Kitabı oku: «Ille mihi», sayfa 4
Und nun sollte dieser Arzt kommen und würde an all das rühren, was sie so gern vergessen wollte.
Aber Dr. Liebetrau erwies sich als gar nicht erschreckend. Mit den kleinen klugen Äuglein, die wie vergessen zu beiden Zeiten der heroischen Nase lagen, schaute er Ilse gutmütig an. »Also man kann es nicht erwarten, daß wir ein eigenes Wickelkind haben?« sagte er, »sind ja selbst beinahe noch eins!«
Und als er nachher von Frau von Zehren eifrig nach etwa notwendigen Kuren oder Operationen ausgeforscht wurde, antwortete er: »Tun Sie vorläufig gar nichts. Lassen Sie das junge Frauchen erst mal heranwachsen und zu Kräften kommen. Es ist ein zartes Pflänzchen. Und wozu auch die Ungeduld? Warten Sie‘s doch ruhig ab – Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
»Aber bester Liebetrau,« entgegnete Frau von Zehren, »ich hab doch mein Lebtag noch nicht gehört, daß zu so was viele Tage nötig seien, und Sie reden heut ganz anders wie neulich, wo ich entdeckte, daß die Küchendörte ein uneheliches Balg erwartet – da meinten Sie, ich solle ihr verzeihen, denn so ein Unglück sei doch nun mal gar so rasch geschehen.«
Um aber Frau von Zehren die Beruhigung zu gewähren, daß doch etwas geschähe, um das Kommen des künftigen Erben zu beschleunigen, verordnete Dr. Liebetrau viel Ruhe und gute Ernährung und verschrieb Eisen und Arsenikpillen. Während er dann den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose aufklappte und seiner Nase das Tabaksopfer darbrachte, sagte er: »Ich halte es übrigens wirklich für ein Unglück, so sehr jung ein Kind zu bekommen.«
»Aber bester Liebetrau,« rief Frau von Zehren, »es gibt doch viele Frauen, die nicht älter sind wie meine Schwiegertochter und die doch gesunde Kinder kriegen!«
»Ich dachte nicht nur an die physische Seite,« antwortete der alte Arzt, »aber vom Gefühlskonto geht solcher allzu jungen Mutter leicht das Beste verloren, denn sehen Sie, wo keine Zeit zu wahrer Sehnsucht gewesen ist, da kann nachher auch nicht die rechte Freude sein.«
»Aber ich würde mich doch freuen,« meinte Theophil würdevoll.
Einstweilen freute sich nur die Schwägerin Mechtildis. Über ihre bleichsüchtigen, verhärmten Züge huschte jetzt bisweilen der Schatten eines triumphierenden Lächelns. Sie fragte und forschte nach alledem mit der spürenden Neugier der ausgemergelten Frau, die ihr Leben zwischen Schwangerschaften und Niederkünften verbracht; auch ihre Mägde mußten sich bei denen des Herrenhauses stets von neuem erkundigen, und sie wußten bald, daß sie einem sonst verdienten Tadel leicht entgingen, wenn es ihnen nur gelang, rechtzeitig hinzuwerfen: »Na, bei der jungen Gnädigen drüben ist‘s noch immer nichts.«
»Wie sehr begreife ich deinen Kummer, liebste Mama!« sagte Mechtildis mit süßsauren Lippen zu Frau von Zehren, als diese sie eines Nachmittags zum Kaffee besuchte. »Bei mir konnten wir doch bis zuletzt hoffen – neunmal im ganzen – und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn mir der Himmel meinen teuren Gotthold nicht so frühzeitig entrissen hätte – aber hier, wo so gar nichts ist …«
Mechtildis hatte gerade ihrer Tochter Adelgunde, die mal wieder an geschwollenen Drüsen litt, ein mit Salbe beschmiertes Läppchen hinter das Ohr gelegt und schickte sich nun an, ihrer Tochter Hugoline Tropfen in die entzündeten Augen zu träufeln. Sie kam aus solchen Verrichtungen nie heraus bei den vielen stets an irgend etwas kränkelnden Mädchen.
