Kitabı oku: «In die Transitzone», sayfa 3

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Ein Mann rief Malika eine Bitte zu, sie rief von der Bühne herab zurück: »Darum kann ich mich jetzt wirklich nicht auch noch kümmern«, und bekam als Antwort ein wütendes: »Knastschwester«, dann unterdrückte Flüche und böses Kichern, woraufhin sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste und in seine Richtung rief: »Verschwinde!«

Ihr Körper bog sich vor und zurück. Sie schien sich zu ärgern, oder war es etwas anderes?, jedenfalls blickte sie immer wieder unruhig in die Menge und vor allem zum LKW, schaute sich dann erneut um, als warte sie auf etwas oder könne sich nicht entscheiden, anzufangen.

TEILNAHME

Von oben hatte sie zwar einen besseren Überblick, aber dafür Schwierigkeiten, die vielen Menschen auseinanderzuhalten. War der Charbonnier schon da? Wenn er es sich bloß nicht im letzten Moment noch anders überlegt hatte. Lief alles nach Plan? Die Mädels mit den Blumenkörben schauten nicht zu ihr herüber, es schien gut zu gehen. Bakary stand nah an der Bühne, biss dort unten in eine Feige, die Lippen zum gleichen braunroten, auffordernden Grinsen geformt, das er in ihrer Jugend auch immer schon aufgesetzt hatte, wenn er im Schatten liegend abgewartet hatte, bis eine Stechmücke auf ihrer Haut lag, um kurz bevor die Mücke stach, so fest zuzuschlagen, dass es wehtat. Bloß dass sein Gesicht mittlerweile zu alt für Schelmisches geworden war, er sah furchteinflößend aus, wenn er sie so anschaute.

Als wüsste sie nicht, auch ohne Hinweis seinerseits, dass die Menschen etwas erwarteten, als hätte sie nicht selbst mit den Im-Stich-Lassern dieser Stadt genug zu kämpfen. Schlimmer noch, mit der Angst, einmal selbst die zu sein, die alle im Stich lassen würde, gerade weil sie es irgendwann satt haben könnte, ständig gegen das Desinteresse der Menschen vorzugehen, das besonders groß war, wenn es um die gemeinsame Sache ging. Von Verbesserungen war nämlich keine Rede mehr, nur vom Durchhalten. Man konnte sich jeden Tag fragen: »Was haben wir falsch gemacht?«, auch wenn man überhaupt nichts falsch gemacht hatte, und wenn man sich das nicht selbst fragte, tat es ein anderer.

Sie fände es auch schöner, vor jemandem zu stehen, sich die Bluse aufzuknöpfen, die Hose herunterzuziehen, sich streicheln zu lassen – und nichts weiter. Vielleicht hätte das für ein gutes Leben gereicht, verschwitzte Boxershorts, ihr BH daneben, die Finger im Mund, Lecken und Kratzen auf Hintertreppen. Man hätte sich die Jugend leichter machen sollen, fand sie jetzt. Gleich gar keine allzu großen Hoffnungen hegen, sich stattdessen auf das Genießen und nicht auf das Drumherum konzentrieren. Warum hatte sie überhaupt studiert? Im Rückblick waren das verlorene Jahre, überflüssige Vormittage auf der juristischen Fakultät, Nachmittage, an denen man dafür Parkplätze bewacht und alte Kleider und Schuhe verscherbelt hatte, Blinden oder Kindern Märchen vorgelesen, auf der Straße Sonnenbrillen an Touristen verkauft, im Hochsommer Massagen am Hafen angeboten hatte. Nicht eben angenehm, die schwitzenden Touristenrücken. Wozu? Für die Demütigung nach dem Studium, fast zehn Jahre ohne feste Anstellung, die kurzfristigen Honoraraufträge und schlecht bezahlten Praktika, die Aushilfsstellen?

