Kitabı oku: «Bansiner Fischertod», sayfa 2

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Mittwoch, 9. Oktober

Der Sand und die Steine sind noch nass vom Regen, aber jetzt leuchten die bunten Blätter in der Sonne. Berta geht ein paar Schritte auf die Seebrücke, um an der Küste entlang und über die Ostsee zu blicken. Man kann ungewöhnlich weit sehen, wie oft in der klaren Herbstluft. Deutlich erkennt sie die Steilküste der Nachbarinsel Wollin, das polnische Seebad Misdroy, die Mole und die großen Hotelbauten in Swinemünde. Die Frau legt die Unterarme auf das hölzerne Brückengeländer und genießt den Ausblick. Sie bewundert, wie schon tausende Male in ihrem Leben, die großen, leuchtend weißen Möwen, die zwischen den Muschelschalen am Ufer picken oder flach über das Wasser schweben und beobachtet mit weniger Sympathie den riesigen Kormoranschwarm.

Der erinnert sie an ihr eigentliches Ziel. Sie geht zurück auf die Strandpromenade, am Haus des Gastes vorbei zu den Fischerhütten am westlichen Ortsrand. Noch bevor es Bansin überhaupt gab, vor hundertdreißig Jahren etwa, standen die Arbeitsstätten der Fischer direkt am Strand entlang bis zur heutigen Ortsmitte. Dann wurden die Promenade angelegt und die Pensionen erbaut. Deren Besitzer störten sich schließlich an den einfachen Hütten mit den zum Trocknen gespannten Netzen ringsherum, an den Fischern und ihren Frauen in Arbeitskleidung und an den auf den Strand gezogenen Booten. Diesen Anblick wollten sie ihren vornehmen Gästen nicht zumuten. Noch mehr störte der Lärm, den die Fischer machten, wenn sie schon am frühen Morgen mit ihren Holzpantoffeln über die Promenade klapperten. Deshalb wurden sie mit ihren Arbeitsstätten und -geräten, mit ihren Hering pulenden und Netze flickenden Frauen und der zahlreichen, barfüßigen, lärmenden Kinderschar an den Ortsrand verbannt. Jetzt konnten die Gäste in Ruhe ausschlafen. Eine lange Baracke wurde errichtet, zur Promenade hin hat sie eine geschlossene Holzwand, das Leben spielte sich an der Seeseite ab. Dünen schützen vor der Sicht vom Strand aus und auch ein wenig vor dem Seewind. Manchmal sogar vor der Ostsee, wenn ein kräftiger Nordoststurm das Wasser auf die Küste drückt.

Jetzt stehen die meisten der aneinandergereihten Hütten leer oder sind zweckentfremdet. Paul Plötz und sein Gehilfe Arno Potenberg sind fast die letzten Fischer, die hier noch arbeiten. Die Tür zur Hütte steht offen, ein Zeichen, dass der kleine eiserne Ofen noch nicht in Betrieb ist. Das kann aber nicht mehr lange dauern, Paul Plötz liebt die Wärme. Deshalb trinkt er Grog. Er trinkt im Sommer Grog und im Winter, wenn der alte verbeulte Kessel mit heißem Wasser ständig auf dem Ofen steht und leise vor sich hin summt. »Um die alten Knochen aufzuwärmen, damit sie nicht steif werden«, wie er Berta erklärt hat, »und um den ganzen Ärger runterzuspülen.« Berta hatte ganz automatisch und wider besseren Wissens den banalen Spruch »Alkohol löst keine Probleme« von sich gegeben und die Antwort »Das tut Tee auch nicht« schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Was soll’s? Probleme hat der Fischer genug, und wenn er die mit Alkohol leichter bewältigt, dann ist das eben so. Und Berta ist die Letzte, die ihn in dieser Hinsicht belehren darf, denn eine Menge von dem, was er getrunken hat, hat sie ihm verkauft.