»Ja, Mechtild,« antwortete Frau von Zehren und schaute den häßlichen Enkelinnen nach, die das Zimmer nach vollendeter Operation verließen, »ja, neunmal war es – aber wenn man‘s heut bedenkt, wär das alles doch besser nicht gewesen – denn was soll aus den vielen armen Mädels werden?«
Doch da fuhr die sanfte, farblose Mechtildis auf, als ob in ein blasses, abgebrühtes Suppenhuhn plötzlich Leben wiederkehre, und sie sagte mit erregter Stimme und brennenden Flecken auf den Wangen: »Nun, meine Töchter sind alle im adligen Stift vorgemerkt und können da eintreten – sollte Ilse dagegen Töchter kriegen, so beständen die die Ahnenprobe freilich nicht.«
»Du meinst wohl wegen ihrer Mutter?« fragte aufschauend Fräulein von St. Pierre, die sich gerade auf Urlaub vom Hofdienst bei Mechtildis aufhielt, »wie war doch gleich die Geschichte?«
Fräulein von St. Pierre kannte die Geschichte aufs genaueste, aber es freute sie, immer von neuem etwas zu hören, was Ilse in ihren Augen irgendwie herabsetzte, und Mechtild tat ihr den Gefallen. Eifrig wiederholte sie: »Nun ja, Ilses Mutter war doch nur die Tochter der Sängerin Ingeborg Thor Hacken, die mit dem Herzog Bernhard von Mömpelgarde morganatisch verheiratet gewesen sein soll.«
»Das ist allerdings nichts Stiftsfähiges,« sagte Fräulein von St. Pierre und rümpfte die Nase. Mit überlegenem Lächeln betrachtete sie dann ihr eigenes Bild in dem aus drei Stücken zusammengesetzten Mahagoni-Trumeauspiegel zwischen den beiden Fenstern von Mechtilds Wohnzimmer. Sie wiegte sich dabei etwas in ihren zur Breite neigenden Hüften, als wolle sie sagen: Bei mir sind nicht nur die zweiunddreißig Ahnen in Ordnung, sondern ich wäre auch fähig gewesen, diese Vorzüge auf kräftige Nachkommen zu übertragen.
Nur die Tanten Askania und Lidwine, die sich auch gerade bei Mechtild zum Nachmittagsstippkaffee eingefunden hatten, versuchten zum Guten zu reden.
»Ich erinnere mich noch ganz genau an die Ingeborg Thor Hacken,« meinte Tante Askania, »und kann‘s begreifen, daß sich der Herzog in sie verliebte, wie sang sie die Lucia! und was war sie hübsch! Nicht wahr, Lidwine?«
»Ja, ja,« antwortete eifrig das andere alte Stiftsdämchen, »und wißt ihr, manchmal will‘s mir scheinen, als habe unser reizendes Ilschen auch so etwas Apartes von ihr abbekommen.«
»Na, da sei aber Gott vor!« rief Frau von Zehren inbrünstig aus.
Die beiden alten Stiftsdamen zogen erschrocken ihre gehäkelten Tücher, deren sie stets mehrere bei sich trugen, fester um die flachen Busen, und Lidwine sagte verschüchtert, aber doch immer noch im Bestreben, für das Lieblingsnichtchen einzutreten: »Ich meinte ja nichts Schlimmes, liebste Gottliebe – und die Thor Hacken war ja auch durchaus anständig – und hat nachher nur noch für Wohltätigkeitszwecke gesungen – ich wollte bloß sagen, daß das Ilschen anders ist … wie die Mädchen hier in der Gegend … so … als stecke vieles in ihr, was wir nicht kennen.«
»Ja, ja,« fiel Tante Askania ein, die nun auch wieder Mut gegen die gefürchtete Schwägerin gefaßt hatte, »sie kann sich so prachtvoll begeistern, wenn man ihr erzählt, und sie so dasitzt mit den großen weitgeöffneten Augen. Mir ist‘s immer – als ob sie etwas Schönes suche!«
»Aber sie hat doch alles!« riefen gleichzeitig Frau von Zehren und Fräulein von St. Pierre.
Während also bei Mechtild über sie gesprochen wurde, saß Ilse in einer Bodenkammer des Weltsödener Herrenhauses. Ganz zufällig, als einmal im Spätherbst große Wäsche gewesen und die Mägde in dem weiten Raum unter dem hohen Giebeldach die Wäsche an den kreuz und quer gespannten Stricken zum Trocknen aufhingen, hatte sie diese Kammer entdeckt. »Da drin sind nur alte Bücher und solch unnützer Kram,« hatte die Schwiegermutter auf ihre Frage geringschätzig geantwortet, »das meiste stammt von Onkel Thilo.«
Damals hatte Ilse nur einen Blick in das Zimmer werfen können, aber jetzt, wo Dr. Liebetrau Ruhe verordnet hatte und ihr daher mehr freie Zeit gegönnt wurde, schlich sie sich oft hinauf und kauerte nieder zwischen den vielen Büchern, die sich am Boden in Stößen und Ballen türmten und die Regale an den Wänden bis zum Dache füllten. Zuerst hatte sie scheu geblättert, wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, bei verbotener Lektüre ertappt zu werden. Bald aber las und las sie mit großen Augen und glühenden Wangen und vertiefte sich ganz in die verschiedenen Welten, die die Bücher verschiedener Länder und Zeiten ihr offenbarten.
