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Kitabı oku: «Ille mihi», sayfa 3

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Sie schob ihren Teller weg und wäre am liebsten davongelaufen – den ganzen weiten Weg zurück zu Papa und Greinchen – aber das war ja unmöglich. Sie kam sich plötzlich völlig verloren und hilflos vor. Nun zwang sie sich, recht langsam weiter zu essen. Das hielt wenigstens Peter im Zimmer. – Aber auch das zierlichste Spielen mit einer Treibhaustraube, das gedankenverlorenste Zerpflücken der Verveineblättchen im Wasser der Fingergläser und das sorgfältigste Abtrocknen der gewölbten rosa Nägelchen muß schließlich ein Ende nehmen.

Herr von Zehren war aufgestanden.

»Nun wirst du mir das ganze Haus zeigen, nicht wahr?« bat sie.

»Nein, dazu ist es heute wirklich zu spät, liebes Kind,« antwortete er, zog ihren Arm durch den seinen und sagte schmunzelnd: »Wir wollen in unser Zimmer gehen.«

Es war das Zimmer, das Frau von Zehren Ilse geschildert hatte. Nußbaum mit hellbraunem Rips. Über den Gardinen waren Lambrequins aus Straminstickerei angebracht, lila Stiefmütterchen zwischen rehfarben abschattierten gotischen Ornamenten; ebensolche Streifen zierten die Polstermöbel und waren alle Werke von Frau von Zehrens rührigen Händen. Auf der braun und goldenen Tapete hingen Daguerreotypen und Photographien von vielen Zehrens und Saßmackens, die, gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die ganze bräutliche Einrichtung neu gekauft worden war, selbst auch jung und frisch gewesen sein mochten. Zwischen ihren verblaßten Gesichtern prangten verschiedene eingerahmte Bibelsprüche.

An einer Wand aber standen ernst und feierlich die beiden in Nußbaum geschnitzten Betten dicht nebeneinander, gemischte Vorstellungen von Altar und Schlachtbank erweckend. Auf dem schneeweißen Kopfkissen des einen Bettes lag, weithin sichtbar, ein Buch.

»Was ist denn das?« wandte sich Herr von Zehren, darauf weisend, an das derbe rothändige Stubenmädchen, das eben die Vorhänge an den Fenstern zusammenzog.

»Die gnädige Frau Mutter hat vor ihrer Abreise das Buch auf das Bett der jungen gnädigen Frau gelegt,« antwortete das Mädchen und stapfte mit einem mühsam unterdrückten Grinsen auf dem breiten Gesicht aus dem Zimmer.

Ilse nahm das Buch und schlug es auf. Theophil schaute neugierig über ihre Schulter hinein, und zusammen lasen sie:

F. A. Ammon.

Mutterpflichten.

Darunter stand in Frau von Zehrens steiler Handschrift:

»Meiner Schwiegertochter zu Beherzigung.«

»Ja, ja,« sagte Theophil, »Mama ist wie das Landrecht, sie denkt vor allem an den Zweck der Ehe – na, und weißt du, kleines Ilseken, der ist eben für einen Majoratsherrn auch wirklich verflixt wichtig.«

Ilse lernte zwei ganz verschiedene Inkarnationen desselben Theophil kennen. Da war der Theophil der Tage, gemessen und würdevoll; in Geste und Tonfall an Kanzel- und vaterländische Vereinsredner mahnend, deren Sätze auf Amen oder Hurra auszuklingen pflegen. Lehrreich und herablassend nannte der sie: »Liebes Kind.« – Und daneben gab es einen ganz anderen Theophil, jenen, der, wie manche Kakteen- und Violensorten, nur mit einbrechender Dunkelheit sein wahres Wesen offenbarte. Sobald die ihm Halt verleihende Tagesgewandung von ihm abglitt, gingen seine ungelenken Glieder wie ausgerenkt auseinander, und mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse und den abschüssigen Schultern glich er dann in seiner Dalbrigkeit einer verliebten Giraffe. Mit heißem Atem in ihr Ohr flüsternd, nannte sie dieser Theophil: »Mein Lutschbonbonchen!«

