Kitabı oku: «Bansiner Fischertod», sayfa 4

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Dienstag, 22. Oktober

Die Gaststätte ist zur Mittagszeit noch gut gefüllt, wahrscheinlich hat es sich unter den Urlaubern herumgesprochen, dass man hier gut und preiswert essen kann. Evelin ist eine gute Kellnerin, schnell und freundlich, wenn sie sich Trinkgeld davon verspricht. Manchmal vertut sie sich beim Herausgeben, natürlich immer zu ihrem Vorteil, aber das kann ja mal passieren, und sie übertreibt es nicht, sodass es Sophie noch nicht aufgefallen ist. Auch deshalb hält sie sich für sehr schlau und fühlt sich ihrer Chefin und deren Freundin überlegen.

Sophie scheint es nicht zu spüren oder es ist ihr egal. Anne aber muss sich anstrengen, um ihre Antipathie nicht zu zeigen. Schließlich hat die Frau ihr nichts getan. Aber dennoch …

»Was hast du eigentlich gegen Evelin?«, hat Berta sie kürzlich erstaunt gefragt.

»Nichts, gar nichts, was soll ich wohl gegen sie haben?«, war Annes Antwort. In Gedanken fügte sie hinzu: ›Ich habe nur manchmal das Bedürfnis, sie vors Schienbein zu treten oder ihr einen schweren Gegenstand auf den Kopf zu schlagen.‹ Aber wie hätte sie das begründen sollen? Bauchgefühl?

Sie konnte nicht wissen, dass auch Berta diese Ahnung hat. Aber Berta weiß, dass man nicht mit dem Bauch denkt und dass dieses Empfinden meist auf jahrelanger Erfahrung basiert, die im Unterbewusstsein gespeichert ist. Sie behält Evelin jedenfalls genau im Auge.

Anne ist heute schon mittags im Kehr wieder, also praktisch zu Hause. Sie setzt sich auf einen Barhocker vor dem Tresen und trinkt Kaffee.

»Wie war denn eigentlich deine Schiffsfahrt gestern?«, fragt Sophie, während sie Bier zapft. »Es war doch ziemlich stürmisch vormittags. Ich hab gesehen, dass die VINETA beim Anlegen ganz schön geschaukelt hat. Hast du deine Gäste alle heil an Bord gekriegt?«

»Ja, ging schon. Die Fahrt war herrlich. Ich habe oben an Deck gesessen und es genossen. Weißt du noch, wie wir als Kinder immer auf dem Rummel geschaukelt haben? Genau so war das gestern.«

»Richtig. Mit der Schiffsschaukel. Das hat echt Spaß gemacht. Wir wollten uns doch immer damit überschlagen. Haben wir das eigentlich mal geschafft?«

»Ich glaube nicht. Sonst wären wir wahrscheinlich rausgefallen. Meine Gäste fanden das übrigens nicht so toll. Einige waren ziemlich grün im Gesicht, als wir in Swinemünde abgestiegen sind. Und Schuld hatte natürlich ich.«

»Na klar, wer sonst. Du bist schließlich für das Wetter verantwortlich. Es war aber auch wirklich nur kurze Zeit so stürmisch. Mittags war das Wasser schon wieder spiegelglatt, so wie jetzt auch.«

»Ja, leider. Sie meinten, ich hätte ja gestern mit ihnen die Ortsführung machen können und heute Schiff fahren … als ob ich das vorher wüsste!?«

»Ach, bist du heute mit ihnen durch Bansin gegangen?«

»Ja. Und wieder gab es Ärger. Eine Frau wollte unbedingt am Seehof vorbeigehen, da war sie zur DDR-Zeit mal im Urlaub. Also bin ich in der unteren Bergstraße, am Schloonsee vorbeigegangen und wollte eigentlich dann irgendwo hinterm Seehof hochgehen, aber das geht ja gar nicht mehr. Man muss tatsächlich bis zum Kanal laufen, also praktisch bis nach Heringsdorf, um auf die Promenade zu gelangen. Rund ein Kilometer Umweg.«

»Na, und? Woher wussten die, dass das nicht dein normaler Ortsrundgang ist?«

»Es war ihnen zu weit, angeblich können die alle nicht mehr laufen. Alter schützt eben vor Faulheit nicht.« Sie dreht sich um, als sie eine Stimme hinter sich hört. »Dagegen unsere Tante Berta. Die rennt jeden Tag durch den ganzen Ort.«