Die beiden kennen sich seit mehr als fünfzig Jahren. Schon als Plötz um die zwanzig war, hat er zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder hier gefischt. Die acht Jahre ältere Berta war Köchin in einem FDGB-Erholungsheim. Es war das Haus, das unter dem Namen Kehr wieder ihrer Familie gehört hatte, in dem sie aufgewachsen war und das nun Fortschritt hieß. »Das Einzige, was hier fortschreitet, ist der Verfall«, stellte ihre Mutter immer wieder fest. Sie wohnte noch immer im Dachgeschoss des Hauses, krank und verbittert, voller Hass auf den Staat und auf die Verwalter »ihrer Pension«. Das Gebäude verfiel vor ihren Augen, ständig waren Gäste da – Urlauber im Sommer, Kurgäste im Winter –, es war weder Zeit, noch war Geld oder Material vorhanden, es instand zu halten. Nur das Allernötigste wurde repariert und es wurde so, wie man es ihrer Familie weggenommen hatte, einfach heruntergewohnt. Bertas größter Kummer ist, dass ihre Mutter nicht mehr erlebt hatte, dass die Pension wieder in Familienbesitz gekommen und unter dem alten Namen Kehr wieder in neuem Glanz erstrahlt war.

Die einzige Freude, die sie damals ihrer Mutter machen konnte, war frischer Fisch, den sie mit nach Hause brachte. Für Urlauber war es schwer, den oder gar einen Räucheraal zu bekommen, aber von den Einheimischen hatte jeder »seinen« Fischer. Für Berta war es die Familie Plötz. Sie hatten in der langen Baracke zwei Buden nebeneinander. Berta erinnert sich noch gut an das lebhafte Treiben hier zwischen den Dünen und den Hütten. Da lagen die großen Boote, es waren Baumwollnetze und Gummijacken zum Trocknen gespannt, Fischerfrauen besteckten die Aalangeln oder pulten Hering aus den Netzen, hier und da qualmte ein Räucherofen, dazwischen spielten die zahlreichen Kinder.

Zeitweise hatte es über 60 aktive Fischer in Bansin gegeben. Inzwischen ist es ruhig geworden. Pauls Vater ist tot, sein Bruder hat, wie die meisten Bansiner Fischer, längst aufgegeben. Paul hat aus den beiden Buden eine gemacht, die dünne Bretterwand dazwischen herausgerissen, weshalb der Ofen jetzt auch nicht mehr an der Wand, sondern in der Mitte der Hütte steht. Er sitzt daneben in seinem alten Sessel, versucht sich eine Zigarette anzustecken und ist wütend, weil das Feuerzeug nicht funktioniert und überhaupt … »Frag gar nicht erst!«, fährt er Berta an, bevor die etwas sagen kann. »Ich hab keinen Dorsch, weil ich keinen Dorsch haben darf, verdammich. Und weil der Fischmeister hier dauernd umherschleicht.«

»Guten Morgen! Ich will gar keinen Dorsch. Hab ich was von Dorsch gesagt?«

»Hast du. Du willst Fischbuletten machen, hast du gesagt. Und wovon? Von Hering vielleicht?«

»Das hab ich vor drei Wochen gesagt, da war noch keine Rede davon, dass ihr keinen Dorsch mehr fischen dürft.«

»Kann ich was dafür, dass du deine Meinung alle Augenblicke änderst? Also keine Fischbuletten. Was denn?« Immer noch wütend wirft er das leere Feuerzeug in eine Ecke auf einen Berg alter Netze, nimmt die kalte Zigarette aus dem Mund und lehnt sich seufzend zurück. »Macht alles keinen Spaß mehr, Berta. Wir sollten erst mal einen schönen steifen Grog trinken.«

Die Frau winkt ab und setzt sich auf einen alten Küchenstuhl. »Ist mir noch zu früh.«

»Was meinst du? Noch zu früh am Tag oder noch nicht kalt genug?«

»Beides. Du, sag mal, hast du was von diesen mysteriösen Einbrüchen im Ort gehört? Oder bei euch im Dorf?«

»Einbrüche bei uns in Sallenthin? Nee, das wüsste ich. Und in Bansin? Ja, du, da war was.« Er blickt nachdenklich zu seinem Kollegen Arno Potenberg, der gerade mit einer Kiste voller Fisch hereinkommt.