Ja, immer genauer lernte sie die beiden so verschiedenen Inkarnationen kennen! Lernte auch beobachten, daß, je ungemessener der eine Theophil sich seinen Gefühlsäußerungen hingegeben hatte, der andere um so feierlicher des nächsten Tages war. Als schäme er sich nachträglich dessen, was er einige Stunden vorher doch Liebe genannt. Als fürchte er, sich durch dies Gefühl zu sehr an Ilse zu verlieren und etwas von der Autorität einzubüßen, die ihm als Mann und Zehren zustand, wie um das Gleichgewicht wieder herzustellen, sprach er dann besonders viel über Pflicht. Von den Pflichten der Regierung zur Erhaltung des so notwendigen Standes der Großgrundbesitzer, von den Pflichten des Geistlichen gegenüber dem Kirchenpatron, von den Pflichten all seiner eigenen Angestellten hatte er ja stets gern geredet; jetzt aber, wo er sich für »eine junge ungefestigte Frau verantwortlich fühlte«, sprach er am allermeisten über »die Pflichten des Weibes«. – Er wußte deren eine ganze Liste, und sie bedeuteten eigentlich nichts Geringeres, als ein völliges Aufgeben jeglicher eigenen Persönlichkeit. Die Selbstauflösung als höchste sittliche Forderung. Das Besessenwerden des einen Menschen durch den anderen, der passive Daseinszweck, dem sich Ausleben dieses anderen zu dienen. – Geschmack, Ansichten, Stimmungen, Sehnsuchten der Frau waren in der Zehrenschen Weltordnung wertlose Faktoren. Die Aufgabe des Weibes bestand darin, möglichst rasch und auf allen Gebieten zur gänzlichen Unterordnung und Anschmiegung an den lebenslänglichen Herrn, den Mann, zu gelangen. – Mit weihevollem Augenaufschlag nannte Theophil dies alles zusammenfassend »das Aufgehen in den Interessen des Mannes«. – Als Gegenleistung stellte er Ilse den etwas vagen Begriff in Aussicht, »sie in Ehren halten zu wollen«, wie es einem deutschen Edelmann gezieme und schon Tacitus an den alten Germanen rühme.

Es war kein leichter Kursus, den die kleine Ilse bei diesem Lehrmeister durchmachte!

Und doch sagte sie sich, daß alles, was die Tage brachten, vielleicht zu ertragen gewesen wäre. Aber sie lernte ja auch den Ekel vor sich selbst kennen und die brennende Sehnsucht, irgendeinen Winkel auf Erden zu besitzen, wo man sich gegen jedermann einschließen und wieder »ich« sein darf. Das späte Einschlafen bei verhaltenem Schluchzen kannte sie, den immer wiederkehrenden Traum, daß es ja alles gar nicht wahr sei, und dann das Entsetzen beim Erwachen, es doch alles wahr zu finden.

»Nur noch Pflichten« hatte sich die kleine Ilse einst gewünscht, nach jener ersten Lebensenttäuschung, die ihrer ahnungslosen Jugend beschert worden – wenige Monde nur war das her, heut aber dünkte sie ihr ganzes damaliges Empfinden in graue Fernen gerückt, heut, wo sie erfahren, daß es Dinge gibt, die, sobald sie Pflicht scheinen, Erniedrigung bedeuten. – Sie sagte sich dies alles aber nicht gleich so deutlich, denn während dieser ersten Zeit ging sie wie verstört umher in dem neuen fremden Leben, erst allmählich dämmerte es in ihr auf, daß sie grausam betrogen worden war. »Hätt ich das alles gewußt, ich würde nie ja gesagt haben,« dachte sie und erschrak, daß sie es dachte. Denn ach, wie sollte sie es nur anfangen, dies Leben zu ertragen, das eigene Unwissenheit und Irrtum anderer in falsche Bahnen gelenkt und das so unabsehbar lang vor ihr zu liegen schien?

Die verregneten chinesischen Laternen, die Festgirlanden mit den säuerlich riechenden rosettenartigen Georginen waren abgenommen worden. Mamsell hatte ein großes Reinmachen veranstaltet; in Holzpantinen wateten dabei die Mädchen durch das Seifenwasser, das sich über die Steinfliesen des Flures ergoß; mit Waschen und Wischen, Schütteln und Klopfen wurde der Dämon Staub vertrieben. – Und dann war die gnädige Frau Mutter zurückgekehrt. Theophil hatte sie von Sandhagen abgeholt. Nun war der Platz am oberen Ende des Eßtisches wieder besetzt. Und nicht er nur. Frau von Zehren füllte das ganze Haus. Sie füllte es mit ihrer Stimme und mit ihrer rastlosen Emsigkeit. In die verborgensten Winkel drangen ihre kleinen tückischen Augen, und vom eigenen Sohn bis zur letzten Magd im Schweinestall prüfte ein Jeder, ob nicht geheime Schuld sein Gewissen drücke.