Aber so verschieden diese vielen Bücher auch waren, erkannte Ilse staunend doch bald, daß sie alle immer wieder, jedes auf seine Art, von demselben handelten: von der Liebe. Schon vor Jahrhunderten an felsiger, vom atlantischen Ozean wild umbrauster Rüste, hatte sie Dichter zu Gesängen begeistert, die heute noch immer fortklangen. Die Sage von Tristan und Isolde las Ilse und vernahm, wie jene zwei stolzen Herzen, von der Liebe Zaubertrank bezwungen, Welt und Gesetz vergaßen. Nach dem gewaltigen Sturmlied der Leidenschaft, das Ilse aus dem alten Epos entgegenschallte, erschienen ihr spätere Schriften matt und verzärtelt; sie blätterte nur flüchtig in den französischen Werken des achtzehnten Jahrhunderts, die Onkel Thilo gesammelt hatte. Die waren mit zierlichen Vignetten und Stichen illustriert, auf denen schelmische Amoretten die Vorhänge reich verzierter Rokokobetten neckisch lüpften, und eine ruhende Schöne von einem galanten Pagen in holder Verwirrung überrascht wurde, leicht und tändelnd wurden da die Dinge der Liebe behandelt – doch auch hier wieder als die eine große Lust der kurzen Erdentage gepriesen. – Andere Gefächer waren gefüllt mit empfindsamen deutschen und englischen Romanen. Die Helden und Heldinnen dieser Geschichten schwelgten bei Mondschein in wehmütig süßen Gefühlen, schwärmten und dichteten sich an, während die Nachtigall flötete, lehnten in fließenden Gewändern an Urnen tragenden Postamenten, bauten der Freundschaft Tempel, ritzten des geliebten Gegenstandes Namen in die Rinde der Bäume. Ätherische Wesen waren sie, denen die Tränen gar leicht an den langen Wimpern hingen, schöne Seelen, die, um sich von Trennungspein und Liebesgram zu befreien, mit blassen schlanken Händen die selbstmörderische Waffe gegen den Busen zückten.
Doch neuere Bücher auch fand Ilse. Die Romane der George Sand und ihrer zahllosen modernen Nachfolger. Da las sie von Frauen, die nicht ob einmaligen Irrtums den lockenden Freuden des Lebens entsagen, sondern mit verlangenden Händen greifen, wonach ihr Herz begehrt. All die berückenden Worte von der befreienden Macht der Leidenschaft gegenüber der starren Gewalt des Gesetzes tönten der kleinen Ilse aus den lang geschlossenen Zeiten entgegen, und sie vernahm auch hier das Rauschen jenes alten Liedes vom Recht auf Glück und Liebe, dessen betörender Klang schon so manches junge Herz hingerissen hat. Da war nicht die Rede von selbstverleugnendem Ausharren auf ödem, freudlosem Feld, sondern die Heldinnen dieser Bücher ließen sich von den mächtigen Schwingen eines starken Willens zur Lebenslust über alle Schranken hinweg zu den Zielen ihrer Sehnsucht tragen, woran die leichtlebigen Marquisen des achtzehnten Jahrhunderts in den kurzen Jahren zwischen ihrem Austritt aus dem Kloster und der Karrenfahrt zum Schafott nur verstohlen und lächelnd genascht hatten – worüber die blutarmen und gefühlsreichen Schönen empfindsamerer Zeiten in Sehnsucht zerschmolzen und hingestorben waren – das nahmen sich diese Töchter jüngerer Tage mit der Gebärde selbstherrlichen Rechtes.
Und vielleicht lag hierin etwas, das verborgene Saiten in Ilses Wesen anschlug. Einer alles überwindenden Begeisterung für ein Ziel fühlte auch sie sich fähig. – Nur das Ziel selbst verstand sie nicht recht. Und mit aufgekrauster Stirn, den Kopf zwischen die Hände gestützt, grübelte sie nach: um was drehte sich denn eigentlich alles? – schließlich wollten alle diese Heldinnen doch immer nur dasselbe: statt des einen Mannes einen anderen. – Konnte das wirklich etwas so ganz verschiedenes sein?
