in langen weiten Gewändern, auch sie bunt geschmückt, mit Blumen und Zweigen im Haar, sie trugen große Körbe mit noch mehr Blumen und Tücher um den Hals. Bei dieser Hitze? Der Schweiß tropfte ihnen von Wangen und Kinn. Unter ihnen entdeckte er auch Malika, sie lief umher und gab Anweisungen. Dem improvisierten Leichenwagen hinterher ging eine weitere kleine Gruppe mit Blasinstrumenten, und hinter ihren Füßen rollten Kiesel den Weg hinab, sie wurden schneller und schneller, das erweckte den Eindruck, als löste sich die steinerne, heiße Oberfläche von der Erde ab.
Der Laster stoppte neben einer kleinen Bühne, und die Frauen machten sich daran, die Tür zum Laderaum zu öffnen. Wie erwartet lagen darin die Toten unter den braunen Decken, noch genauso aufgestapelt, wie er es an der Küstenstraße zuletzt gesehen hatte. Die Menge wuchs weiter an, Daniel wurde weggedrängt, mehrere Frauen positionierten sich neben den offenen Ladetüren, blieben fast bewegungslos stehen, sie sahen mit ihren Blumenkörben wie bewaffnete Wächterinnen aus.
Säuglinge, die über ihre Mütter und Väter krabbelten, oder kleine Kinder, die übereinanderkugelten, übermütig, niemand hinderte sie daran. Ein Mann fächelte sich mit seinem Hemd Luft zu, eine Frau verteilte Werbezettel für dieselben Buchtitel, die schon am Vorabend in der Bar beworben worden waren, »Erschlagt die Armen!«, »Die bleichen Füchse« und noch einige mehr. Mehrere Uniformierte spazierten zwischen den Menschen umher, nickten allen zu, jetzt erkannte er den kahlköpfigen Schwarzen, ein Gewehr hing ihm über der Schulter. Der hatte gestern in der Bar aber viel finsterer ausgesehen. Er schwitzte stark, schaute ernst drein, begrüßte nur ab und an einige Bekannte, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, nickte, stellte ein paar Fragen oder wurde etwas gefragt. Er war groß in der Menge.
Der Lärm stieg rasch an, die Hitze auch, alles schien zu glühen, die Menschen, die Gegenstände, der felsige Grund. Daniel arbeitete sich wieder näher zur Bühne und zum LKW vor, doch die Menge hielt ihn weiterhin von den Ladetüren fern. Ein älterer Mann drückte ihm mehrere Anstecker in die Hand, dazu eine Schildkappe mit Aufdruck. Strengte ihn das alles nur so sehr an, weil er nicht ausgeschlafen war? Dieser Säugling auf dem Rücken seines Vaters, wie nervtötend er unweit von ihm loswimmerte, auf der Holzbühne trampelten Frauen und Männer hin und her, zerrten an Kabeln, riefen durcheinander, drehten an Knöpfen. Die Welt dröhnte grässlich, bis jemand ein Kabel umsteckte.