Kitabı oku: «10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten», sayfa 3
Wir haben eine Wahl
Wenn Sie erst vor Kurzem mit Autismus in Berührung gekommen sind und jetzt dieses Buch lesen, möchte ich Ihnen sagen, dass Autismus an sich nicht so ein Unglück ist. Dass man Autismus nicht versteht, niemand da ist, der versteht, dass man nicht in der Lage ist, sich Hilfe zu holen, auch wenn sie da wäre, das ist dann ein Unglück. Sie stehen am Beginn einer langen Reise. Mit diesem Buch will ich Sie auf Wegweiser aufmerksam machen, denen Sie auf Ihrer Reise begegnen werden, damit sie mit ihnen vertraut werden und sie nicht als befremdlich und einschüchternd empfinden.
Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, für Ihr Kind und sich selbst das Wort zu ergreifen und Ihre Botschaft an diejenigen zu senden, die beteiligt sind: Lehrkräfte, Eltern, Geschwister, Familienangehörige, Therapeut*innen, Busfahrer*innen, die Eltern gleichaltriger Kinder, der Freundeskreis der Geschwister, die Vertreter*innen der Kirche und die Nachbarn.
Ich möchte Ihnen auf diesem Wege helfen, Menschen, mit denen Ihr Kind in Berührung kommt, ein Grundverständnis der wesentlichen Aspekte des Autismus zu vermitteln. Dieses Verständnis hat große Auswirkungen auf das Vermögen Ihres Kindes, später als erwachsener Mensch ein erfülltes und unabhängiges Leben zu führen.
Autismus ist komplex, aber in diesem Buch fasse ich die zahlreichen Aspekte in vier zentrale Bereiche: die sensorische Verarbeitung, die Kommunikation, das soziale Verständnis und die soziale Integration sowie das Selbstverständnis Ihres Kindes als ‚vollständiger‘ Mensch. Sie sind alle von großer Bedeutung. Aber warum sind diese Bereiche so wichtig?
Die sensorische Verarbeitung
Bei autistischen Menschen aller Altersgruppen kommt es zu Reaktionen, die durch Über- oder Unterempfindlichkeit gekennzeichnet sind. Das eine Mal sind sie immer gleich und vorhersehbar, das andere Mal ändern sie sich ständig und sind unvorhersehbar. Das hat zwangsläufig Folgen und Auswirkungen. Man kann von dem Kind nicht erwarten, dass es im kognitiven oder sozialen Bereich Lernfortschritte macht oder sich ‚benimmt‘, wenn es die Umgebung als ständiges Bombardement durch unangenehme Empfindungen oder hässliche Überraschungen wahrnimmt. Ihr Gehirn filtert tausende gleichzeitig einströmender sensorischer Informationen (was Sie sehen, hören, schmecken, berühren usw.). Seines macht das nicht. Vergleichen sie es mit anhaltend aggressivem Verhalten im Straßenverkehr. Die ganzen Signale überlasten den Hirnstamm. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn sie in einem Verkehrsstau stehen und an den Abgasen fast ersticken und der Lärm sie überflutet und Sie keine Möglichkeit haben, dieser Situation zu entkommen.
Kommunikation
Bei vielen autistischen Kindern ist die Sprachentwicklung verzögert. Ohne adäquate und brauchbare Mittel, sich auszudrücken, bleiben ihre Bedürfnisse und Wünsche unerfüllt. Das führt zwangsläufig zu Ärger und Frustration, sie können nicht lernen und wachsen. Die Fähigkeit zu kommunizieren, ob durch gesprochene Sprache, Bilder, Zeichen oder andere Hilfsmittel, ist von fundamentaler Bedeutung, weil es unbestritten ist, dass alle Kinder Gedanken haben, die sie zum Ausdruck bringen müssen. Die Annahme, dass ein Kind, das nicht kommunizieren kann, nichts zu sagen hat, ist so vollkommen lächerlich wie anzunehmen, dass ein erwachsener Mensch, der kein Auto hat, nirgendwo hin muss.