Lauter überflüssige Gedanken, dachte sie sich, man kann es ja nicht mehr ändern. Sie hatte eben weitergemacht, geplant, hatte betreut und beraten, hatte zu allem »Ja« gesagt, zu Ideen, zu Ansinnen, zu fast jedem Projekt, auch zu jeder angebotenen Freundschaft, niemand, für den sie sich nicht Zeit genommen hatte. Dass sie in dem schlecht subventionierten Sozialzentrum die Anstellung bekommen hatte, wodurch wenigstens zwanzig Stunden Arbeit nunmehr entlohnt wurden, änderte nichts daran, dass das Wort Ehrenamt immer noch weit hinein in den Alltag reichte. All das Hickhack, nur um »unsere gute Malika« zu werden, »Malika-Bitte-Sehr«, »Malika-Danke-Schön«, die im kleinen Büro einer Zwei-Personen-Rechtsberatung hockte, Anlaufstelle für drei Initiativen, vier Vereine und für das Forschungsinstitut, kurzum für alles, was am Sozialzentrum dranhing. Dort lernte man sie kennen, die Menschen, kamen ja so einige vorbei, Nervensägen und Großmäuler, Arme und Idioten; manchmal schliefen sogar welche dort.

Es gab schönere Arbeitsplätze.

Die Eingangstür klemmte, und die Häuserfassade, die Innenwände, auch die Einrichtung waren schäbig, außer die der Gemeinschaftsküche und der Bar, wohin jeder etwas mitgebracht hatte: einen Stuhl, ein altes Sofa, Sträucher in Keramikbehältern oder selbstgemalte Bilder. Hakim, den sie persönlich vor ein paar Jahren hinzugeholt hatte, weil es – seit das Zentrum unter der neuen Leitung, die auch sie angestellt hatte, gewachsen war – mehr und mehr Schlägereien gegeben hatte, stand von da an mit verschränkten Armen und abwesendem Blick vor dem Eingang. Zu Stoßzeiten hatte er mit zwei anderen Aufsicht, und draußen drängte die anwachsende Menschenmenge gegen die Tür, die kaum schloss. Wenn jemand laut wurde, war er da, um traurige oder wütende Menschen fest an sich zu drücken und zu flüstern: »Alles gut?« Manchmal, wenn sie sich nicht mehr konzentrieren konnte wegen des Lärms, hängte sie mit ihm gemeinsam ein großes Transparent über den Eingang: »Politische Gespräche heute verboten«, und Hakim rief jedes Mal, wenn sie damit fertig waren, mit dem gleichen Gesichtsausdruck: »Na also, wir haben die Lösung! Sehr schön.«

Während Malika jetzt in die Menge am Hügel vor sich sah, auf die gedrängten Menschen und wie sie sich verhielten, erinnerte sie sich plötzlich wieder an ihre Zeit im Gefängnis, die Zelle, der Gang, das Schlüsselklirren, normiertes Essen, normiertes Weiß der Wände, normierte Überbelegung, normiert auch die Wechselsprechanlagen, die automatisch schließenden Türen, die Gemeinschaftsduschen ohne Luftabzug; es gab nur Metallbetten und Betontische – keine Weichheit gegen die Täter! –, und selbst die ethnischen Hierarchien wirkten wie vorab festgelegt, die weißen Beamtinnen und Psychologinnen blieben eine sichtbare Minderheit. Man regte sich in Makrique nicht über Haftbedingungen auf, manche in der Stadt lebten schlechter. Warum eigentlich bei den Klagen nichts weitergegangen war? Weder bei der Klage gegen die Stadtverwaltung noch bei jener der Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den Polizeipräfekten, in die sie ebenfalls involviert war. Ein reines Hinhalten. Hatten sie etwas ausgerichtet? Die Ausweitung des Grenzschutzes verhindert – oder die Umwandlung der staatlichen Geheimdienste zu Ausbildungsinstituten, die Verwaltungs- und Kontrollsysteme für Grenzagenturen erarbeiteten, auf die sich wiederum der Staat stützen konnte, wenn er neue Gesetze beschloss? Hatten sie dagegenhalten können, wie sie gehofft hatten? Was hatten sie gegen Gesetzesbrüche und schäbige internationale Abkommen gemacht? Gegen ein Denken, das den Einsatz von Gewalt rechtfertigte, wenn es darum ging, Menschen an der Flucht zu hindern?