Ilse mußte der Schwiegermutter überall folgen, treppauf, treppab, vom Boden bis zum Keller, durch die Wirtschaftsräume, Vorratskammern, Waschküche und Ställe. Für den nahenden Winter gab es da so viel vorzubereiten, als ginge man einer Belagerung entgegen, lauter Dinge, von denen Ilse im kleinen städtischen Haushalt Greinchens nichts geahnt hatte. »Ahnungslos« war ja überhaupt das Wort, das Frau von Zehren in ihrem Innern oft wiederholte, als endgültiges Urteil über die kleine zierliche Schwiegertochter, mit den großen erschrockenen Augen. Sie gab sich auch nicht viel Mühe, Ilse zu unterweisen, denn es war so viel leichter, die Dinge, wie seit Jahren, mit Mamsell selbst weiter zu besorgen. Aber dabeistehen sollte Ilse, darin lag ein für ungefestigte Jugend heilsamer Zwang; sie sollte nicht etwa persönlicher Anlage folgend, eine eigene unabhängige Tätigkeit suchen, denn das wäre der gestrengen Frau von Zehren als Zeitvergeudung erschienen, als Mißachtung des geheiligten Begriffes »in den Interessen des Mannes aufzugehen«.

So schaute denn Ilse zu, wie Mamsell im Obstkeller Birnen und Äpfel auf langen Borden ausbreitete und aus den Mottenkisten Winterdecken hervorholte, die weithin einen tränentreibenden Duft von Naphthalin, Pfeffer und Tabak verbreiteten. Eine unheimliche Handlung des häuslichen Kultes, der Ilse mit fasziniertem Interesse folgte, war auch das Zerhacken der großen Zuckerhüte in unregelmäßige Stücke; sie zitterte bei jedem Schlag um Mamsells Finger, und das Knirschen des Zuckers gemahnte sie an Eis, aus dem sich Nordpolfahrer Hütten bauen. Aber das Schlimmste dünkten Ilse doch die Schlachttage – da hob sich ihr das Herz, wie damals in der Geschichtsstunde, wo die Menschenopfer der Azteken geschildert wurden, ein dunkler Strudel tat sich vor ihr auf, der sie unentrinnbar hinabzog – sie konnte einfach nicht dabeibleiben.

Und das also waren die großen Pflichten? Sie sollten das Leben füllen? sie und die Schrecken dunkler Stunden?

Ob die Männer vielleicht höhere, ernstere Aufgaben besaßen? Sie hatten doch alle soviel von »der Familie« gesprochen, in dem bloßen Wort schon hatte Ruhmesklang gelegen. Und Ilse suchte mehr von der Familie zu erfahren.

Treueste Hüterinnen dieses Wissens vom Zehrentum, seinen Anfängen, Kämpfen und Zielen, waren anerkanntermaßen die beiden alten Tanten, Askania und Lidwine, die, wenn sie nicht im Stift zum heiligen Dornenkranze weilten, in einem kleinen Häuschen am Ende des Weltsödener Gartens ihr stilles Dasein führten. Es war dies eigentlich Wittumhaus, aber Frau von Zehren hatte es den Schwägerinnen überlassen, da sie ja bei dem Sohn im Haupthaus wohnte. Die beiden verhutzelten Fräulein, mit den flachen Busen und schwarzen Kleidern, pflegten von den toten Zehren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wie von jüngst verstorbenen Verwandten zu reden, über deren Verlust es schwer hält hinweg zu kommen. Herren, die, in Allongeperücke, friderizianischem Haarbeutel oder prall anliegenden Uniformen der Freiheitskriege, aus wurmstichigen Rahmen von den Wänden herabblickten, wurden Ilse als der teure Gisbert, der unvergeßliche Job, der früh abberufene Kuno genannt. Das Interesse, das die hübsche junge Nichte für all die alten grauen Histörchen über diese Längstentschwundenen zeigte, schmeichelte den beiden Stiftsdämchen. Aber wie sehr Ilse auch fragte und lauschte, besonders Hervorragendes und Begeisterndes konnte sie nicht entdecken. Die Familie war eine sehr alte, aber sie war stets in ereignisloser Mittelmäßigkeit stecken geblieben. Mittlere Zivil- und mittlere Militärämter hatten die Zehren gelegentlich bekleidet und dazu mittelgroße Güter besessen. Eine gewisse Größe lag nur darin, daß sie dies seit so vielen Jahrhunderten getan hatten. Mit der gleichen Konsequenz hatten sie auch, soweit es in dieser nicht reichen Gegend möglich gewesen, seit altersher stets getrachtet, wohlhabende Mädchen zu heiraten – aber auch darin waren sie über ein gewisses unauffälliges Mittelmaß, das Neigung als Motiv immer noch glaubhaft erscheinen ließ, nie hinausgekommen. Es war sogar ein charakteristischer Zug des Zehrentums, im Biedermannston von der Liebe zu reden, auf der sich alle Zehrenschen Ehen aufbauten – man glaubte es ihnen schließlich beinahe, daß sie ideal und uneigennützig angelegte Edelnaturen seien, und es war sicher nur eine Folge des besonderen, auf ihnen ruhenden Segens, daß ihre Gefühle sich nie finanziell Unwürdigen zuwandten.