Soziales Verständnis und soziale Interaktion
Diese Fähigkeiten sind schwer zu fassen und zu definieren. Sie werden beeinflusst durch kulturelle Unterschiede, durch den kulturellen Kontext innerhalb einer Kultur, durch Beziehungskonstellationen und sogar durch die Tageszeit. Das Unvermögen des Kindes, die Aufmerksamkeit seines sozialen Umfeldes auf sich zu ziehen und dadurch ein Feedback zu bekommen, was es in einer bestimmten Situation sagen oder tun soll, kann es stark isolieren. Das autistische Kind, das es wahrhaftig ‚nicht versteht‘, kämpft gegen Windmühlen, wenn wir ihm keine eindeutigen Anweisungen erteilen, die sein soziales Gehirn erfassen kann, und wenn wir ihm nicht kontinuierlich Gelegenheiten schaffen, Kompetenzen, dann, wenn die Situation es erfordert, einzusetzen und einzuüben.
Das Selbstverständnis Ihres Kindes als ‚vollständiger Mensch‘
Jeder Mensch auf diesem Planeten ist ein ‚Pauschalangebot‘. Wir möchten akzeptiert und wertgeschätzt werden, wie wir sind, als Ganzheit, nicht als ein Bündel von Merkmalen, aus dem man die Rosinen rauspickt. Ihr autistisches Kind braucht eine qualifizierte Begleitung, um einen Platz in der Welt zu finden, an dem es sich wohlfühlt. Unter Einsatz positiver Energien und mit einer optimistischen Grundhaltung kann auf dieses Ziel hingearbeitet werden. Das heißt aber nicht, dass man das Kind ‚in Ordnung bringt‘.
Indem man einem Kind, ob es nun ‚besonders‘ oder ‚normal‘ ist, Fähigkeiten beibringt, die ihm zu Erfolg und Eigenständigkeit verhelfen, ‚bringt man es nicht in Ordnung‘ oder ‚heilt‘ es, sondern hilft ihm zu lernen, was es wissen muss und zu beherrschen, was es tun muss, um ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Es bedeutet, es in seinem kontinuierlichen Lernprozess zu lieben und zu führen und es dabei mit der gleichen Akzeptanz, die wir uns für uns wünschen würden, in seiner Ganzheit zu akzeptieren.
Bryce hatte Erfolg, aber nur weil er Selbstachtung gewonnen hatte, weil es ihm gelungen war, mit seinem Umfeld in Einklang zu leben und weil er jetzt als Erwachsener zunehmend in der Lage ist, sich auszudrücken und für sich einzutreten. Als diese Puzzleteilchen im Laufe seiner Kindheit und Adoleszenz an ihren Platz fielen, kamen die sozialen und kognitiven Lernprozesse in Gang. Mit jedem Jahr kamen neue, sehr erfreuliche Errungenschaften hinzu: Ich denke etwa an den Tag, als er in einem Schwimmwettbewerb in unserer Stadt einen Preis erschwamm, an den Tag, als er als ‚Grandpa Joe‘ singend und tanzend in Charlie und die Schokoladenfabrik auftrat. Oder an den Tag, an dem er zum ersten Mal mit dem Zweirad fuhr. Seine Begeisterung, als er das erste Mal mit Pfadfinder*innen unterwegs war und seine Euphorie, als er den Mut aufgebracht hatte, seine Kindergartenliebe zum Tanzen aufzufordern. Laufen war sein Ding. Während der sechs Jahre in der Mittelschule und der Highschool trat er in Leichtathletikmannschaften an. Ich denke an den Tag, als er seine erste Gehaltszahlung bekam. Als er allein auf Reisen ging, seinen Führerschein machte. Als er sein College-Zeugnis an der Wand aufhängte.
Auch wenn die vier Aspekte, die wir gerade beleuchtet haben, für viele autistische Kinder gelten, darf man nicht vergessen, dass der Ausdruck ‚Autismus-Spektrum‘ impliziert, dass kein Kind ganz so ist wie das andere. Jedes beginnt seine Reise an einem anderen Punkt des Spektrums, und jedes hat sein eigenes Tempo auf dem Weg durch seine Entwicklung und eine vollkommen berechtigte individuelle Perspektive. Und, was genauso wichtig ist: Alle Eltern, Lehrer*innen oder Erziehungsberechtigen haben ihr eigenes individuelles Verständnis von Autismus. Jeder Mensch, der beteiligt ist, ist ein komplexes Gebilde, wie ein Fernsehbild, das aus Millionen von Pixeln besteht. Deshalb gibt es kein allgemeingültiges Erfolgsrezept. Es obliegt jedem selbst, zu recherchieren, sich zu informieren und die notwendige Kleinarbeit zu machen. Und selten findet sich eine Gelegenheit, die Hände in den Schoß zu legen. Ein autistisches Kind zu führen, zu erziehen und wertzuschätzen, ist ein kontinuierlicher Prozess.