So begann sie zu ahnen, daß es Geheimnisse geben müsse, von denen sie nichts wußte, Gefühle, die sie nicht kannte, Gewalten, vor denen alles andere schweigt, daß es einen auch heute ebenso mächtigen Zaubertrank gäbe, wie zu den fernen Zeiten von Tristan und Isolde. Eine Art Neugier regte sich bisweilen in ihr. Dann las und las sie eifrig weiter, als ob sie in den Büchern Aufklärung finden müsse. – Manchmal auch hielt sie inne und träumte in der Dachkammer vor sich hin, ließ die Menschen an sich vorübergleiten, die sie in ihrem kurzen Leben nicht gekannt, aber doch gesehen hatte. Ein junger Klavierlehrer tauchte in ihrer Erinnerung auf, der mehr Ausdruck in seine Augen wie in seine Finger gelegt hatte, wenn er ihr die Sonaten vorspielte, die sie üben sollte; der engbrüstige Geistliche, der sie eingesegnet hatte, Spaziergänger, denen sie in der Straße begegnet war, und die ihr nachgeblickt hatten; auch der blaue Märchenritter ihrer kindischen Träume, der den Gang ihres Lebens ahnungslos so sehr beeinflußt hatte und dessen Züge in ihrem Gedächtnis doch nur noch ganz verschwommen standen. – Ach, sie alle konnten ihr nichts sagen.
Doch weiter dachte sie dann inmitten Onkel Thilos verstaubter Bücher an ihre Verlobung und Hochzeit, an all die neuen Gesichter, die sie damals zuerst gesehen. Da löste sich von den Übrigen Herrn von Waldens Gestalt, wie aus weiter Ferne schien er langsam auf sie zuzuschreiten und schaute sie an – anders als all die anderen. Sollte er ihr etwas zu sagen haben?
Aber sie mußte selbst über diesen Einfall lachen. Zu Herrn von Walden waren ihre Gedanken wohl nur durch eine unbewußte Ideenverbindung mit Onkel Thilo gewandert. Denn wie Walden heut, war ja Onkel Thilo einst Diplomat gewesen, hatte auch in fernen, fremden Weltteilen gelebt. Ferner und fremder noch als jetzt mußten sie zu seiner Zeit gewesen sein – damals reiste man ja noch meist mit Segelschiffen! – von seinem letzten exotischen Posten hatte Onkel Thilo einen Papagei, einen Affen und ein Leberleiden nach Weltsöden heimgebracht. Das Leberleiden hatte ihn gar bald auf den Friedhof gebracht, der Papagei und der Affe dagegen waren nach ihrem Tode ausgestopft worden und prangten noch heute unten in Theophils Stube an der Wand, zwischen den Hörnern und Geweihen heimatlicher Böcke und Hirsche. Mit den vielen Büchern hatte sich Onkel Thilo in dem entlegenen Lande sicher oft die Zeit vertrieben, denn sie waren wohl gelesen, und viele Stellen hatte er unterstrichen und mit Randbemerkungen versehen. – Ob wohl Herr von Walden auch so viel las, dort, wo er jetzt war? – Aber der wollte ja nicht nur einen Papagei und Affen mitbringen, sondern »allerhand« für Deutschland erringen, – er hatte »Ziele«, wie Theophil gesagt – da blieb wohl nicht viel Zeit für Bücher. – Ziele, hohe Ziele haben! – Das mußte schön sein, das bedeutete wohl, diejenigen Dinge zu tun, von denen die anderen Leute nur in Büchern lesen. – Ach, glückliche Menschen!
Aber was für Ziele haben denn Frauen? dachte Ilse weiter. Eigentlich gar keine selbständigen, keine, für die man sich so recht zu begeistern vermöchte. Bekommen sie einen Mann, der sich große Aufgaben stellt, so dürfen sie ihm vielleicht helfen und dienen – und das müßte freilich schön sein. – Ja, den richtigen Mann zu bekommen, das war offenbar der eine Hauptzweck im Leben jeder Frau – darin stimmten ja auch die verschiedensten Bücher Onkel Thilos überein. Des Sinnens müde vertiefte sich Ilse von neuem in ein Buch, das ihr an diesem Tage gerade in die Hände gefallen war. »Die Wahlverwandtschaften« hieß es, und darin gab es auch viel Not und Verwirrung, weil zwei sich geirrt hatten und der eine für den anderen wohl nicht der Richtige war. Sie hatte gelesen bis zu der Stelle, wo Charlotte in den Zügen ihres Kindes eine Ähnlichkeit mit dem Hauptmann und in seinen Augen die Augen Ottiliens wiedererkennt. Ganz ergriffen war sie von diesem, geheimstes Sehnen offenbarenden Wunder. – Doch nun sprang sie erschrocken auf, denn es fiel ihr ein, daß es bald Essenszeit sein mußte. Noch ganz benommen von dem eben Gelesenen rannte sie aus ihrem Versteck herunter. Aber glücklicherweise waren weder Theophil noch Frau von Zehren heimgekehrt.