Auf dem Gottesacker, rings um die Weltsödener Dorfkirche, lagen alle seit dem dreißigjährigen Kriege gestorbenen Zehren begraben, und noch ältere Leichensteine, die nach jener allgemeinen Verwüstung wieder aufgefunden worden, waren da nachträglich aufgestellt. – Nach dem Gottesdienst, bei dem allsonntäglich der himmlische Segen auf »den Patron dieser Kirche und sein ganzes Haus« herabgefleht wurde, wobei die Gemeinde verstohlen zum Zehrenschen wappengeschmückten Gestühl blickte, und Theophil sich darin würdevoll und doch demütig in ganzer Länge aufrichtete, – nach solcher Erbauung blieben die Tanten Askania und Lidwine gern an den Gräbern stehen und erklärten Ilse die verwitterten alten Inschriften, während die herbstlichen Birken- und Ebereschenblätter auf sie niederrieselten. – Da lag Gudulla Borgwedde, die mit Claus Caspar verheiratet gewesen – deren Geld hatte zum Wiederaufbau des Weltsödener Herrenhauses beigetragen; Radegunde Ramschwagin, Hans Ellarts Frau und Erbtochter auf Vorwerk Todtenbehr, das sie in die Familie gebracht; Hetelwine Eptingen, Tam Segewins Ehegemahl, mit deren Mitgift Dürrenheide urbar gemacht worden war. Und so ging es weiter – eine lange Reihe von Frauen, deren Geld in den hungrigen, sandigen Boden gesteckt worden war, ohne ihn fett machen zu können, und die nun längst selbst in ihm schliefen. Jede von ihnen hatte, zu ihrer Stunde, der Bereicherung und Fortpflanzung der Familie Zehren gedient und war von ihr aufgesogen worden, ohne doch ihre magere Mittelmäßigkeit zu wandeln.

Und im Rieseln der herbstlichen Blätter sann Ilse nach über all diese toten stillen Frauen, sann nach, wie wohl ihr Leben gewesen, und ob auch sie morgens die Angst vor dem Tage, abends die Furcht vor der Nacht gekannt?

Eine Ecke des Kirchhofs war für diejenigen Zehren freigehalten, die künftighin noch sterben würden. Askania und Lidwine hatten sich hier längst schon ihre beiden Plätzchen ausgesucht und sprachen mit solchem Gleichmut von der Zeit, wo sie, in den blank getragenen Schwarzseidenen, da liegen und auf die Auferstehung warten würden, als handle es sich um eine Reise, für die sie im Eisenbahnkupee gute Eckplätze belegt hätten. – Ilse aber erschauerte angstvoll im rauhen Herbstwind bei dem Gedanken, auch einst hier auf dem Kirchhof zu liegen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß ein mit dem Zehrenschen und ihrem eigenen Wappen geschmückter Grabstein auf ihr lasten würde, und künftige Kirchhofsbesucher sich über die Inschrift beugen und dann sagen würden: »Ilse, des Theophil Frau – ach ja, mit deren mütterlichem Erbteil ist damals wüste Teufelstrift angeschont worden.« – Aber es war nicht so sehr der Begriff des Totseins, gegen den sich ihr junges Leben sträubte, als die Vorstellung, mit diesen Menschen, denen sie sich so wesensfremd fühlte, für alle Zeiten vereint schlummern zu müssen.