»Ja, genau«, nickt diese grimmig, »nur so erfährt man doch, was los ist in der Welt. Und was ich heute erfahren habe, ist unglaublich.« Ihre Welt beschränkt sich zwar auf Bansin, aber das genügt ihr. Anne und Sophie sehen sie erwartungsvoll an, die alte Frau zieht langsam ihren Mantel aus und weist zum Stammtisch. »Ich muss mich jetzt erst mal hinsetzen. Ich erzähle es euch nachher. In Ruhe.« Sie stöhnt leise, als sie sich auf ihren Stuhl fallen lässt und erklärt Anne, die sich zu ihr setzt: »Ich glaube, ich werde alt. Mit tun alle Knochen weh, wenn ich zwei Stunden unterwegs war.«

»Vielleicht solltest du dir einen Rollator zulegen. Weißt du, so einen, wo du dich auch mal draufsetzen kannst, wenn du dich längere Zeit unterhalten willst.«

»Ja, das fehlte noch!« Berta ist empört. »Wie sieht das denn aus? So alt bin ich ja nun auch wieder nicht.«

»Ach komm, hör auf, dir was vorzumachen!« Anne denkt gar nicht daran, aus Mitleid etwas zu beschönigen. »Natürlich bist du alt. Sogar ich bin alt. Das ist mir gerade kürzlich klargeworden. Ich habe beschlossen, das Leben jetzt nur noch zu genießen. Ich habe endlich das Gefühl abgelegt, den besten Teil noch vor mir zu haben. Den Teil, für den man jetzt arbeitet und spart und Diät macht und Sport treibt und Klamotten kauft und freundlich ist zu Menschen, die man nicht leiden kann.«

»Da ist was dran«, überlegt Berta. »Ich tue ja eigentlich auch nur noch das, was mir Spaß macht. Ich hab zum Beispiel früher alles gelesen, was mir in die Finger kam. Jetzt ist mir klar, ich habe nicht mehr genügend Zeit, um alle Bücher dieser Welt zu lesen. Also muss ich auswählen. Meine Bildung ist abgeschlossen, die Bücher, aus denen man was lernt, kann ich mir also ersparen. Liebesromane interessieren mich nicht. Ich lese nur noch Krimis. Und am liebsten englische. Für mich ist einer der größten Vorteile der Wende, dass ich die jetzt bekomme.«

»Und dabei lernst du auch gleich noch was für deinen Alltag«, vermutet Sophie. »Was wollt ihr essen?«

Nach dem gemeinsamen Mittagessen geht Renate wieder in die Küche, wo sie lautstark mit Töpfen und Geschirr klappert. Evelin räumt noch den Tisch auf, an dem die letzten Gäste gesessen haben, dann verabschiedet sie sich mit einem »Bis später« in ihre zweistündige Pause. Sophie holt erst den obligatorischen Kaffee, dann setzt sie sich wieder zu Anne und ihrer Tante.

Die macht es spannend. »Ich bin heute mal zum Lidl hochgegangen«, berichtet sie, »weil die da das beste Obst und Gemüse haben. Und ratet mal, wen ich da getroffen habe! Frau Hagemeisters Nachbarin. Brigitte heißt sie, den Nachnamen habe ich vergessen. Auch so eine Alterserscheinung, befürchte ich. Aber er fällt mir schon noch ein.«

»Ist doch egal«, unterbricht Anne ungeduldig. »Ist das die Frau, die zur Reha-Kur war?«

»Genau die. Genau die, mit der ich sprechen wollte. Ich habe es doch geahnt. Übrigens, wisst ihr, wohin sie die zur Kur geschickt haben? Nach Trassenheide! Ist ja sicher toll für jemanden aus dem Süden, so eine Kur direkt an der Ostsee, aber für eine Bansinerin? Zwanzig Kilometer von zu Hause weg? Die spinnen doch.«

»Wahrscheinlich ist es billiger, als sie weiter weg zu schicken«, vermutet Sophie.

»Außerdem sind es dreißig Kilometer«, fügt Anne kleinlich hinzu.

Berta blickt sie empört an: »Als ob das … aber egal. Also, gestern ist sie nach Hause gekommen. Das muss Schicksal sein, dass ich ihr über den Weg gelaufen bin. Sie hat nämlich gerade überlegt, ob sie zur Polizei gehen soll. Stellt euch vor, sie hat einen Brief von Frau Hagemeister in deren Wohnung gefunden. Die Nachbarin hatte den Schlüssel zum Blumen gießen und so …, wenn mal was ist. Der Brief lag auf dem Küchentisch. Den hat Hagemeister wohl vor ihrem Tod geschrieben.«

»Nach dem Tod konnte sie es ja nicht mehr«, murmelt Anne, was ihr einen weiteren strafenden Blick von Berta einbringt, die aber unbeirrt fortfährt.