Kein Wunder, dass diese Gewalt jetzt überall war, mitten unter ihnen, in der Nachbarwohnung, auf der Straße, am Strand, im Wasser, auf den vorgelagerten Inseln, wohin sie früher mit kleinen Kähnen gefahren waren, um unbeobachtet nackt zu schwimmen.

Sie hatten sie alle auf die Schiffe steigen lassen, die der Lolly-Garche herangeschafft hatte, sie hatten sie fotografiert beim Wegfahren und ihnen gewunken, hatten die neuen Verträge vielleicht nicht gebilligt, sie aber auch nicht ausgehebelt, beschränkt und begrenzt bis zur Unwirksamkeit.

Malika zwang sich, um ihre Wut zu dämmen, stattdessen an den Moment zurückzudenken – ein guter Moment –, als sie aus dem Gefängnis getreten war. Die Leute, die gekommen waren, um sie vor dem Gebäude abzuholen, überall Fotoapparate und Videokameras, die Wagen und ein paar Transparente mit ihrem Namen. Die Videos kannte jeder, sie waren leicht im Netz auffindbar: Malika in Jeans und T-Shirt, neben ihren Schultern die beiden Wärter, deren Münder fest geschlossen blieben, während sie ihrerseits beim Gehen andauernd in die kleine Menge rief, ins Auto zu Hakim stieg – und weg war sie –, direkt zur Kundgebung am Hafen gefahren wurde. Was für ein Anblick war das, als sie nach ihrer Freilassung mitten in die bis dahin größte Demonstration geriet. Die volle Ladung politischer Kraft. Und jetzt? Nur so wenig später? Wo war da die Bewegung? Die Hoffnungen waren wie aufgepeitschtes Wasser, das gegen die Felsen klatscht, hochgeschnellt, hatten sich dabei zuerst in Gischt verwandelt – die spritzte nur so in alle Richtungen –, um sich dann ganz in Luft aufzulösen.

So war das, dachte sie sich.

Die Menschen unten im Gras starrten und tuschelten, redeten durcheinander, überall sah sie nur schwitzende Passivität, aufgedunsene Gesichter alter Männer, ein fast faulig wirkendes Kleinkind. Als wäre die Schwüle eine Krankheit, der die Stadt erlegen war. Sie hatte vorhin unter die Decken im LKW geschaut, und bei einem der oben liegenden Toten hatte das halbe Bein gefehlt. Daher das Bild ihres Vaters, ein kurz vor ihren Augen waberndes Bild seiner Finger, wie er seinen Stumpf mit der Spezialcreme einschmierte, an der Stelle, wo die Haut so abstoßend über den Knochen hing.

Konzentrier dich!

Sie ließ jetzt doch von den Kabeln ab und strich sich über den Hinterkopf, über die kleine kahle Stelle, die klebrig war vom Schweiß. Man reichte ihr ein Megafon, sie hob es an den Mund: »Ihr da!«

Da der Ton viel zu leise gedreht war, wiederholte sie noch einmal lauter: »Hey, ihr!«

Der Mikroständer, ohne Strom nutzlos, aber direkt vor ihr aufgestellt, stand ihr im Weg. Sie redete und redete, ohne genau zu wissen was, bedankte sich bei allen, dass sie gekommen waren, sagte ein paar Worte über das Wieder-einmal-zusammengekommen-Sein, dann etwas über die Menschen, die namenlos bleiben würden, und über den letzten Dienst, den es den Toten zu erweisen galt, die gemeinsame Aufgabe, sie in Würde zu verabschieden, und noch Sonstiges in die Richtung.

Nun begannen die Frauen neben dem LKW endlich, ihre Blumen an die Umstehenden zu verteilen, diese Ansprache war das vereinbarte Zeichen. Die Menschen griffen zu, warfen die Blumen in den Laderaum des Lasters und entfernten sich angemessen betroffenen Blickes wieder. Das führte zu ständiger Unruhe in der Nähe der Bühne.