Arno ist hager und sehr groß, er muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Tür der niedrigen Hütte tritt. Alles an ihm ist groß: seine Hände, seine Füße und seine Nase. Trotzdem wirkt er nicht plump, sondern freundlich und intelligent. Sein volles blondes Haar ist gepflegt und gut geschnitten, das schmale Gesicht wird von hellen, klugen Augen dominiert. Er stellt die Kiste auf einer Bank ab. »Morgen, Berta! Braucht ihr Fisch? Wir haben zwei schöne Schnäpel, die kannst du haben. Ein paar Flundern und die Heringe will ich räuchern. Oder wollt ihr was zum Braten?«

»Nein, lass mal! Die kannst du am Stand verkaufen, sind ja noch genug Gäste da. Die Schnäpel nehm ich gern.« Berta lächelt den Mann wohlwollend an. Er hat seit Jahren ein mehr oder weniger festes Verhältnis mit ihrer Nichte Sophie. Mit Höhen und Tiefen und einigen Unterbrechungen – Sophie hat Bindungsangst und manchmal stört es sie, dass Arno elf Jahre jünger ist. Aber Berta findet, die beiden passen perfekt zusammen.

Den alten Fischer interessiert das Gespräch der beiden nicht sonderlich, schon seit einiger Zeit überlässt er alles Geschäftliche seinem jüngeren Kollegen. Er denkt stattdessen über Bertas Frage nach. »Arno, wer hat das neulich erzählt, dass bei ihm eingebrochen wurde und die haben das erst gar nicht gemerkt? Weißt du das noch? Das war doch irgendwie komisch.«

»Ja.« Arno streicht mit dem Finger an seiner Nase entlang, eine Geste, die ihm beim Erinnern hilft. »Ich weiß nicht, wie der heißt, ein Bansiner war das jedenfalls, der so was erzählt hat. Der ist mit seiner Frau auch oft bei euch im Kehr wieder zum Essen. Die hatten erst den Nachbarn in Verdacht, aber dann hat sich das Ehepaar gegenseitig verdächtigt, weil nur Bargeld fehlte und … ach, ich weiß das nicht mehr, so eine Familiengeschichte eben. Warum fragt ihr danach?«

Berta will es gerade erklären, als Arno durch die Tür hinunter zum Strand blickt. »Was ist denn da los?« Er geht hinaus.

Berta und Paul folgen ihm durch die Dünen zum Ufer. Eine kleine Gruppe Strandspaziergänger steht dort um etwas herum, eine Frau fängt ihren Hund ein und legt ihn an die Leine, ein junger Mann nimmt ein kleines Kind hoch und trägt es schnell weg. Eine ältere Frau verbirgt ihr Gesicht an der Schulter ihres Mannes, eine andere schlägt entsetzt eine Hand vor den Mund und auch die anderen Umstehenden wirken verstört. Jetzt hört man auch von der Strandpromenade her das Signal eines Rettungswagens.

Berta und die beiden Fischer bleiben einige Meter vor der Gruppe stehen, als zwei Polizisten von der anderen Seite her über den Strand gelaufen kommen. Einer von ihnen ist Fred Müller, der Ortspolizist, den Berta schon seit seiner Kindheit kennt. Er nickt ihr einen Gruß zu und deutet kurz mit dem Kopf in Richtung der Fischerhütten.