Dagegen saß Anne Dore im Flure. Schwerfällig wollte sie sich erheben, als sie Ilse gewahrte, doch diese drückte sie mitleidig in den Sessel nieder.
»Ich warte auf die gnädige Frau Mutter,« sagte Anne Dore, »ich bringe ihr das Muster eines Kinderhemdchens zurück, das sie mir geliehen hat. Ich habe schon viel für die kleine Ausstattung fertig.«
»Ihnen ist wohl recht bange?« fragte Ilse leise und schaute teilnehmend auf die entstellte Gestalt und das müde Gesicht, dessen einstmalige Röte unter großen gelben Flecken verschwunden war.
»Ach nein,« antwortete Anne Dore lächelnd, »zum Sterben wird‘s ja wohl nicht gleich kommen. Na, und geht‘s auch das erstemal schwer, so hat man doch was vom Leben gehabt.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich wünsche mir, daß es ein strammer Jung« ist, der meinem Mann recht ähnlich sieht!«
Ilse hörte ihr schweigend zu und wieder fühlte sie, daß sie, wie droben bei den Schilderungen der Bücher, so hier im wirklichen Leben, vor Unbekanntem stand, und daß der schlichten Anne Dore ein bescheidenes Tröpfchen jenes geheimnisvollen Zaubertrankes zuteil geworden, der ihr selbst vorenthalten geblieben. – was mußte das für ein mächtiges Gefühl sein, das diese Frau so gefaßt von Schmerz und Gefahr reden ließ? – Und dann dieser Wunsch für das Aussehen des Kindes?
In diesem Augenblick traten Frau von Zehren und Theophil eilig und erhitzt von draußen ins Haus. Und wie nun Ilse die Gestalt ihres Mannes sah, mit dem langen Halse und den abfallenden Schultern, die an die Umrisse einer Champagnerflasche mahnten, und in dem hageren Gesicht die dicken roten Lippen gewahrte, die wie ein Widerspruch zu allem übrigen wirkten, da flammte plötzlich der leidenschaftliche Wunsch in ihr auf: »Nie, nie ein Kind, das ihm gleicht! Mein, ganz mein müßte es sein! … oder? … Charlotte? … —«
Aber der kleinen Ilse Herz war ja leer von Bildern.
Bald nach ihrer Ankunft in Weltsöden hatten Theophil und Frau von Zehren Ilse in der Nachbarschaft vorgestellt; da aber die meisten umliegenden Güter von lauter Zehren bewohnt wurden, so war durch diesen Verkehr kein sonderlich neues Element in ihr Leben getreten. Sie wurden zu mehr oder minder feierlichen Diners eingeladen, deren Stunde zwischen drei und sechs Uhr schwankte. Man saß lange zu Tisch bei kräftig nahrhaften Speisen und stand schwer und mit geröteten Köpfen auf. Von den Angelegenheiten der verschiedenen Verwandten wurde gesprochen, von Kornpreisen, Viehzucht, künstlichem Dünger und Holzverkäufen. Manchmal auch streifte man Fragen der inneren Politik, da aber alle Anwesenden zu derselben Kaste gehörten und über solche Dinge nur die in dieser Kaste als selbstverständlich geltenden Ansichten hegten, so kam es nie zu einer Diskussion: etwas so Unstandesgemäßes wie abweichende Meinungen über derartige fundamentale Begriffe hätte keiner dem anderen überhaupt zugetraut. Eher schon gab es in landwirtschaftlichen Fragen auseinandergehende Anschauungen, weil da jeder persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.
Sobald nach dem Essen Kaffee und Liköre von den anwesenden jungen Mädchen gereicht worden waren, wanderten die Herren, lange schwere Zigarren paffend, zu den Wirtschaftsgebäuden, um Vieh und Scheunen, Brennerei und Ziegelei zu besichtigen. Frauen, die ihre Güter selbst bewirtschafteten, schlossen sich solchem Rundgang der Männer bisweilen auch an, während die anderen in Wohnzimmer oder Veranda sitzen blieben, oder auch, durch Park und Gemüsegarten schlendernd, gegen die Sehnsucht nach dem gewohnten Mittagsschläfchen ankämpften.