»Leider hatte diese Brigitte das Abschiedsschreiben nicht dabei, aber sie hat mir erzählt, was drin steht. Das ist wirklich ein Hammer! Liselotte Hagemeister hat einen Anruf bekommen. Angeblich von Schwester Marita – wisst ihr, die ältere Sprechstundenhilfe aus der Arztpraxis. Aber ich glaub nicht, dass sie es war. – Die sagte, Frau Hagemeister sei schwer krank. Krebs im Endstadium. Das hätte der letzte Befund ergeben – sie war wohl zum Blut abnehmen da, oder was weiß ich. Die Schwester hätte es ihr eigentlich gar nicht sagen dürfen, aber sie wolle sie darauf vorbereiten, dass ihr eine lange und schwere Behandlung bevorstehe. Und vor allem sei Frau Hagemeister nicht mehr krankenversichert. Was die Frau ihr da vorgelogen hat, wusste die Nachbarin nicht so genau, es ging auch wohl nicht aus dem Brief hervor. Nur, dass die alte Frau glaubte, sie solle die ganze teure Behandlung selbst bezahlen. Und da sie das nicht kann, ihre Tochter. Am Ende würde es sowieso nicht helfen. Deswegen, um sich das ganze Elend zu ersparen und vor allem, um ihre Familie nicht zu ruinieren, hat sie sich das Leben genommen. Das Perfide ist, sie wusste nicht, wem sie sich anvertrauen kann. Ihrer Tochter konnte sie das natürlich nicht erzählen. Und Brigitte, ihre Nachbarin, mit der sie auch gut befreundet war, wurde gerade am Herzen operiert. Da hat diese angebliche Schwester extra noch drauf hingewiesen, dass sie die nur nicht aufregen soll, es könnte ihr Tod sein. – Hätte sie mir gegenüber doch bloß etwas davon erwähnt«, jammert Berta. »Warum ist ihr das nicht eingefallen? Ich wäre doch gleich dahintergekommen, dass da was nicht stimmt. Zumal ihr Hausarzt am Tag nach dem Anruf in Urlaub gegangen ist und die Praxis geschlossen war. – Aber ich krieg raus, wer das war«, fügt sie entschlossen hinzu. »Damit kommt die nicht durch.«

»Ja, die arme Frau. Eigentlich war es ein Mord«, stellt Sophie fest. »Auch wenn die Anruferin das vielleicht nicht so krass gewollt hat.«

»Wer Liselotte Hagemeister kannte, konnte aber damit rechnen. Die wusste sich nicht anders zu helfen. Sie war auch ein bisschen naiv und ziemlich einfach gestrickt.«

»… sonst wäre sie auf diesen Mist auch nicht hereingefallen«, stellt Anne fest.

»Und gerade deshalb finde ich das gemeine Miststück.« Berta ist schon auf dem Kriegspfad. »Morgen gehe ich erst mal zu Brigitte und sehe mir den Brief selbst an. Polizei können wir uns sparen, dazu braucht man Menschen- und Ortskenntnis.«

Am Strand ist nichts mehr zu tun. Arno Potenberg hatte keine Lust, mit Plötz in der Hütte herumzusitzen, er wollte lieber bei Sophie sein. Im Moment läuft es mit den beiden gerade wieder ganz gut. Sophie ist jetzt Mitte fünfzig und die Routine, die sich in ihrer Beziehung entwickelt und die sie als langweilig gefürchtet hat, empfindet sie inzwischen als angenehm. Sie braucht keine Aufregung und kein Herzklopfen mehr, für Abwechslung in ihrem Leben sorgen ihre Pension und Tante Berta. Arno machte sich also auf den Weg zu Sophie, Paul beschloss, seinen Kollegen zu begleiten.

Jetzt sitzen sie beide am Stammtisch. Der alte Fischer trägt zwar immer noch seine Cordhosen, aber auf dem karierten Hemd sind heute mal keine Fischschuppen. Und er hat die grauen Haare sorgfältig gekämmt. Arno hat sich umgezogen. Der dunkelblaue Pullover, den er über einem Hemd trägt, betont seinen Wikingertyp.

Berta sieht auf die Uhr. »Für Grog ist es noch zu früh«, stellt sie fest, »für Bier auch. Wir trinken Kaffee.«

»Ohne Kuchen?«, mault Plötz, der sich zwar hauptsächlich von Fisch und Kartoffeln ernährt, aber auch gern mal was Süßes isst.

»Tut mir leid«, sagt Sophie. »Wir haben gerade gar keinen Kuchen da. Soll ich schnell was holen?«

»Lass mal, ich weiß was Besseres. Fangt ruhig schon an!«, entgegnet Berta.