Berta versteht. »Kommt!«, fordert sie die Männer auf. »Wir gehen in die Bude. Wir erfahren noch früh genug, was los ist.«

Eine halbe Stunde später duckt sich der große, kräftige Mann in Polizeiuniform unter der Tür durch. Er hält die Mütze in der Hand, streicht sich über das kurze blonde Haar und sieht Berta bedrückt an. »Es handelt sich um Frau Hagemeister. Wahrscheinlich Selbstmord. Sie muss gestern Abend von der Brücke gesprungen sein.«

»Ach nein, doch nicht sie.« Die alte Frau hat Tränen in den Augen, auch Paul Plötz schluckt.

»Wir wissen noch nichts weiter. Aber es sieht nicht nach Fremdverschulden aus. Ich muss dann aber auch wieder …«

»Ja, natürlich. Danke, Fred.«

Arno hat schweigend Grogwasser aufgesetzt, was er selten ohne Aufforderung tut. Die beiden Alten sehen aus, als bräuchten sie ihr Allheilmittel. Er selbst kannte die Frau nicht, zumindest nicht dem Namen nach. »Eine Bansinerin?«, fragt er leise.

»Ja.« Berta nickt, schnieft ein bisschen und schnäuzt sich dann ausgiebig in ihr Taschentuch.

Paul Plötz wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich kenn sie schon seit der Schule. Die war ein bisschen älter als ich«, erklärt er. »War mal ein hübsches Mädchen. Bisschen … na ja«, er verkneift sich, was er eigentlich sagen wollte, »bisschen naiv und gutgläubig, aber immer lieb und nett. So eine Frau, die man in den Arm nehmen und beschützen möchte.«

»Ja, genau.« Berta nickt nachdrücklich. »Die Hellste war sie sicher nicht. Aber sie war so freundlich und hilfsbereit, hat nie schlecht von jemandem gesprochen.«

»Und trotzdem hatte sie am Ende niemanden, der ihr helfen konnte«, stellt Arno fest, während er großzügig Rum in zwei dickwandigen Gläsern verteilt.

»Hat sie nicht eine Tochter?«, überlegt Plötz. »Wie heißt die noch? Die ist doch verheiratet mit dem …«

»Ja, genau, mit einem Koch. Der ist Kroate oder Slowake, glaube ich. Ist aber schon lange hier. Wie heißt er noch? David? Mario? Paul, ich werde alt. Mein Gedächtnis lässt mich langsam im Stich.«

»Wem sagst du das, Berta. Mit den Namen krieg ich auch Probleme. Aber ich weiß, wen du meinst. Haben die sich nicht gerade selbstständig gemacht?«

»Richtig, die haben die kleine Gaststätte in der Seestraße gepachtet. Danke, Arno.«

Während der junge Fischer hinausgeht, um endlich seinen Räucherofen zu bestücken, rühren die beiden Alten traurig in ihren Groggläsern. Sie denken daran, wie verzweifelt Frau Hagemeister gewesen sein muss.

»Ich kann es mir einfach nicht vorstellen«, sagt Berta dann auch am Abend am Stammtisch im Kehr wieder, »sie war gar nicht der Typ dazu.«

»Was für ein Typ muss man denn sein, um nachts von der Seebrücke in die kalte Ostsee zu springen?«, wundert sich ihre Nichte.

»Na ja, einsam, depressiv, zumindest unglücklich.«

»Und woher weißt du, dass sie das nicht war? Kanntest du sie so gut?«

»Nicht wirklich. Aber ich hab schon manchmal mit ihr geredet, wenn wir uns im Ort getroffen haben. Ich hatte nie den Eindruck, dass sie Probleme hätte. Sie wirkte immer zufrieden mit sich und der Welt. Sie war so stolz auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn und hat immer von dem kleinen Enkel erzählt. – Ich versteh es einfach nicht. Was ist da passiert?«