Malika verzettelte sich, was ihr aber auch egal war, denn sie dachte noch immer über die Beschränktheit ihrer Arbeit, die Oberflächlichkeit ihres Beitrags zu alledem nach. Es war eine Schande, eine große Schande, anders konnte man das nicht nennen, und müsste diese Schande nicht eigentlich an ihnen allen sichtbar sein? Sie verfing sich immer mehr in bloßen Anfängen von Gedanken, »Hätten wir gewusst …«, »Wir haben niemals befürchtet, dass es so schlimm …«, »Und wenn es doch eine Falle …?«

Einige Male kam sie deswegen beim Reden durcheinander, verlor dann endgültig den Faden, weil sie anderes im Kopf hatte, und kündigte, um es sich nicht anmerken zu lassen, abrupt die erste Rednerin an. Sie lobte sie als »Freundin der Wahrheit!«, die in den Ring gestiegen sei mit den »Gierigen und Korrupten!«, und forderte am Ende laut und feierlich: »Begrüßt mit mir Marguerite Tassioni, die letzte Matadorin der Gerechtigkeit!«

ZUSPRUCH

Von unten hob, von oben zog man die Rednerin, die von dieser Ankündigung überrumpelt war, umständlich auf die Bühne, und Daniel hatte sofort die Fotografien vor Augen, die er am Vorabend gesehen hatte. Mit dem Widerschein der Sonne auf ihrem Gesicht hatte sie fast das Aussehen eines Mädchens, aber der Stiernacken, ihre hängenden Brüste, die spröden Haare passten nicht dazu, und auch nicht das Gesicht, ganz von Falten überzogen. In der Menge streckten viele die Hände in die Luft, man begrüßte sie mit lauten Rufen: »Tassi-ooo-ni, Tassi-ooo-ni!«, »Margue-rite! Mar-gue-rite!«

Das Stromproblem war behoben, das Mikrofon funktionierte jetzt, nun begrüßte auch Marguerite die Leute, indem sie mehrmals »Freunde und Freundinnen!« rief und dann zweimal: »Wie geht’s euch?« Die Lautsprecher übertrugen ihre Stimme, sie war aus mehrere Richtungen zu hören, wodurch die Feier einen offiziellen Anstrich bekam.

Man wollte nicht aufhören zu winken.

Tatsächlich hatte sich die Stimmung mit ihrem Auftritt verändert, bisher war eher eine unbestimmte Anspannung spürbar gewesen, nun lag Stolz in dem ansteigenden Lärm, den der Tonfall von Marguerite noch befeuerte: »Zum wievielten Mal in den letzten Wochen sind wir zusammengekommen, um Abschied von Toten zu nehmen? Ich weiß, ich weiß, ihr fühlt die Traurigkeit um uns, so ist das, aber nicht allein wollen wir sein, und traurig, sondern gemeinsam, und wütend.«

Daniel schaute sich um, Malika, die inzwischen von der Bühne weggetreten war, stand jetzt neben Bakary.

Sonst keine vertrauten Gesichter.

Marguerite setzte noch einmal an, machte mit den Armen beschwichtigende Gesten in Richtung des Publikums, als wolle sie die Aufregung, die sie selbst hervorgerufen hatte, dämpfen: »Wisst ihr noch, wie es angefangen hat? Als sie uns erklärt haben, dass der Industriehafen geschlossen wird. Sie haben uns erzählt …«, endlich wurde es ruhiger, »… wir wären nicht mehr gewesen als eine ineffiziente Transportstation, finanziert auf Kosten der Stadt.«