Während ihre Nichte die beiden Männer, Anne und sich selbst mit Kaffee versorgt, geht die alte Köchin in die Küche. Zehn Minuten später kommt sie mit einem Tablett in der Hand wieder. »Hier«, sagt sie und stellt es auf dem Tisch ab, »frisches, warmes Weißbrot. Ich hab es noch mal in den Ofen geschoben. Mit Butter und Honig schmeckt das besser als jeder Kuchen.«

»Tante Berta, das war gemein«, stöhnt Anne nach einer halben Stunde und streicht sich theatralisch über den Bauch. »Weißt du, wie viele Kalorien wir uns da gerade reingepfiffen haben?«

»Ach was, Hauptsache, es hat geschmeckt.«

»Hast du eigentlich was Neues über die Einbrüche herausgefunden?«, fragt Plötz und schiebt seinen Teller beiseite.

»Ach siehst du, das wollte ich dir doch erzählen«, fällt Arno ein, bevor Berta antworten kann. »Ich habe mich ein bisschen umgehört. Bei uns im Dorf ist auch ein paar Mal eingebrochen worden. Und stell dir vor, wenn man nachfragt, stellt sich heraus, dass es alles Gäste von euch waren.«

»Scheiße!«, entfährt es Sophie. »Du willst doch nicht sagen, …?«

»Das kann natürlich Zufall sein«, beschwichtigt Arno. »Wenn die Einheimischen essen gehen, dann entweder beim Chinesen, beim Griechen oder sie kommen zu euch. Also war fast jeder aus dem Dorf schon mal hier. Und die meisten wissen ja eben nicht genau, wann der Einbruch passiert ist, weil sie erst später gemerkt haben, dass etwas weg ist. – Aber«, fügt er betont hinzu und sieht Berta eindringlich an, »eine Familie weiß genau, dass sie bei euch gegessen hat, als jemand in ihrem Haus war. Die Frau wollte gleich, als sie zurückgekommen sind, ihre Ohrringe in ein Schmuckkästchen legen und das war leer. Zwei Stunden vorher, als sie den Schmuck rausgenommen hat, lagen noch ein wertvolles goldenes Armband und eine Bernsteinkette drin.«

»So«, nickt Berta beinahe zufrieden, »da haben wir die Bescherung. Ich habe es geahnt. Also, wer steckt dahinter und vor allem, wie macht er es?«

»Mir fällt Gesa Huber dabei ein«, erklärt Paul. »War da nicht mal was vor dreißig, fünfunddreißig Jahren? Da hing sie doch drin, oder?«

»Ja«, gibt Berta zu. »Ich habe es Sophie und Anne schon erzählt, obwohl ich eigentlich nicht mehr darüber reden wollte. Ich dachte, es wäre vorbei und verjährt. Aber wenn das nun wieder passiert – die Ähnlichkeit ist schon auffallend.« Sie berichtet, wie Gesa damals Kollegen die Wohnungsschlüssel aus der Tasche gestohlen hat und bei ihnen zu Hause eingebrochen ist, während die gearbeitet haben. »Ich habe sie erwischt. Aber angezeigt hab ich sie dann doch nicht. – Ja, ich weiß«, wehrt sie die verständnislosen und empörten Bemerkungen der anderen ab, »ich hätte es tun sollen, aber sie tat mir eben leid. War schon immer ein armes Würstchen, unglücklich und unzufrieden, hat nichts auf die Reihe bekommen. Und dann hatte sie ja die Kleine, die war gerade ein oder zwei Jahre alt. Sie hat sich bei allen entschuldigt und alles zurückgegeben. Ich hab dann aufgepasst und es ist auch nicht wieder passiert.«

»Du denkst aber auch, dass du immer alles weißt«, stänkert Plötz, der Einzige in der Runde, der es wagt, Bertas Kompetenz wenigstens hin und wieder einmal anzuzweifeln. »Vielleicht hat sie sich danach nur geschickter angestellt. Außerdem hat sie ja nicht nur geklaut. Sie hat auch Leute erpresst. Sogar Fischer. Kollegen von uns. Das weiß ich genau. Sie hatte nämlich eine Zeit lang was mit Cuno, bevor der geflüchtet ist. Der Dussel hat sich schön von ihr ausfragen lassen. Vielleicht ist er ja sogar ihretwegen abgehauen.«

»Und so was sitzt bei uns am Stammtisch?«, empört sich Sophie. »Also ehrlich, Tante Berta!«

»Wo soll sie denn sonst hin?« Da sie selbst merkt, dass dieses Argument nicht zieht, fährt die Alte schnell fort: »Jedenfalls kann sie diesmal nicht die Einbrecherin sein. Wie hätte sie das machen sollen? Gut, sie hätte den Gästen die Schlüssel aus der Tasche klauen können. Aber wie weiter? Uns wäre doch aufgefallen, wenn sie zwischendurch mal eine Stunde verschwunden und dann wiedergekommen wäre. Und zurückbringen musste der Dieb die Schlüssel, die waren ja nicht weg.«

Eine Zeit lang denken sie schweigend nach.