Unter dem neuesten der Grabsteine ruhte Gotthold, Theophils älterer Bruder, durch dessen Tod diesem Weltsöden zugefallen war. Er hatte eine Witwe mit neun Töchtern hinterlassen. Im Alter von zweiundzwanzig bis herab zu sechs Jahren standen die Nichten, denn mit einem ans Heroische grenzenden Eigensinn hatte die jetzt verwitwete Schwägerin, Mechtildis, sich immer neuem Versuche hingegeben, ob nicht doch noch der ersehnte Sohn und Erbe ihr entsprießen würde. – Aber statt seiner war Tochter auf Tochter gefolgt, und nun, nach ihres Mannes Tode, wohnte sie mit ihnen allen, kümmerlich und verbittert, in einem früheren Pächterhaus, das sie von Theophil mietete. Es waren dies die Mädchen, die Ilse zuerst als Brautjungfern bei ihrer Hochzeit gesehen, groß und eckig, mit allzu hohen Stirnen unter straff zurückgekämmtem weißblonden Haar, alle neun litten sie leicht an geröteten Augen oder entzündeten Ohren und Lippen, stießen beim Sprechen mit der Zunge gegen die Zähne und schienen um Mund und Nase stets leicht geschwollen zu sein. Aber sie trugen ihre Häßlichkeit wie eine Schickung Gottes, gegen die anzukämpfen frevelhafte Auflehnung sein würde.

Aus diesem Hause wehte Ilse eine besonders kühle Luft entgegen. Den Augen der bei der ständigen Pflege ihrer Töchter bitter grübelnden Mechtildis erschien die junge Schwägerin als die sie verdrängende Siegerin, die nun sicher den Erben gebären würde, der ihr selbst versagt geblieben. Bei jedem Besuch musterte sie sie verstohlen und erkundigte sich mit krankhaft regem Interesse nach Ilses Gesundheit; es zog die blutleere, ausgemergelte Frau immer wieder hin zu der Nachfolgerin auf Weltsöden, und ob sie gleich nicht wollte, konnte sie es doch nicht lassen, stets von neuem in all diesen verschleierten Fragen zu spüren. Sie hätte es nie zugegeben, und es konnte ihr selbst ja auch nichts mehr nützen oder schaden – aber in den tiefsten Gründen ihres Wesens erblickte sie in jedem schwindenden Tag, der das Kommen eines Zehrenschen Erben nicht näher brachte, eine Genugtuung für sich, die töchterreiche Frau.

Und da waren noch andere Augen, die lauernd zu Ilse hinblinzelten und in unbewachten Augenblicken feindlich auf ihr ruhten. Fräulein von St. Pierre, die Hofdame bei einer kleinen Fürstlichkeit und Cousine von Mechtildis war, verbrachte bei dieser häufig ihre Urlaubszeiten. Theophil, der eckig magere, hatte sich früher von diesem reifen Mädchen mit der glatten weißen Haut und den behaglichen Rundungen jahrelang verschwiegen anschwärmen lassen. Es war ihm das ein wohlig umschmeichelndes Gefühl gewesen, etwa wie das Bewußtsein, daß irgendwo ein weicher Lehnsessel stände, stets bereit, ihn mit geöffneten Armen zu umfangen. Aber er ließ sich nicht umfangen – höchstens, daß es mal zu einem verstohlenen Händedruck gekommen – im Gegenteil betonte Theophil damals, daß er als jüngerer Sohn an Heiraten gar nicht denken könne. Als ihm dann aber durch des Bruders Tod Weltsöden zugefallen war, hatte Fräulein von St. Pierre bestimmt gehofft, daß die magere Hand, die sich bisher nur im verborgenen von ihren eigenen wohlgepflegten Fingern hatte streicheln lassen, nunmehr offen nach ihr greifen würde, um sie aus allen bitteren Abhängigkeiten des Hoflebens hinaus in die süße Geborgenheit einer standesgemäßen Ehe zu führen. – Aber es widersprach allen Zehrenschen Grundsätzen, ein armes Mädchen zu heiraten, und Theophil verstand es, sein Herz zu stählen und Grundsätzen wenigstens treu zu bleiben. – Fräulein von St. Pierre war zwar gleich nach des seligen Gotthold Tod zu der trauernden Mechtildis geeilt, doch Theophil vermied alle Gelegenheiten, in den verschwiegenen Alleen des Parks, oder an dem von trautem Zusammenleben summenden Teekessel, mit der appetitlich molligen Hofdame allein zu sein. Mit weihevollem Augenaufschlag und dem abgeklärten Lächeln der Entsagenden sprach er von der nicht näher definierten »Pflicht« als einzigen Richtschnur im Leben eines Majoratsherrn. – Bei seiner bald darauf erfolgenden Vermählung richtete sich Fräulein von St. Pierres Enttäuschung dann auch nicht gegen Theophil, in dem sie ein Opfer sah, sondern gegen die ahnungslose Ilse, die ihr als kokette Herzensräuberin erschien. Denn Fräulein von St. Pierre dachte in Quadersteinen; es gab kein Rütteln, das ihre einmal gefaßten Anschauungen verschoben hätte; sie lebte in einer Welt unumstößlicher Begriffe, wie es ihr als einer Hofdame wohlanständig erschien: Man war Herr oder Dame, hoffähig geboren oder nicht, gut oder böse. Ilse ward ungesehen und ungehört den Bösen zugezählt, und Fräulein von St. Pierre widmete ihr jenen gefährlichen Haß, dessen geistig Unbemittelte fähig sind.