Das Publikum hörte ihr nicht mehr nur zu, es gehörte ihr. Daniel sah, dass sich mehrere Männer nach vorne zur Bühne drängten, deren Kleidung und Gesichter ihn sofort an die Alten erinnerten, die er in der Früh an der Küstenstraße gesehen hatte. Marguerites Sätze wirkten, wenn auch auf verschrobene Weise, magisch, sie redete über den Arbeitsalltag, Löhne und Arbeitszeiten, und erntete Begeisterung; nur vereinzelt mischten sich in den Beifall freche Zwischenrufe, eine Gruppe skandierte: »Genug! Genug!«, und ein paar andere betätigten die Hupen ihrer Mopeds oder ließen kurz die Motoren aufröhren, um zu stören. Sie wurden sofort beschimpft. Marguerite, ohne sich darum zu kümmern oder es überhaupt zu bemerken, hatte keine Hemmungen, die Schlüsselworte, die ihren Alltag bestimmten, immer wieder in den Mund zu nehmen. Sie sprach von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitslosen, deutete in Richtung des Alten Hafens, wo kleine Lichtflecke glänzten, weil das Wasser und das weiße Plastik der Boote die Sonnenstrahlen zurückwarfen: »Warum wollten sie den Industriehafen schließen? Wegen ein paar Hunderttausend Menschen, die in unserem Land verteilt kaum aufgefallen wären, hätte man nicht ständig mit Geschrei immer wieder auf sie hingewiesen. Warum wollten sie zugleich neue Gesetze für die Hafenverwaltung aufstellen, Schifffahrtsgesetze und Handelsgesetze und Arbeitsgesetze festlegen, die ihr alle kennt, und ihr kennt ebenso die Folgen, die das für die Stadt gehabt hätte? Darauf hat man nicht hingewiesen, und darum wäre es auch fast keinem aufgefallen.«

Sie kletterte, weitaus eleganter, als sie hinaufgestiegen war, von der Bühne herunter in die Menge, nahm das Mikrofon mit und zog mit dem Kabel eine schwarze Spur im Gras hinter sich her. Manchmal musste sie fest am Kabel ziehen oder es über einen Menschen heben, denn überall saßen sie in Gruppen oder hockten, knieten und lagen im Gras.

Nur um den LKW herum war viel Bewegung, die Menschen kamen hin, warfen weiterhin die Blumen in den Laderaum, die ihnen die Frauen in die Hand gaben, und waren dann wieder weg.

Marguerite ging wie eine Priesterin umher, ihr freundliches, faltiges Gesicht schien immer weniger zu dem zu passen, was sie sagte: »Du?«, so trat sie an einen jungen Mann heran. »Was ist mit dir passiert?« Sie riss seinen Arm in die Höhe, drehte die Handinnenfläche zur Gruppe hin: »Wie lange hast du in deine Versicherung eingezahlt?« Sein Flüstern, seine Antwort wiederholte sie: »Monatlich. Hört ihr? Monatlich hat er in die Versicherung eingezahlt. Wer hat ihm den Aufenthalt im Krankenhaus bezahlt, als er von einem Gerüst gefallen ist?« Die Menschen, die um den Angesprochen herum saßen, begannen ihm über den Kopf zu streichen, ihm auf den Rücken zu klopfen, sie betrachteten die hochgehaltene, von Verletzungen überzogene Handinnenfläche.

Marguerite beugte sich über den Jungen, es war so ruhig, dass man ihre Stimme auch ohne Mikrofon gehört hätte: »Und deine innere Stimme? Was sagt sie?« Auf das Murmeln hin, das vom Mann am Boden kam, der schwer atmete, den Blick gesenkt hielt, ließ sie seinen Arm los, ging vor ihm auf die Knie, hob seinen Kopf, sah ihn zärtlich an, beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Nickte er? Sie schnellte wieder in die Höhe: »Ja, das sagt ihm seine innere Stimme: dass es nicht gerecht ist.«

So ging das dahin: »Und du?« Sobald sie das Wort an einen der versammelten Menschen richtete, zitterte dieser, oder er nickte, oder er schaute erwartungsvoll drein, mancher schluchzte sogar auf. »Wo bist du geboren? Hast du dir ausgesucht, gerade dort geboren zu sein? Du da? In einer Lehmhütte? Hast du darum gebettelt, in die ärmste Familie deines Dorfes hineingeboren zu werden? Hast du mit abgestimmt, als entschieden wurde, dass deine Eltern die und die Hautfarbe haben sollten? Dass deine Eltern mit dir auf dem Rücken aufbrechen würden, um ihr Glück zu suchen? Du da! War es gewollt, dass die Mutter von dem dort bei seiner Geburt gestorben ist? Weshalb hört ihr nicht auf eure innere Stimme? Was sagt sie euch?«

Große Sonnenbrillen waren auf sie gerichtet, in manchen der schwarzen Gläser spiegelte sich das Licht, man konnte nicht sehen, wen oder was die Träger musterten, ob sie Marguerite ansahen oder jemand anderen, der es gar nicht merkte.