»Vielleicht ist es doch ein Zufall und hat gar nichts mit uns zu tun?«, hofft Sophie unsicher.

Berta zuckt mit den Schultern. »Kann sein, glaub ich aber nicht. Lasst uns mal alle Möglichkeiten durchgehen!«

»Evelin?«, wirft Anne ein. Der Kellnerin würde sie so ein perfides Verhalten zutrauen. Außerdem ist sie Gesas Tochter. »Gesa könnte ihr doch davon erzählt haben und nun macht sie es nach.«

»Ja, das wäre naheliegend«, gibt Berta zu. »Aber wenn es passiert ist, während die Leute hier gegessen haben, hat Evelin ein Alibi. Sie kann nicht zwischendurch verschwinden, ins Dorf fahren und eine Wohnung ausrauben, ohne dass wir es bemerken.«

»Stimmt. Was ist mit Ben?«, überlegt Sophie, obwohl es ihr unangenehm ist, ihre Angestellten zu verdächtigen. Aber wenn es einer von ihnen war, wäre Ben ihr noch am liebsten. »Sonst ist doch abends keiner mehr da. Die Zimmerfrauen sind schon nachmittags weg und Renate …«

Berta schüttelt unwillig den Kopf. »Wenn wir nur genau wüssten, an welchen Tagen die Einbrüche stattgefunden haben«, denkt sie laut nach.

»Den einen Tag weiß ich«, wirft Arno ein. »Als meiner Nachbarin der Schmuck geklaut wurde, war das am 23. August. Da hatten die nämlich Hochzeitstag, am gleichen Tag wie meine Eltern.«

»Jetzt erinnere ich mich«, fällt Sophie ein. »Das sind sehr nette Leute. Der Mann hatte den Tisch bestellt, er wollte noch extra Blumenschmuck haben. Er hat gesagt: ›Meine Frau hat Hochzeitstag.‹ Das weiß ich noch.«

»Ja, das war er«, bestätigt Arno. »Die sind wirklich nett. Wäre schon gut, wenn wir herauskriegen, wer die beklaut hat. Vielleicht kriegt sie ihren Schmuck dann wieder.«

»Sophie, hol doch mal die Arbeitspläne!«, bittet Berta.

»Evelin hat bedient«, stellt die Wirtin dann fest, »die konnte bestimmt nicht zwischendurch weg. Und Ben hatte abends frei. Wenn der hier herumgeschlichen wäre, wäre es uns aufgefallen. Sogar, wenn er am Stammtisch gesessen hätte. Das macht er nämlich nie.«

Berta lehnt sich zurück. Sie ist ebenso erleichtert wie Sophie.

»Von unseren Mitarbeitern kann es niemand sein, das ist unmöglich. Aber wer kann den Leuten die Schlüssel aus den Jackentaschen nehmen und sie wieder zurückbringen, ohne dass es jemand bemerkt?«

Arno hat eine Idee. »Und wenn derjenige die Schlüssel gar nicht braucht? Weil er Nachschlüssel hat oder die Türen sonst irgendwie öffnen kann, mit einem Dietrich oder was weiß ich. Er achtet vielleicht nur darauf, dass die Leute beim Essen sitzen und vorläufig nicht nach Hause kommen.«

Anne nickt. »Das könnte doch sein. Aber auf jeden Fall ist es ein Einheimischer, der weiß, wo seine Opfer wohnen und dass dort niemand zu Hause ist oder kommt.«

»… und vermutlich ein Stammgast hier«, insistiert Paul Plötz und Berta nickt widerwillig. »Also kommen wir wieder auf Gesa Huber. Wohnt die nicht auch bei euch in Dorf-Bansin?«, fragt er Arno.

Der schüttelt den Kopf. »Hat sie mal kurz, weil sie ihre Wohnung im Seebad nicht mehr bezahlen konnte. Aber es hat ihr nicht gefallen. Sie hat gesagt, es wäre ihr zu weit zum Bahnhof und zum Einkaufen, die Busse fahren zu selten und sie hat ja kein Auto. Außerdem gibt es zu viele Hunde im Dorf. Jetzt wohnt sie in dem Plattenbau in Neuhof, da hinter dem Aldi.«

»Und dann fährt sie dauernd hierher?«, wundert sich Anne. »Haben die da keine Kneipe?«

»So weit ist es ja auch nicht, höchstens zwei Kilometer. Sie nimmt doch immer das Fahrrad. Auf der Promenade entlang ist sie schnell im Kehr wieder. Sie kommt eben nach Bansin, weil sie hier jeden kennt.« Berta versteht die Frau.