»Vielleicht hat sie die heile Welt nur vorgespielt«, mischt sich Gesa Huber ein und wirft über ihr Bierglas hinweg einen spöttischen Blick auf die alte Wirtin. »Du kannst auch keinem hinter die Stirn gucken und glaubst es gerne, wenn dir einer erzählt, alles ist super und das reinste Paradies.« Die hagere 65-Jährige hat ihr pechschwarz gefärbtes Haar im Stil der 60er-Jahre hochtoupiert und mit viel Haarspray fixiert. Der große gierige Mund ist dick mit dunkelrotem Lippenstift bemalt, die dunklen Augen wirken durch zu viel schwarzes Make-up klein und stechend. Ihre Kleidung soll sexy sein, wirkt aber nur billig. Der tiefe Ausschnitt ihres knallengen roten Pullis zeigt ein hervorstehendes Schlüsselbein und den faltigen Ansatz eines kleinen, hängenden Busens. Sie stellt einen peinlichen Kontrast dar zwischen Verführerisch-sein-wollen und es nicht zu sein. Das ebenmäßige Gesicht ist entstellt durch den Ausdruck ständiger Unzufriedenheit, der Mund immer zum Nörgeln verzogen. Sie ist vom Leben tief enttäuscht, fühlt sich ungerecht behandelt und hasst die Menschen, denen es besser geht als ihr. Und das sind ihrer Meinung nach alle, die nicht dauernd klagen, die gern lachen und freundlich miteinander umgehen.

Berta schweigt nachdenklich. Sie bemüht sich, ihre Antipathie nicht zu zeigen. Schon, weil Sophie und Anne die Frau nicht ausstehen können. Einer muss doch freundlich zu ihr sein, man kann einen Menschen, der niemanden weiter hat und so unglücklich ist, nicht auch noch aus der Stammkneipe vergraulen. Aber leicht macht sie es einem wirklich nicht, sie zu mögen.

Gesa Huber war vor vierzig Jahren eine auffallend schöne Frau. Groß und schlank, mit langen, glänzend schwarzen Haaren und einem hübschen Gesicht. Damals hat sie als Kellnerin im Erholungsheim Fortschritt gearbeitet. Die Männer waren verrückt nach ihr und sie hat das schamlos ausgenutzt. Und dennoch hat sie alles falsch gemacht. Für eine Karriere genügte die Sympathie der Vorgesetzten nicht, wie sie gehofft hatte. Sie hätte ihre Chancen nutzen, sich weiterbilden, Prüfungen ablegen müssen. Dazu war sie zu dumm und zu faul. Ihr Wunsch, in einem Büro zu sitzen und Anweisungen zu geben, hat sich nie erfüllt. Sie blieb eine einfache Serviererin und nach der Wende musste sie froh sein, in diesem Beruf noch eine Stelle zu bekommen. Fast jeden Winter war sie arbeitslos und bekommt deshalb nur eine niedrige Rente. Auch privat lief es nicht so, wie sie es sich erträumt hatte. Die von ihr bevorzugten Männer – in höheren Positionen, mit Geld und Einfluss – hatten den Nachteil, dass sie meistens verheiratet waren. Es gelang ihr zwar, in einigen Ehen Unruhe zu stiften, eine sogar zu zerstören, aber letztendlich ließ sich niemand an sie binden. Sie war zwar hübsch, aber eben doch ziemlich dumm und leicht durchschaubar. So war sie nie verheiratet, Berta kann sich auch nicht erinnern, dass sie mal länger mit einem Mann zusammengelebt hätte. Eines kann man ihr jedoch nicht nachsagen, nämlich, dass sie schwatzhaft wäre. Was sie sagt, ist immer genau überlegt. Meist gelingt es ihr, sich selbst positiv darzustellen, vor allem, indem sie schlecht über andere spricht. Wer der Vater ihrer Tochter Evelin ist, ist ihr am besten gehütetes Geheimnis.