Die Damen befanden sich bei diesen Vereinigungen immer in der Mehrzahl, denn die Söhne der verschiedenen Familien waren abwesend, auf Universitäten und in Regimentern, während die zahlreichen Töchter daheim saßen und in standesgemäßer Tatenlosigkeit einer Schicksalswendung entgegenharrten. Sie alle besaßen irgendein kleines Talentchen, das gepflegt wurde, um die vielen Stunden der langen Tage zu füllen. Die liebe Emmy malte für Weihnachten und Geburtstage Blumen auf seidene Fächer; Karolinchen brannte unter heftigem Benzingeruch Ritterburgen auf hölzerne Schreibmappen für die Brüder, Hirschköpfe auf die Ofenbank in Papas altdeutschem Zimmer; unsere Hedwig übte fleißig Clementi; Gabriele verstand es sogar, Geschehnisse des Familienlebens in artige Knittelverse zu kleiden und mit solchen bei festlichen Gelegenheiten zu erfreuen. All diese Dinge wurden mit Wichtigkeit von Müttern und Tanten behandelt, die doch alle wußten, daß sie nur das wohlerzogene Warten verbergen sollten und in den erhofften Ehen alsobald verschwinden würden.
In diesen Diners wurden häufig die jeweiligen Gutspastoren mit ihren Frauen geladen. Es entsprang dies nicht besonderen religiösen Bedürfnissen, denn Religion war den meisten mehr eine Schicklichkeits- wie Herzensfrage, etwas, worüber man eigentlich gar nicht nachdenkt, sondern was so selbstverständlich ist, wie daß man vor dem König Front macht. Aber man wollte nach außen dokumentieren, daß weltlicher Besitz und geistliche Macht zusammengehören, und Theophil sagte würdevoll: »wir benötigen den Einfluß des Pastors bei den Wahlen, daher müssen wir auch seine soziale Stellung möglichst stützen.«
Ein anderer in der ganzen Gegend oft hinzugezogener Gast war Dr. Liebetrau. Nicht etwa geistiger Übereinstimmung halber. Hatte doch die Cousine Zehren-Kandau sogar einst über ihn geflüstert: »Ich fürchte bisweilen wirklich, unser alter Liebetrau glaubt nicht mal an den lieben Gott,« worauf die Tanten Askania und Lidwine beschwichtigend antworteten: »Dann würde der liebe Gott ihm doch sicher nicht die Gnade zuteil werden lassen, so viele Menschen zu heilen.« – Es ging aber von dem alten Mann mit der gebirgsartigen Nase und den klugen Äuglein ein solcher Zauber von Wohlwollen und Verständnis für jedes Leid aus, daß ihm alle Frauen halb unbewußt gewogen waren. – Und Dr. Liebetrau, der vor langen Jahren schon als Witwer in die Gegend gekommen und seitdem einsam hauste, studierte auch außerhalb des Krankenzimmers mit Vorliebe seine weiblichen Patienten. Nach den Diners blieb er immer im Kreise der Damen.
An einem solchen Nachmittag des frühen Frühjahrs erzählte er: »Ich war heute morgen in Frohhausen – der Graf und die Gräfin sind wieder da.«
Man spitzte die Ohren. Augen, die sich schon in einschläfernder Verdauungslangweile schlossen, öffneten sich wieder. Auch Ilse, die im Kreise würdiger Landmatronen saß, horchte gespannt auf, denn sie war schon oft an den geschlossenen Pforten des großen Frohhausener Parks vorbei gekommen und hatte bedauert, daß dieses, Weltsöden zunächst gelegene Gut unbewohnt war.