»… und jeder kennt sie. Das sollte ein Grund sein, sich eine neue Kneipe zu suchen«, wirft Sophie ein. »Oder hat sie vielleicht doch einen anderen Grund, hier zu sein?«

»Ich werde sie in jedem Fall im Auge behalten«, gibt Berta nach.

Mittwoch, 23. Oktober

Den Abschiedsbrief von Liselotte Hagemeister hat Berta mehrmals gründlich gelesen, aber er ergibt nichts Neues. Es ist genauso, wie die Nachbarin es erzählt hat. Die alte Frau wurde durch einen gemeinen, hinterlistigen Anruf einer Unbekannten in den Selbstmord getrieben. Wie verzweifelt muss sie gewesen sein! Berta hält das für noch schlimmer als Mord. »Bring den Brief doch lieber zur Polizei, wenn es auch nicht viel bringen wird«, rät sie resigniert. »Oder gib ihn lieber der Tochter! Soll sie entscheiden, was damit geschieht. Ach Gott, die arme Frau!« Diesmal denkt sie an die Tochter der Toten.

Mit Tränen in den Augen hat Brigitte, deren Nachname Berta immer noch nicht eingefallen ist, die Wohnungstür von Liselotte Hagemeister aufgeschlossen. Es riecht ein bisschen säuerlich. Wahrscheinlich ist die Milch, die auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank steht, schlecht geworden.

»War die Tochter denn noch nicht hier?«, wundert sich Berta, während sie sich in der kleinen Wohnung umsieht.

»Nein. Ihr geht es nicht gut, sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Natürlich macht sie sich schwere Vorwürfe. – Ach Gott, und jetzt muss ich ihr auch noch den Brief zeigen. Ich habe nur kurz mit ihrem Mann telefoniert. Da wollte ich nichts davon sagen. Sie müssen dann ja auch die Wohnung auflösen. – Meine Güte, was für ein Elend!« Die dunkelhaarige Frau, die immer noch blass und krank aussieht, lässt sich auf einem Küchenstuhl nieder und weint bitterlich. Anscheinend wird ihr das ganze Ausmaß der Tragödie erst jetzt klar, als sie in der verlassenen Wohnung ihrer Nachbarin steht. »Lotte muss so verzweifelt gewesen sein«, sagt sie weinend. »Sie hat doch in ihrem Leben schon so viel durchgemacht und nie den Mut verloren. Warum denn jetzt?« Es tut der Frau gut, über die Freundin zu reden, die sie sehr gemocht hat.

Berta hört schweigend zu. Das Leben der verstorbenen Frau berührt sie tief, obwohl oder vielleicht auch weil sie so typisch für ihre Generation ist. Hagemeister stammte aus einer Region, die heute zu Polen gehört, hat ihren Vater im Krieg verloren, die Flucht und die ganze schwere Nachkriegszeit durchgemacht. Sie hatte mit 22 Jahren geheiratet. Die beste Zeit ihres Lebens waren die 50er- und 60er-Jahre. Eigentlich waren sie und ihr Mann zufrieden. Luxus war selten, aber sie hatten alles, was sie brauchten und haben niemanden beneidet, zumal es hier kein Westfernsehen gab und man somit keine Vergleiche anstellen konnte. Sie waren immer fleißig und sparsam und konnten sich allmählich einiges leisten. Einen Fernseher, dann eine Waschmaschine, ein Bad wurde eingebaut, sie fuhren im Urlaub in den Harz oder ins Erzgebirge, einmal sogar nach Leningrad, das war eine Auszeichnung vom Betrieb ihres Mannes. In den Siebzigern hatten sie dann endlich auch ein Auto – ein Trabbi, auf den sie lange gewartet hatten. Dann kam die Wende und ihre Welt ist wieder einmal zusammengebrochen. Sie gehörte zu den Ersten, die arbeitslos wurden und hat dann auch nie wieder eine feste Anstellung gefunden. Nur immer mal für ein paar Monate im Sommer, im Winter lebte sie vom Arbeitslosengeld, machte Umschulungen oder bekam eine ABM-Stelle zugewiesen. Richtig verdient hat sie nie wieder, auch kaum Rentenbeiträge bezahlt, sodass sie nur die Mindestrente bekam. Nach Abzug der Fixkosten blieben ihr weniger als 200 Euro im Monat. Aber sie war zufrieden mit ihrem Leben. Sie freute sich, dass ihre Kinder jetzt die Reisefreiheit genießen konnten und dass ihr Enkel zu jeder Jahreszeit Obst und frisches Gemüse bekam. Sie hat sich nie darüber beklagt, dass sie zu der Generation gehörte, die am meisten für die Schuld aller Deutschen bezahlt haben. Wer konnte nur so gemein sein, diese alte Frau in den Tod zu treiben?