Ilse empfand, dunkel und ohne sich noch die Gründe recht zu erklären, das Feindliche, das sie umgab. Zuweilen, wenn sie zwischen ihrer Schwiegermutter, Mechtildis und Fräulein von St. Pierre saß, war ihr, als sei die Luft mit lauter spitzen Glassplittern erfüllt, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Dann überkam sie ein Gefühl des Frostes und der Armut, daß sie hätte betteln mögen – aber um was, wußte sie selbst nicht recht – vielleicht um jenes kostbarste aller Geschenke, ein bißchen Zärtlichkeit.

Die gab ihr niemand. Theophil am allerwenigsten. Er kannte nie fremde Sehnsucht, nur immer eigenes Verlangen. – Ilse erinnerte sich später, daß sie in jener ersten Zeit, wo sie sich oft wie gestrandet vorgekommen, bei einbrechender Dämmerung einmal allein in ihrem Zimmer gesessen hatte, das Herz schwer von innerer Verlassenheit. Da war Theophil eingetreten, und unwillkürlich und unüberlegt hatte sie ihm die Hand hingehalten. Sie empfand ja solch ein Bedürfnis nach leisen freundlichen Worten, nach etwas Musik des Herzens! – Aber statt dessen war es dann alles so garstig gewesen! – Gab es denn wirklich zwischen Mann und Frau immer nur diese eine Tonart? Durfte das sein, daß ein Mensch den anderen zu einer willenlosen, ihm gehörenden Sache erniedrige?

Er aber, der vor der herrischen Mutter in lebenslänglicher schwächlicher Nachgiebigkeit verharrte, fand einen seltsamen Reiz darin, sich selbst immer wieder zu beweisen, daß er dieses scheuen, zag zurückschreckenden Wesens Gebieter sei.

So glitten die Tage dahin und reihten sich aneinander zu Wochen und Monden.

In wüste Teufelstrift wurde fleißig gearbeitet. Vom Morgengrauen an war Förster Treumann mit seinen Leuten draußen, wenn sie in der Frühe kamen, lagerte der dichte Nachtnebel noch bläulich kalt und alles verbergend über der Erde; die Arbeiter tappten hinein und verschwanden schon nach ein paar Schritten in dem wehenden Grau, wie Schiffe auf nebliger See. Trieb aber ein Lufthauch den Dunst auseinander, daß der Boden für einen Augenblick dazwischen sichtbar wurde, so erhöhte dies noch den Eindruck unheimlicher Meerfahrt, denn langhin rollenden Wogen gleich schien dann die gelbbraune Sandfläche sich bis in weite Fernen zu ziehen.

Nach Tische pflegte Theophil seine Mutter und Ilse im kleinen Jagdwagen hinauszufahren. Dann stand man draußen eine Weile herum, und immer wieder wurden dieselben Dinge mit dem Förster besprochen. Boden siebenter Klasse war stellenweise Wüste Teufelstrift! Da mußten die schlimmsten Partien erst mal mit Besenpfriem angepflanzt werden, und wo der Sand gar zu sehr verwehte, wurden Spriegelzäune gebaut, ihn zu halten. – Bessere Teile bepflanzte man gleich mit zweijährigen Bankskiefern. Zwei Männer mit der Kulturleine schritten voraus, steckten sie mit Pflöcken an beiden Enden fest und bezeichneten dann die Stellen, wo die jungen Pflänzchen, anderthalb Meter auseinander, hinkommen sollten. – Ihnen folgten zwei Reihen Frauen; die ersten gruben mit Spaten die Löcher, die zweiten pflanzten die Bäumchen schnell ein, daß die geöffnete Erde nicht noch mehr austrockne. – Auf einer anderen weiten Strecke dagegen wurden jetzt nur die Löcher gegraben, daß sich während des Winters der Schnee darin sammle, und im Frühjahr gepflanzt werden könne. – Eine dritte Schonung endlich ließ Theophil mit besonderer Sorgfalt anlegen. Dort wurde gute Erde in Wagen angefahren und dann mit Karren in Haufen zwischen die Reihen geschüttet, und in jedes aufgegrabene Loch taten die Frauen etwas von der schönen dunklen Erde um die Wurzeln des Bäumchens, das sie pflanzten. – Das war das teuerste Verfahren, aber dank Ilses mütterlichem Erbteil konnte man sich solchen Versuch wohl mal leisten.