Beverly Sills, eine große Opernsängerin und Mutter zweier Kinder mit besonderen Bedürfnissen, hat einmal gesagt: „Es gibt keine Abkürzungen zu einem Ort, der einen Besuch wert ist.“ Das stimmt, aber die Reise kann von der Freude an Entdeckungen durchdrungen sein. Sie haben den Reiseführer in der Hand.
1. Kapitel
Ich bin eine ‚ganze‘ Person
Mein Autismus ist ein Teil von mir, aber ich bin auch noch mehr. Bist du nur eins, oder bist du ein Mensch mit Gedanken, Gefühlen, Ideen, Vorlieben und Abneigungen, Begabungen und Träumen? Bist du dick (übergewichtig), kurzsichtig (hast du eine Brille?) oder tollpatschig (unkoordiniert)? So etwas sehe ich, wenn ich dich zum ersten Mal treffe. Aber du bist doch mehr als das, oder nicht?
Ich bin ein Kind, ich lerne und ich wachse. Wir wissen beide nicht, was ich vielleicht alles kann. Wenn du denkst, ich bin nichts anderes als autistisch, dann traust du mir vielleicht zu wenig zu. Und wenn ich merke, dass du denkst, ‚das kann mein Kind nicht‘, dann denke ich, ‚warum soll ich es versuchen?‘
„Kennen Sie den Begriff ‚Autismus’?“
Das war die erste Frage, die mir von Bryce’ sonderpädagogischen Früherzieherinnen gestellt wurde. Es war auch das erste Mal, dass ich den Begriff ‚Autismus’ in Zusammenhang mit meinem Kind hörte. Das war für mich, wie wohl für viele andere Eltern auch, ein verstörender Moment. Dieses eine Wort brachte meine Vorstellung von der Zukunft meines Kindes völlig durcheinander, ich betrat unsicheren Grund.
Die Angst vor dem Ungewissen ist etwas, das bei allen Menschen eine große Angst auslösen kann. Aber in diesem furchterregenden Moment sah ich die Oktobersonne durch die Fenster hinter mir durchscheinen und hatte das Gefühl, dass sie sich wie eine beruhigende Hand auf meine Schultern legte. Da war die riesige Bedrohung durch das Wort ‚Autismus‘, ich wusste ja nicht viel darüber, aber ich sah auch ein Licht am Horizont, denn ich hatte eine Gewissheit: Mein Sohn war immer noch dasselbe Kind, das ich liebe und geliebt habe, seit ich von meiner Schwangerschaft erfahren hatte. Und ich war dieselbe Mutter, die mein Kind liebt und geliebt hat, der es Vertrauen schenkt. Was sollte Autismus daran ändern können?
Ich bin jetzt keine Verfechterin von Political Correctness in Szenarien, wo das aus meiner Sicht keine Rolle spielt, aber nach dieser ersten ‚Enthüllung’ musste ich entscheiden, wie ich zu meinem Kind und seinem Autismus stehen, und wie ich meine Sichtweise ihm selbst und den anderen in unserem Umfeld gegenüber vertreten könnte. War mein Sohn jetzt ein ‚Kind mit Autismus’ oder war er ‚autistisch‘? Das damals in der Gesellschaft übliche Bild von Autismus gründete sich weitgehend auf irrige Vorstellungen, und ich sah mich damit konfrontiert, dass Wörter einerseits einen Sachverhalt korrekt benennen können, andererseits aber Erwartungen oder Schubladendenken erzeugen und somit ein Hindernis für das Kind darstellen, langfristige und realistische Ziele in seiner Entwicklung zu erreichen.
Als meine Familie Mitte der 1990er-Jahre mit dem Spektrum in Berührung kam, bedeutete für Eltern autistischer Kinder und für Menschen, die beruflich mit Autismus befasst waren, das Wort ‚autistisch‘: ‚mit oder mit Bezug auf Autismus‘ oder ‚eine Person mit Autismus‘. Das ist auch heute noch so. Aber damals wie heute machen diejenigen, die mit einem autistischen Kind leben und es lieben, die frustrierende Erfahrung, dass es in der Welt um uns herum an Wissen über Autismus mangelt und das Denken von unfairen Stereotypen geprägt ist.