Berta hört zu, hält schweigend die Hand der Trauernden und streicht ihr dann tröstend über den Rücken. Als die sich langsam wieder beruhigt und in ihr Taschentuch schnieft, sieht sie sich in der Küche um. Alles ist sauber und aufgeräumt, nichts Überflüssiges steht herum. Kein benutztes Geschirr in der Spüle, der Fußboden glänzt ebenso wie die Arbeitsflächen. Selbst wenn es den Abschiedsbrief nicht gäbe, würde Berta bei diesem Anblick von einem Selbstmord ausgehen. Es ist typisch für die alte Frau. Obwohl sie ganz andere Sorgen hatte, wollte sie alles sauber und ordentlich hinterlassen. »Guck dich doch mal um! Fällt dir irgendwas auf? Fehlt was?«

Die Angesprochene schnäuzt sich noch einmal lautstark, dann steht sie auf, öffnet eine Tür des Küchenschrankes, holt eine Zuckerdose heraus und blickt hinein. Sie ist leer. »Da hatte sie immer ihr Geld drin«, erklärt sie.

»Ja klar, wo auch sonst.« Berta seufzt.

»Sie hatte Besuch«, stellt Brigitte nach einem weiteren Blick in den Schrank fest.

Jetzt wird es interessant. »Woran siehst du das?«

»Das Geschirr hier, mit den Streublumen, das war ihr Gutes. Das stand immer in dem Glasschrank. Die Tassen hatte Lotte so gekippt, damit man den Boden sehen kann. Da sind so hübsche Blümchen drin, siehst du? Deshalb sagt man ja Blümchenkaffee, wenn der sehr dünn ist, kann man nämlich hindurchsehen und …«

»Ja, ich weiß«, unterbricht Berta. »Du meinst also, jemand anderes hat das Geschirr weggeräumt. Wahrscheinlich der letzte Besucher. Warum?«

Brigitte zuckt ratlos mit den Achseln und blickt sich weiter um. Sie gehen ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer der Toten. Alles ist sehr einfach und bescheiden eingerichtet, viele Möbel stammen noch aus der DDR. Nur ein großes modernes Fernsehgerät fällt auf. »Den haben ihre Kinder ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt«, erzählt die Nachbarin und hat wieder Tränen in den Augen.

Berta öffnet das Schreibfach in der Anbauwand und sieht flüchtig die Papiere durch, die dort ordentlich gestapelt liegen. Sie weiß selbst nicht genau, was sie sucht. Eine Lebensversicherungspolice ist jedenfalls nicht dabei. Seufzend schließt sie die Klappe, sieht sich noch einmal in dem ordentlichen, gemütlichen Zimmer um und geht dann zur Wohnungstür. »Also, wenn dir noch etwas einfällt …«, setzt sie an.

Da unterbricht Brigitte sie aufgeregt: »Der Schlüssel ist weg.« Sie zeigt auf die Haken neben der Eingangstür. »Hier hing immer ein Ersatzschlüssel für die Wohnung. Lotte hatte vier Stück. Einer war an ihrem Schlüsselbund, das sie immer bei sich hatte, einen hat ihre Tochter, einen habe ich und der vierte hat hier gehangen. Der daneben ist meiner, also von meiner Wohnung.«

»So? Na, den nimmst du jedenfalls erst mal mit«, bestimmt Berta. »Das heißt also«, überlegt sie dann, »dass ihr Besucher den Schlüssel geklaut hat. Wahrscheinlich hat Lotte das gar nicht gemerkt. Und nach ihrem Tod konnte der in die Wohnung kommen, seine Spuren beseitigen und das Geld klauen.«

»Ja, aber das war bestimmt nicht viel«, vermutet die Nachbarin. »Sie kam doch immer gerade so über die Runden. Sie hat gespart, damit sie ihrem Enkel was Schönes zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken konnte. Das waren höchstens zweihundert Euro. Dafür treibt man doch keinen Menschen in den Selbstmord.«

»Nein, das glaube ich auch nicht. Für diese Gemeinheit muss es einen anderen Grund geben.«