So wurde auf Wüste Teufelstrift mit den Bäumchen experimentiert, und es gab auch da solche, denen von Anfang an, ohne ihr Verdienst und Zutun, günstigere Lebensbedingungen geboten wurden als anderen.

»Werden das denn wirklich jemals schöne große Bäume werden?« fragte Ilse, auf die kümmerlichen Pflänzchen weisend, den Förster.

Der zuckte die Achseln. »Die Bäumchen an sich sind nicht schlecht, gnädige Frau,« antwortete er, »aber auf solchem Boden ist auch von der anspruchslosesten Pflanze nicht viel zu erwarten. Nach sechs Jahren können diese hier ungefähr einen Meter hoch sein, falls wir bis dahin nicht zu arge Dürre haben, und sie nicht die Schütte kriegen.«

»Nun und dann später?«

»Ja, – nach zwanzig Jahren muß man sie abtreiben, aber in der Zwischenzeit haben sie doch vielleicht den Boden etwas gebessert, durch ihren Schatten, die angesammelte Feuchtigkeit und den Nadelabfall.«

Zwanzig lange Jahre hier im Sande stehen, nur um den Boden zu verbessern für die, so nachher kommen würden! Der achtzehnjährigen Ilse klang das endlos lang. Sie fröstelte im matten Schein der sinkenden herbstlichen Sonne. – War das wirklich des Lebens ganzer Zweck und Inhalt? ein Jeder immer nur Vorbereitung für einen Künftigen? – Gab es nichts Höheres, wie nur geduldig still halten an dem Platze, den Zufall oder eigene Blindheit bestimmt? – Pflichten waren ihr früher, halb unbewußt, stets als schwer zu vollbringende, heroische Taten erschienen, und nun dämmerte es vor ihr auf, daß, in der Jugend, schwerer als alles Tun, das tatenlose Verzichten ist.

Eines Nachmittags, als Theophil seine Mutter und Ilse wieder einmal nach Wüste Teufelstrift kutschiert hatte, trafen sie dort des Försters junge Frau.

»Schau mal an,« sagte Frau von Zehren, »die Anne Dore hat es ohne ihren Mann nicht aushalten können und ist ihm nachgelaufen.«

»Ja – es gibt auch solche Frauen,« murmelte Theophil.

Die Anne Dore war rot und verlegen geworden, und Treumann entschuldigte ihre Anwesenheit.

»Nun, wenn sie Sie nur nicht von der Arbeit abzieht …«, meinte Theophil herablassend.

Während er dann mit seiner Mutter und dem Förster den Fortschritt der Arbeiten besichtigte, blieben die beiden jungen Frauen zurück.

»Mein Mann ist jetzt schon von früh ab hier draußen,« sagte Anne Dore, »da wollt ich doch mal nach ihm schauen – die gnädige Frau werden das sicher begreifen.«

»Sind sie wirklich so gern mit ihm zusammen?« fragte Ilse.

»Na, das will ich meinen!« antwortete Anne Dore lachend, »den ganzen Tag und – die ganze Nacht!« Und dann setzte sie hinzu: »Dazu heiratet man doch!«

Ilse sah sich um, ob niemand sie hören könne, und ohne die junge Försterfrau anzublicken, fragte sie dann eilig und leise: »Wußten sie denn … was das eigentlich heißt … sich zu verheiraten?«

»Na gewiß doch,« antwortete die andere, »und es war oft schwer genug zu warten während unserer langen Brautzeit – bis er die Stelle hatte, auf die hin wir heiraten konnten – na, aber jetzt! —«

Aber Anne Dore lief ihrem Mann den langen Weg bis Wüste Teufelstrift nicht mehr häufig nach, sie sah blaß und müde aus. Einen Sonntag nach dem Gottesdienst rief Frau von Zehren sie beim Verlassen der Kirche zu sich und stellte eine Art Verhör mit ihr an, während Treumann abseits stehen blieb und halb stolz, halb schuldbewußt den Jägerhut zwischen den Fingern drehte. Nachdem sie dann Anne Dore mit gnädigem Kopfnicken entlassen halte, trat Frau von Zehren wieder zu Theophil und Ilse, die am verschneiten Grabe des töchterreichen Gotthold auf sie gewartet hatten. »Bei Anne Dore ist‘s soweit,« sagte sie unsanft zu Ilse gewandt, »die kriegt ein Kind – hat zur selben Zeit geheiratet wie ihr – ja, so eine Frau kann das – na, ich hoffe bestimmt, du machst es ihr bald nach.«