Die Gastgeberin, Frau von Zehren-Kandau, sagte seufzend: »Ich habe es auch schon gehört – ja, wenn die Helmstedts nur nicht gar so schlecht zu uns paßten.«
»Das ist nicht zu verwundern,« meinte Theophils Mutter abfällig. »Sie haben hier ja nie dauernd gelebt, sondern sind immer in der Welt herumgezogen.«
»Ach Designatus, wie schrecklich muß das sein!« sagte die alte, behäbige, glatt gescheitelte Pastorin zu ihrem Mann, dem alten Pastor Rockstroh. Der antwortete: »Ja, ja, die Gebundenheit an die ländliche Scholle ist und bleibt eben doch das stärkste Bollwerk gegen die zersetzenden Kräfte eines Weltbürgertums.«
»Ich meine aber nicht nur das,« fuhr Frau von Zehren-Kandau fort, »bei dem Beruf des Grafen sind ihm allerdings die natürlichen Interessen eines landeingesessenen Edelmannes etwas abhanden gekommen, aber unsere Herren würden ihm jetzt, wo er den Abschied genommen hat, ja gern helfen, daß er hier die richtige Stellung gewinnt, in den Kreisausschuß und sogar in den Provinziallandtag kömmt, – nein, nein, viel schwieriger ist die Frage mit ihr!«
»Ja, da hast du recht,« warf Frau von Zehren-Kummerfelde ein, »denn man weiß wirklich nicht, worüber man mit ihr sprechen soll. Bei all ihrer Liebenswürdigkeit fühl ich mich doch immer ungemütlich, und ich kann den Verdacht nicht los werden, daß sie eigentlich im stillen auf uns herabsieht.«
»Na, dazu hat sie doch wahrhaftig keinen Grund!« rief die blasse Mechtild so eifrig, daß auf ihren farblosen Wangen rote Flecken aufflammten. »Man weiß doch, wieviel über sie und ihre erste Ehe gemunkelt worden ist – die vielen Kurmacher! Und … ihrem jetzigen Manne soll sie ja schon damals recht … nun … recht nahe gestanden haben.«
Die welken Gesichter der alten Stiftsdamen erröteten verschämt, und Tante Askania sagte begütigend: »wir dürfen nicht vergessen, sie ist eben keine Deutsche.«
Und Tante Lidwine setzte hinzu mit dem Gefühl, alle Mängel zu erklären: »Sie ist vor allem keine Protestantin.«
»Aber mein gnädigstes Fräulein,« griff nun der alte Pastor Rockstroh mit dem Bewußtsein ein, lobenswerte Objektivität zu üben, »ich muß doch bemerken, daß auch die katholische Kirche die Nichtbeachtung des sechsten Gebotes verdammt.«
»Mag sein, Herr Pastor, mag sein,« entgegnete Frau von Zehren-Kandau, »aber sie werden uns nie einreden, daß solche Fragen von Leuten wahrhaft ernst genommen werden, die nur zu beichten brauchen und dann gleich von neuem anfangen können.«
»Die Beichte,« sagte der alte Pastor, »ist mir eigentlich das Sympathischste in der katholischen Kirche – man muß dadurch mancher armen Seele helfen können.«
»Aber Designatus!« entfuhr es vorwurfsvoll der alten Pastorin, die mit Beichtstühlen vage, unheimliche Vorstellungen verband.
»Ja, ja,« stimmte Dr. Liebetrau sinnend dem Pastor zu, »es läßt sich in der Tat manches dafür anführen. Den Protestantinnen ersetzen übrigens wir Ärzte und gelegentlich auch Rechtsanwälte die Beichtväter.«
»Na, na, bester Liebetrau, wer hätte denn Ihnen schon gebeichtet?« fragte Theophils Mutter.
»Aber viele, meine gnädigste Frau, viele!« antwortete der alte Arzt, »denn man beichtet ja oft, ohne es selbst zu wissen! Um übrigens auf Gräfin Helmstedt zurückzukommen, so habe ich immer gehört, daß sie allen Grund gehabt hätte, in ihrer ersten Ehe sehr unglücklich zu sein.«
»Das ist aber doch keine Entschuldigung!« rief Mechtild.
»Ob es eine Entschuldigung ist?« sagte Liebetrau bedächtig, »dabei käme es wohl auf das Forum an. Aber die häufigste Erklärung für das, was man Unrechttun nennt, wird wohl immer das Unglücklichsein bleiben!«
In diesem Augenblick wurde zum Abendimbiß gerufen, mit dem solche Zusammenkünfte ihren Abschluß fanden. Dr. Liebetrau blieb einen Augenblick in der Veranda zurück, klappte den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose auf und brachte seiner hügelreichen Nase den langentbehrten Schnupftabak dar. Ilse hatte auf ihn gewartet und spielte gedankenverloren mit ihrem Trauring, der immer noch die Tendenz hatte, leicht herabzugleiten. Nachdem Dr. Liebetrau reichlich geschnupft, geniest und geschnaubt hatte, sagte er zu ihr: »Die Gräfin Helmstedt hat mich übrigens sehr nach Ihnen gefragt.«
»Nach mir?« fragte Ilse erstaunt, »warum denn?«
»Wenn ich recht verstand, hat sie durch gemeinsame Bekannte von Ihnen gehört, und sie freut sich darauf, Sie kennen zu lernen, – während sie den meisten Menschen hier, wie Sie ja schon hörten, eher kühl gegenübersteht. Ich glaube übrigens, Ihnen wird Sie gefallen.«
Ilse errötete, ohne recht zu wissen, warum. Unter Dr. Liebetraus klugem und zugleich nachsichtigem Blick hatte sie die Empfindung, als habe auch sie, ohne es zu wissen, ihm schon gebeichtet, und als ahne er, daß wer ihrer Umgebung kühl gegenüberstand, vielleicht wohl Aussicht hatte, ihr selbst verwandt zu sein.