Nicht einmal Berta weiß das genau. Und das will etwas heißen! Allerdings hat sie einen Verdacht, über den sie aber noch nie gesprochen hat. Das wird sich schon noch mal ergeben, bisher hat sie noch alles erfahren, was sie wirklich wissen wollte. Vielleicht ist es aber auch nicht so wichtig und für Evelin sogar besser, wenn sie es nicht weiß. Berta blickt zu der jungen Kellnerin hinüber, die gerade an einem Tisch die Bestellung der Gäste aufnimmt. Sie hat kaum Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, nur die schlanke Figur hat sie geerbt und die vollen Lippen. Aber ihre Nase ist zu groß für das schmale Gesicht, sie hat ein paar Sommersprossen und rote Haare, die allerdings blond gefärbt sind. Und ihre Augen sind blassblau, im Gegensatz zu den dunklen Augen ihrer Mutter.

Die beiden haben kein gutes Verhältnis, sie reden kaum miteinander. Gesa war noch nie eine gute Mutter, Zärtlichkeit und Liebkosungen hat ihre Tochter kaum bekommen, selten ein freundliches Wort. Ihre Erziehung bestand darin, dass sie das Kind angeschnauzt oder verspottet hat. Noch heute scheint Evelin die Frau mehr zu fürchten, als zu lieben.

»… oder glaubst du, sie ist gar nicht freiwillig in die Ostsee gesprungen? Wurde sie vielleicht ermordet?« Gesa reißt Berta aus ihren Gedanken und spricht genau das aus, was schon die ganze Zeit als vager Verdacht über dem Stammtisch schwebte.

Sophie stöhnt: »Also wirklich, nicht schon wieder! Bansin ist doch nicht Klein-Chicago. Mir reichen schon diese seltsamen Einbrüche. Bitte, Tante Berta, beschäftige dich damit und fang nicht wieder an, einen Mörder zu suchen!«

»Was kann ich dafür? Ich erfinde die Mörder doch nicht. Und ich locke sie auch nicht her. Im Gegenteil.«

»Was denn für Einbrüche?«, unterbricht Gesa. »Ist bei euch eingebrochen worden?«

»Nein, bei uns nicht. Bei anderen im Ort.«

»Ach so.« Das interessiert sie nicht sonderlich. »Wahrscheinlich waren es die Polen.«

»Nein, wahrscheinlich waren es keine Polen«, widerspricht Berta etwas scharf. »Vielleicht war es sogar jemand, den wir kennen«, denkt sie laut über einen Verdacht nach, den sie bisher noch mit niemandem geteilt hat. »Bisher waren alle, die auf diese Art bestohlen wurden, Gäste von uns.«

»Was soll das denn heißen?« Sophie ist entsetzt.

»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ist es ein Zufall. Nun reg dich nicht auf! Andererseits – irgendwie läutet da was bei mir. Das gab es schon mal, aber das ist lange her.«

Sie sieht Gesa an, der jetzt die blanke Panik im Gesicht steht. »Du glaubst doch nicht …«, stammelt sie.

»Ich weiß nicht, ich muss noch mal darüber nachdenken, wie das war. Es ist ja immerhin … Warte mal! … jedenfalls über dreißig Jahre her.«

Sophie beobachtet die Älteren gespannt. Es freut sie, dass Gesa Huber offensichtlich in Schwierigkeiten steckt, und sie wüsste gern, in welchen. Aber leider reden die beiden nicht weiter, sehen sich nur an, die eine nachdenklich, die andere ängstlich.

Sie denken an dasselbe Ereignis im Sommer 1988.

Dass Gesa Huber blass vor Angst ist, kann man unter dem ganzen Make-up nicht erkennen, auch nicht, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. Es kann doch nicht sein, dass die Vergangenheit sie wieder einholt, gerade jetzt, wo sie meint, ihren Ruf einigermaßen aufpoliert zu haben. ›Berta Kelling hat anscheinend ein Gedächtnis wie ein Elefant‹, überlegt Gesa. ›Ob sie wohl mit ihrer eingebildeten Nichte Sophie und der anderen blöden Gans, diesem Trampel Anne Wiesner, darüber redet? Eigentlich hat sie sich mir gegenüber bisher immer fair verhalten. Aber anscheinend verdächtigt sie mich, hinter diesen Einbrüchen zu stecken. Dabei habe ich diesmal wirklich nichts damit zu tun.‹ – »Zahlen«, herrscht sie Sophie an und holt mit zitternden Händen ihr großes rotes Portemonnaie aus der billigen Handtasche. ›Ganz ruhig!‹, redet sie sich selbst in Gedanken zu. ›Erst mal hier raus. Zu Hause muss ich in Ruhe nachdenken. Wie sie mich anglotzen, diese blöden Schnepfen.‹ Noch mehr als Annes neugieriger, beunruhigt sie Bertas mitleidiger Blick.