Aber trotz dieses Wunsches, der wie ein Befehl des Zehrenschen Familiengeistes klang, ergab sich für Ilse keine Veranlassung, die in F. A. Ammons Werk erhaltenen Ratschläge anzuwenden. – Und es begann allmählich eine erbitterte Stimmung in Weltsöden zu herrschen. Die rund herum auf ihren Gütern sitzenden Vettern fingen an Theophil leise zu necken, wenn sie ihm bei Jagden, Kreistagen oder Familienvereinigungen begegneten: »Na, heiliger Theophil, was Neues zu Haus?« – Theophil kehrte dann mit dem Ausdruck beleidigter Würde heim; bisweilen hüllte er sich in langes mürrisches Schweigen, oder er gab Ilse zu verstehen, daß sie sein Ansehen in der Familie mindere. Bei seiner Mutter beschwerte er sich, als würde ihm vorenthalten, worauf er ein gutes Recht habe.

Frau von Zehren aber konnte und wollte es nicht glauben, daß auch in der Ehe dieses ihres zweiten Sohnes der heiß ersehnte Erbe ausbleiben könne. Damit wäre ja die älteste Linie der Familie ausgestorben und Weltsöden, dem sie die Kräfte ihres ganzen Lebens geweiht hatte, würde übergehen auf den Kummerfelder Zweig! So etwas konnte der liebe Gott doch nicht zugeben? – Vor allem aber würde sie selbst es nicht zugeben, man konnte dem lieben Gott nicht alles überlassen, was auch Pastor Rockstroh darüber sagen mochte, es mußte Ihm manchmal helfend beigesprungen werden – dazu gab es ja Ärzte auf der Welt.

So wurde der alte Arzt aus der Kreisstadt, der seit vielen Jahren die jungen und alten Zehren behandelte, nach Weltsöden berufen.

An der ganzen Person des alten Dr. Liebetrau war der auffallendste Teil sicher seine Nase. Vom feurigen Rosenrot bis zum tiefsten Violett erglühend, thronte sie in seinem Gesicht wie eine Herrscherin, umgeben von einem Hofstaat seltsamer kleiner Protuberanzen; zwei Wäldchen schwarzer Borsten erstreckten sich aus den breiten Nasenlöchern bis herab zu den finsteren Forsten des Schnurrbarts. Mit Schnupftabak, den er in einer mit dem Schattenriß Nettelbecks gezierten Horndose stets bei sich führte, bediente Dr. Liebetrau diese Nase, wie eine Weihrauch heischende Gottheit, und er schneuzte sie in rote Foulard-Taschentücher, auf deren türkischen Mustern die Spuren des Tabaks wenig sichtbar waren.

Zitternd erwartete Ilse den Doktor. – Wie sehr sehnte sie sich doch nach der Zeit zurück, da sie von Papa und Greinchen so wohl gehütet worden war, daß sie nichts von des Lebens Wirklichkeiten geahnt hatte! Und welch bitteres, dem Haß ach so verwandtes Gefühl, stieg doch bisweilen in ihrer geheimsten Seele gegen den auf, der ihr Traumdasein zerstört und an seine Stelle nur Grauen und Widerwillen gesetzt. Die ganze Welt erschien ihr heute angefüllt mit schauerlichen physischen Dingen. Tierische Triebe lagen als Ursprung hinter allem Lebenden; die ganze Schönheit der Welt, an der sie sich einst kindlich gefreut, war Trug und Blendwerk, sie entstieg ja eklen Tiefen. Manchmal wurde die arme kleine Ilse von solchen Bildern verfolgt wie von Dämonen, daß sie vor sich selbst schauderte. Wo waren all die zarten schönen Gebilde, die ganze große Sehnsucht ihrer Mädchentage hin verweht? – Dann zog sie sich voll Scham und krankhafter Überempfindsamkeit in sich selbst zurück, beneidete die Schnecken um ihr Gehäuse, in das sie sich allzeit verkriechen können und schuf sich ein Ideal einsamer Askese. Als Wehr gegen all das, was sie als Erniedrigung empfand, träumte sie von Nonnentum, von Welten ätherisch geschlechtsloser Wesen – und vernahm doch schon in dem verborgensten Innern ihres Wesens eine Stimme, die leise flüsterte: Du willst verneinen, was du ja noch gar nicht kennst.