Zu der Zeit, als bei meinem Sohn die Diagnose gestellt wurde, wurde eins von 750 Kindern als autistisch diagnostiziert. Autismus wurde in der Regel als ‚seltene‘ und ‚rätselhafte Störung‘ (oder schlimmer noch als ‚Krankheit‘) beschrieben. Ob es uns gefiel oder nicht, Außenstehende reagierten damals auf das Wort ‚autistisch‘ nicht gerade positiv, kamen nicht auf die Idee, sich von der Etikettierung zu lösen und den Menschen dahinter in seiner Ganzheit zu sehen, voller Begabungen wie auch Eigenheiten. Üblich waren Reaktionen wie „Ohje. Schweigsamer, zurückgezogener Alien”. In erster Linie ging man von Einschränkungen aus. Oder wir trafen auf entgegengesetzte und dennoch erdrückende Assoziationen: „Ohje. Linkisches, antisoziales Computer-/Mathe-/Musikgenie.”
Die Wahrnehmung von Autismus veränderte sich grundlegend, als eine Generation von Kindern, die mit Autismus diagnostiziert worden war, sich als vor Leben sprühende und ausdrucksstarke Menschen, die sich vollkommen mit dem ‚autistisch‘-Sein identifizierten, Gehör verschaffen konnten. Durch sie bekam ein Wort, das zu ihren Kinderzeiten ausgesprochen negative Assoziationen geweckt hatte, einen anderen Klang. Früher ein banales Adjektiv, jetzt eines, das viele von ihnen selbst definieren. Ihre Stimmen sind authentisch und brachten mich dazu, meinen Gebrauch des Wortes ‚autistisch‘ zu überdenken. Aber es ist wichtig zu wissen, von wo wir kommen, um zu verstehen, wo wir jetzt sind.
Wenn negativen oder ungenauen Beschreibungen von Autismus der Boden entzogen wird, dann verändert sich allmählich die Wahrnehmung. Als Erstes sollten wir uns fragen: Welche Erwartungen werden durch Wörter geweckt?
Als ich anfing, nach Informationen zu suchen, um einen ersten Zugang zu dem Thema Autismus zu bekommen, stieß ich auf ein lächerliches Online-Wörterbuch, das zu dem Wort ‚autistisch‘ das Synonym ‚untauglich‘ nannte und dann noch auf eine lächerlich lange Liste mit 155 ‚verwandten Wörtern‘ verwies. Darin fand sich z. B. ‚betäubt‘, ‚katatonisch‘, ‚emotional tot‘, ‚gierig‘, ‚herzlos‘, ‚narzisstisch‘, ‚selbstsüchtig‘, ‚seelenlos‘ und ‚unnahbar‘. Nicht eines dieser Wörter beschreibt mein Kind, und ich vermute, Ihres auch nicht.
Auf lange Sicht – und es ist ja auch ein weiter Weg – ist Ihre Sichtweise des ‚Autismus‘ Ihres Kindes der entscheidende Faktor, der bestimmt, welche Ziele es letztlich erreicht. Egal wie Sie es bezeichnen, ob ‚Kind mit Autismus‘, ‚autistisches Kind‘, ‚Aspie‘, ‚aus dem Spektrum‘ oder ‚ASD‘. Bewusst oder unbewusst treffen Sie hunderte Male täglich Entscheidungen, die auf Ihrer Einstellung beruhen. Verlieren Sie den Blick auf Ihr Kind in seiner ‚Ganzheit‘ hinter einer Etikettierung, dann wird Ihr Leben und seines anstrengender.
Ihre Sichtweise des ‚Autismus‘ Ihres Kindes ist der entscheidende Faktor, der bestimmt, welche Ziele es letztlich erreicht.
Alle Kinder durchlaufen in ihrer Entwicklung Phasen des Gleichgewichts und des Ungleichgewichts. Die meisten Kinder testen ihre Grenzen aus, sagen gern ‚schmutzige‘ Wörter auch vor fremden Leuten, sind starrsinnig bis zum Gehtnichtmehr, schmeißen Spielzeug in die Toilette, wollen sich nicht waschen und weinen, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht.