Es gab ja viel zu schauen: die Leute, ihre Kleidung, die Fäden in den Turbanen, die Flecken auf Baskenmützen und Stoffbändern, die Ränder der Schatten, die ihre Kappen mit den Schutzschirmen auf Nasen und Wangen warfen. Hatten sie absichtlich ihre Gesichter vermummt? Nur wegen der Sonne oder aus anderen Gründen? Kapuzenpullis, Hüte, fettiges Haar, Gel in den Borsten eines Irokesenschnitts, die Muster der Stoffe, und dazwischen Marguerite, die auf und ab ging, sie selbst unverhüllt, ohne das schwarze Tuch, das er von den Fotos kannte.

Die Möwen schrien immer wieder auf, wenn zwischendurch der Applaus anschwoll, beruhigten sich danach wieder, zogen weiterhin stumm ihre Kreise über der Menschenansammlung und dem LKW, aus dem immer mehr Buntes von den braunen Decken her blinkte. Die Blüten und Blätter hatten sich teils ineinander verhakt.

»Wir bleiben dabei!«, rief die Rednerin plötzlich besonders laut, und dann dieser Lautstärke entsprechend heftige Dinge, die begannen mit: »Ihr wisst es doch!«, die weitergingen mit »Die Freiheit des Menschen, sein Leben zu lieben!«, die sich noch steigerten: »Die Freiheit, sein Leben zu retten!«, bis zu einem letzten Ausruf: »Diese Freiheit ist die elementarste und gilt für alle gleichermaßen!«

Daniel bekam gegen seinen Willen eine Gänsehaut, dabei war ihm die Aussage in ihrer Banalität, vor allem aber die Leidenschaft, mit der sie vorgetragen wurde, peinlich. War das nicht bloß die Bestätigung der offiziellen Losung des Landes, die auf Ausweise, auf Briefmarken und Münzen, sogar auf Eintrittskarten öffentlicher Museen gedruckt war?

Fehlt nur noch die Hymne.

Als Marguerite an ihm vorbei wieder in Richtung Bühne spazierte, sah er die kleinen Wunden, die sie sich in die Lippen gebissen hatte, die rissig gewordene Haut, die sie wahrscheinlich mit den Zähnen abgezogen hatte.

Sie sprang zurück auf die Bühne, jetzt geradezu leichtfüßig, von dort aus verkündete sie: »Und wir sind stolz!«, der Ausruf wurde von Rufen unterbrochen. »Stolz!«, wiederholte sie, aber es war immer noch zu viel Lärm um sie herum, sodass sie wieder mit beiden Armen die Menschen zu beruhigen versuchte, was nicht klappte, weshalb sie schließlich schreien musste, um den Satz zu beenden: »Stolz darauf, was wir hier machen!« Danach berief sie sich auf nichts Geringeres als das Herz, sich selbst und die Verfassung, stand dann im Applaus auf der Bühne, aber nicht lange, bald stieg sie ein letztes Mal herunter – schon war sie wieder Teil der Menge.

Das war’s?

Der Lautsprecher knackte, etwas im Inneren des Lautsprechers – oder seine Abdeckung? – war lose geworden und schlug gegen die Membran, oder man hatte die Bässe falsch eingestellt. Daniel war noch immer nicht klar, warum die Menschen hier zusammengekommen waren. Wollte man bloß nicht allein bleiben, hoffte auf ein bisschen Trost, vielleicht auf Rechtfertigung oder, warum nicht, auf Unterhaltung? Der Lastwagen mit den Blumen, was bedeutet es schon, Blumen zu werfen, und die Toten, dachte er sich, was hatten sie mit den Toten vor?

Er war enttäuscht, dass die Rede schon vorbei sein sollte.

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