»Was war das denn mit Gesa?« Sophie hat die Haustür hinter Evelin geschlossen und die meisten Lichter im Raum ausgeschaltet. Nur die Lampe über dem Stammtisch ist noch an und schafft eine kleine gemütliche Insel.

Berta hat sich leise mit Anne unterhalten, als ihre Nichte sich mit einer Rotweinschorle dazusetzt und das Gespräch mit ihrer Frage unterbricht. Die alte Frau überlegt einen Moment, bevor sie den beiden Jüngeren von den Vorfällen vor mehr als dreißig Jahren erzählt. Vielleicht hat es ja wirklich mit den gegenwärtigen Einbrüchen zu tun. Außerdem widerstrebt es ihr, Geheimnisse mit Gesa Huber zu haben. Auch wenn sie es sich nicht so anmerken lässt, mag sie die Frau genauso wenig wie die anderen. Dass sie so verächtlich und mitleidlos über die tote Frau Hagemeister gesprochen hat, ärgert sie ganz besonders. »Aber erzählt es nicht Evelin!«, bittet sie trotzdem. »Die hat auch so schon genug Probleme mit ihrer Mutter.«

»Ja, sie kann einem leidtun«, bestätigt Sophie. »Sie ist so schüchtern und hat überhaupt kein Selbstwertgefühl. Bestimmt, weil die Alte sie immer nur runtergemacht hat.«

»Ob sie einen Freund hat?«, überlegt Anne. »Ich hatte mal den Eindruck, da läuft was mit Ben. Aber warum sollten die beiden ein Geheimnis daraus machen?«

»Wäre doch schön. Ich finde, die beiden passen gut zusammen.« Berta, die selbst nie verheiratet war, liebt harmonische Verhältnisse. Besonders, wenn sie durch ihre Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe dazu beitragen und zwei Leute, die gut zueinander passen, verkuppeln kann. »Evelin hat bestimmt einen guten Einfluss auf Ben. Ich finde, in letzter Zeit ist er doch ganz vernünftig, oder?«

»Na ja.« Sophie ist skeptisch. Sie mag den jungen Mann, den sie nur auf Drängen ihrer Tante als Küchenhilfe und Hausmeister eingestellt hat, nicht besonders. »Nach der Abmahnung reißt er sich schon ein bisschen zusammen, zumindest ist er nicht mehr so frech zu Renate. Er geht auch nicht mehr ganz so oft raus zum Rauchen. Aber er kommt mir immer wie eine tickende Zeitbombe vor. Ein falsches Wort und er explodiert wieder.«

»Er ist eben ein bisschen impulsiv, aber doch kein schlechter Kerl«, beschwichtigt Berta. »Seine Eltern sind so herzensgute Menschen. Sie haben ihn nur ziemlich verwöhnt. Er hat nie gelernt, sich für etwas anzustrengen und mal zurückzustecken. Deshalb ist aus seinen ganzen hochfliegenden Träumen nichts geworden. Und nun fühlt er sich von der Welt ungerecht behandelt. Aber dass er sich jetzt zusammennimmt, zeigt doch seinen guten Willen.«

»Oder er will hier nicht rausfliegen, weil er in Evelin verknallt ist«, vermutet Anne, die aus Erfahrung weniger an das Gute im Menschen glaubt.

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