Das alles auf Autismus zu schieben, ist nicht nur falsch und unfair, sondern Sie können dann auch nicht die Aspekte in der Entwicklung Ihres Kindes wertschätzen, die typisch für alle Kinder sind. Ihr Kind hat Hoffnungen, Vorlieben, Neigungen und Abneigungen, Ängste und Träume wie jedes andere Kind auch. Mit der Zeit und mit Ihrer Hilfe wird es Ihnen das mitteilen können, wenn auch nicht unbedingt durch Worte.
Jedes Kind hat es verdient, ohne den Ballast von Vorurteilen in sein Leben zu treten, gefördert zu werden und sich zu entwickeln. Etikettierungen sind selten harmlos, auch wenn sie nicht böse gemeint sind. Jedes Adjektiv, das man benutzt, um das Kind zu beschreiben, beeinflusst unsere Erwartungen und das Potenzial unseres Kindes.
Zu niedrig
„Bryce bekommt Einsen in meinem Unterricht“, sagte mir ein Lehrer beim ersten Elternabend in der Mittelschule. „Er macht alles, was von ihm verlangt wird, liefert die Hausaufgaben pünktlich ab, beteiligt sich lebhaft am Unterricht, und er stört nie.“
Weiter meinte er: „Ich dachte, ich wüsste alles über die Möglichkeiten autistischer Kinder, aber Bryce belehrt mich eines Besseren. Ich hatte schon autistische Kinder im Unterricht. Aber seine kreativen und organisatorischen Fähigkeiten sind viel besser als die der anderen …“
Mitten im Satz hörte er auf. „Ich glaube, ich verstehe es“, sagte er. „Durch dieses Wort schrauben wir unsere Erwartungen runter. Wir erwarten weniger von dem Kind, als es leisten kann. Liege ich da richtig?”
Ja, er hatte es verstanden. Und ein bisher schon guter Lehrer wurde ein noch besserer für alle autistischen Kinder, die nach Bryce zu ihm kamen. Der Lehrer hatte erkannt, dass durch die Etikettierung eines Kindes als ‚autistisch‘ im Kopf eine Schranke entsteht, eine Vorstellung von all dem, was das Kind vermeintlich nicht erreichen kann.
Jede Person, die mit dem Kind zu tun hat, errichtet die Schranke in einer anderen Höhe. Sei sie zu niedrig („Du denkst, ich kann das nicht. Warum soll ich es dann versuchen?“) oder zu hoch („Ich bin nie gut genug. Warum soll ich es dann versuchen?“), wieso sollten wir das Kind zwingen, eine zusätzliche Strecke zu bewältigen, nur damit es unsere schlecht durchdachten Erwartungen erfüllt? Der Weg ist auch so schon weit genug.
Zu hoch
„Heute Autist, morgen Genie“
Als ich dieses Motto auf dem Heck eines vor mir fahrenden SUV sah, dachte ich nur, wenn Stereotypen, auch wenn sie gut gemeint sind, oft genug wiederholt und verbreitet werden, dann sind sie gefährlich. Sie zeichnen ein elitäres klischeehaftes Bild, dem die meisten autistischen Menschen niemals werden entsprechen können. „Heute Autist, morgen Genie“: Durch diesen Slogan ist ein Scheitern der Menschen vorprogrammiert, die eigentlich damit unterstützt werden sollen. Ein Schulleiter9 einer Mittelschule sagte mir einmal, wie sehr es ihn freue, Bryce, ein autistisches Kind, aber eins, das weder ein Genie ist noch ein Verhaltensproblem hat, kennengelernt zu haben. Aber ist es nicht traurig, dass ein erfahrener Lehrer darüber erstaunt war, dass Bryce nicht einem Klischee entspricht? Wenn man die persönlichen oder gesellschaftlichen Erwartungen zu sehr hochschraubt, das autistische Kind als Intelligenzbolzen darstellt, dann läuft man Gefahr, eine realistische Sicht auf die Stärken und Schwächen des eigenen Kindes zu verlieren. Das Kind wiederum wird dann mit einem dauerhaften Gefühl der Unzulänglichkeit durchs Leben gehen. Stellen Sie sich vor, wie die Augen einer ungeduldigen Gesellschaft Sie verfolgen, sie mit den Fingern klopft, darauf wartet, dass sich das Genie offenbart. Ob das Kind nun mit Herausforderungen kämpft oder damit glücklich ist, wie es gerade zurechtkommt, ist dann irrelevant angesichts der vermeintlichen Größe, zu der es werden soll. Und eine (weitere) schwere Last.