Bald darauf wurden die Wagen gemeldet, und die Gäste, die nicht, weiter Entfernungen halber, in Kandau selbst übernachteten, bekleideten sich mit all den verschiedenen Hüllen, Staub- und Regenmänteln, Lodenkapes, flauschigen weiten Fahrulstern, Kapuzenkragen und weichen Tüchern, wie sie sich nur in alten Landhäusern ansammeln. Dann fuhren sie in den verschiedensten Richtungen davon.
Auch Frau von Zehren, Theophil und Ilse hatten den offenen Weltsödener Wagen bestiegen und waren abgefahren. Nach einigen Minuten hielt Jochem an und vertauschte den Livreezylinder, den er in die mitgebrachte Pappschachtel tat, mit der Mütze. Dann ging es in mildem Trab weiter.
Es war eine seltsam laue und einschläfernde Luft, und wirklich vernahm Ilse auch bald die regelmäßigen Atemzüge Theophils und seiner Mutter; sie selbst blieb wach und genoß dies Gefühl, allein wach zu sein. Sie ward sich plötzlich bewußt, daß während der letzten Wochen unendlich viel bisher Ungeahntes in dämmerhaften Umrissen an ihrem Horizonte aufgetaucht war, durch die Bücher, die sie gelesen, wie auch durch manche Aussprüche Dr. Liebetraus. Sie fühlte sich hilflos und wie beängstigt vor all diesem Neuen. Die Welt war voller Fragezeichen.
Nun kamen sie an Frohhausen vorüber. Heute brannte Licht in der alten Laterne über dem großen Eingangstor zum Parke. Zu beiden Seiten standen alte einstöckige Pförtnerhäuschen mit hohen, abgesetzten Dächern. Dahinter erstreckte sich die dunkle Baummasse der breiten Lindenallee, die zum Schlosse führte. Der Fahrweg folgte von da ab eine Strecke lang der Umfassungsmauer des Parks. Es war sandiger Boden. Aus dem milden Trab waren die Pferde in Schritt übergegangen. Oben auf dem Bock senkte Jochem den Kopf, ein paarmal vorwärts, ein paarmal seitwärts, richtete sich dann aber jedesmal erschrocken wieder auf – doch schließlich war auch er wie seine Herrschaft eingenickt.
Und in der tiefen nächtlichen Stille war es Ilse, als schwebe zu ihr, der allein wachenden, aus der Richtung des unsichtbaren Schlosses der leise Klang eines fernen, unbekannten Liedes.
Am nächsten Nachmittag hatten sich einige Verwandte im Weltsödener Gartensaal zum Tee eingefunden, als Graf und Gräfin Helmstedt gemeldet wurden. Und wie Ilse die Gräfin nun wirklich eintreten sah, hatte sie das Gefühl: dies ist ein Erlebnis. Sie empfand für sie sofort jene mit Scheu gemischte Bewunderung, die ganz junge Mädchen gerade für ältere Frauen bisweilen hegen. An die Jahre, die Gräfin Helmstedt zählen mochte, dachte freilich niemand bei ihrem Anblick. Sie war wie jemand, der vielleicht nie sehr jung gewesen und sicher nie sehr alt erscheinen würde. Ihr volles duftiges Haar schimmerte bisweilen grau, doch konnte man es ebensogut für ein unbestimmtes Blond halten, und neben den bunten Waschblusen und derben Sergeröcken der anderen Damen schien, was sie trug, kein wirkliches Kleid zu sein. »Gewänder« war das Wort, das Ilse einfiel. Und auch darin hatte sie etwas Zeitloses.
Die langstielige Lorgnette vor die Augen haltend, die zwischen lang bewimperten, halb geschlossenen Lidern blinzelten, kam sie von weitem auf Ilse zu. Doch wie sie nun, vor ihr stehend, die Augen plötzlich aufschlug, waren diese so klar und leuchtend, daß die Lorgnette nur noch ein Spielzeug der weißen Hände mit den Perlenringen schien.