Im Hausflur gibt sie der Frau die Hand und wirft schnell einen Blick auf deren Klingelschild. Jankowski steht da. ›Natürlich, Brigitte Jankowski! So heißt die!‹ Wahrscheinlich wird sie den Namen bald wieder vergessen. Aber das macht nichts. In anderen Dingen funktioniert ihr Verstand noch ausgezeichnet. »Also, pass auf!«, sagt sie leise aber eindringlich, während sie die Hand der Frau festhält. »Es ist durchaus möglich, dass derjenige, der den Schlüssel von Frau Hagemeister hat, noch einmal wiederkommt. Wenn du irgendetwas mitkriegst, mach nichts, ruf mich an oder die Polizei! Mich rufst du auch an, wenn dir noch irgendwas einfällt! Denk noch mal nach! Du kanntest sie doch gut. Wem nützt ihr Tod? Hatte sie Feinde?«

Die Nachbarin schüttelt ratlos den Kopf. »Lotte doch nicht. Die hat in ihrem ganzen Leben niemandem was getan.«

»Ja, das glaub ich auch. Aber es muss doch einen Grund geben. Also, überleg noch mal! Du wirst dich ja mit der Familie unterhalten, der Tochter und dem Schwiegersohn. Frag sie mal ein bisschen aus! Bei dir fällt das nicht auf, schließlich warst du mit der Frau befreundet. Und dann kommst du mal im Kehr wieder vorbei, wir trinken einen Kaffee und du erzählst mir alles.«

Zu Bertas Ärger sitzt Gesa bereits am Stammtisch, als sie in die Pension kommt. Sophies Gesicht ist anzusehen, dass sie davon genauso wenig begeistert ist. Sie steht hinter ihrem Tresen und poliert Gläser, sehr langsam und sehr gründlich, vermutlich, um sich nicht mit Gesa unterhalten zu müssen.

Vermutlich ahnt die das sogar, aber es ist ihr egal. Umso eifriger redet sie auf Berta ein, als die sich zu ihr setzt. »Wusstest du, dass sich die Schröders getrennt haben? Er soll schwul sein, das hab ich eigentlich schon immer gedacht, sieht man doch, so was. Ich frag mich nur, wo sie die Kinder herhat.«

»Gesa, bitte!« Berta verzieht angewidert das Gesicht. »Was geht uns das an, ist doch deren Sache.«

»Na, das musst du gerade sagen! Du mischst dich doch sonst in alles ein.«

Die Ältere will ihr gerade den Unterschied zwischen hilfreichem Einmischen und bösartigem Klatsch erklären, da stürmt Anne herein. Wütend schmeißt sie ihre Tasche auf einen Stuhl und Gesa einen ebensolchen Blick zu. Sie schluckt erst einmal, eigentlich möchte sie nicht, dass die neugierige Tratsche den Grund für ihren Ärger erfährt, aber dann kann sie es doch nicht für sich behalten. »Stellt euch vor, der Kurdirektor hat mich gerade angerufen. Er hat einen Beschwerdebrief bekommen.«

»Über dich?« Sophie hat ihr Geschirrtuch weggelegt und kommt an den Tisch. »Was stand denn drin?«

Gesa beugt sich vor und sieht Anne neugierig an. Ihre Augen blitzen und sie kann sich ein schadenfrohes Grinsen nur mühsam verkneifen.

»Dass ich … ach, das weiß ich nicht so genau.« Einerseits möchte sie ihren Ärger gern herauslassen, sie fühlt sich ungerecht behandelt, aber sie verschiebt das Gespräch dann doch lieber auf später, wenn sie ungestört mit ihrer Freundin und Tante Berta reden kann.

»Wahrscheinlich hast du irgendwelchen Blödsinn erzählt«, vermutet Gesa etwas enttäuscht.

»Das ist mein Job. Plappern gehört zum Handwerk.«

Evelins Dienst beginnt erst in einer halben Stunde, aber sie ist wieder etwas früher gekommen, das macht immer einen guten Eindruck, findet sie. Außerdem will sie dringend mit Ben reden. Sie hat ihn angerufen und er wartet schon hinter dem Haus in ihrer Raucherecke auf sie. »Ich habe eine neue Quelle erschlossen«, redet sie dann auch gleich leise auf ihn ein, nachdem sie sich gründlich umgesehen hat. »Berta hat heute Morgen etwas aus der Zeitung vorgelesen, über den Bauausschuss oder was weiß ich. Worum es da genau ging, habe ich nicht mitgekriegt, interessiert mich auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass der Wallner im Gemeinderat ist. Er hat sogar richtig viele Stimmen bekommen. Die Alte hat sich gewundert, dass er in diesem Jahr zum ersten Mal überhaupt kandidiert hat, wo er doch so bekannt und beliebt ist. Das hätte ich ihr erklären können. Ich weiß nämlich«, sie betont das Fürwort und hebt triumphierend die Stimme, »dass er bei der Stasi war. Der nette Mann hat seine eigenen Kollegen bespitzelt und verraten. Glaub ich jedenfalls«, schränkt sie ein.

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