Die Mutter eines Sechsjährigen hat mir einmal gesagt, dass die Frage, die sie hinsichtlich seines Autismus am meisten beschäftigt, die nach seinen Begabungen sei. Einige autistische Kinder werden irgendwann zu Genies. Die meisten aber nicht. Einige Menschen, die nicht autistisch sind, werden zu Genies. Die meisten aber nicht. Wir sind es unseren Kindern schuldig, an sie zu glauben, von ihnen überzeugt zu sein, sie zu unterstützen, egal ob sie irgendwann ein ‚Genie‘ werden oder nicht. Ein Genie zu sein, das bedeutet nicht zwangsläufig Unabhängigkeit, Produktivität oder Zufriedenheit im Leben. Wir kennen einen jungen autistischen Mann, der sich tatsächlich als Mathe-Genie entpuppt hat. Die Mutter macht sich Sorgen, weil es in der Familie noch mehr Mathe-Genies gibt. Leider langzeitarbeitslose Mathe-Genies. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Genies nicht so gut mit Kolleg*innen und Kund*innen umgehen können, sich schwer damit tun, Vorschriften zu befolgen, sich Ziele zu setzen, Termine einzuhalten. Sie wäre froher, wenn ihr Sohn ein bisschen weniger Genie, dafür gesellschaftlich besser integriert wäre und sich auf dem Markt etwas besser verkaufen könnte.
Zu breit
Ich möchte Ihnen noch einen Einblick in meinen Beruf geben, soweit es diese Diskussion betrifft.
Redaktion und Schreibwerkstatt ermahnen Autor*innen ständig, sie sollen nichtssagende Adjektive vermeiden und stattdessen aussagekräftigere Substantive, Verben oder Wendungen bevorzugen. Das fließt nicht immer so leicht aus der Feder. Es ist oft eine Anstrengung, diese spezifischeren, mehr gefühlsbetonten Konstruktionen zu Papier zu bringen. Aber damit wächst auch die Herausforderung beim Geschichtenerzählen. Ob Sie schreiben oder nicht, an dem Tag, an dem Ihr Kind geboren wird, fangen Sie an, eine Geschichte zu erzählen. Die Art und Weise, wie Sie die Geschichte in den jeweiligen Entwicklungsstufen Ihres Kindes erzählen, bestimmt, welche Menschen sich ihm zuwenden. Sie hat einen Einfluss darauf, wer bereit ist, eine Rolle auf einer einzelnen Seite der Geschichte, einem oder mehreren Kapiteln zu spielen und wer sich ausklinkt.
Wenn ich auf zahlreiche IEP-Treffen10 und Elternabende über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren zurückblicke, erinnere ich mich nur an sehr wenige Situationen, in denen ich oder die etlichen Lehrer*innen von Bryce den Begriff Autismus thematisierten.
Es ist mir lebhaft in Erinnerung, dass wir viele Stunden lang intensive Gespräche über die sozial-emotionale Kompetenz, über die sprachliche Entwicklung, die Sinneswahrnehmung, über kurz- und langfristige Ziele geführt und versucht haben, Herangehensweisen zu erarbeiten. Man könnte damit hunderte Seiten füllen. In kleinen Schritten haben wir über Jahre hinweg die einzelnen Herausforderungen definiert, formuliert, sind sie angegangen und haben sie gemeistert. Losgelöst von Schubladendenken hatten wir einen messbaren Erfolg. Mit der Zeit und mit unserer Unterstützung lernte Bryce, seine Anliegen geschickt selbst zu vertreten, und um das, was er brauchte, zu bitten. Dabei stützte er sich auf sein eigenes Verständnis dessen, wie er lernt und verarbeitet. Wie man diesen Lern- und Verarbeitungsstil benannte, war von untergeordneter Bedeutung. Er betrachtete seinen Autismus als wichtigen und existenziellen Teil seiner selbst, erkannte aber auch klar Aspekte in seiner Persönlichkeit und seiner Sicht auf die Welt, die man als ‚typisch‘ oder ‚üblich‘ bezeichnen könnte. Er verglich sich mit Mr. Spock aus Star Trek, bei dem der Vulkanier-Anteil und der menschliche Anteil nebeneinander existieren und sein Erleben des kognitiven und sozial-emotionalen Denkens beeinflussen – manchmal auf überraschende Art und Weise, aber immer als ‚ganze‘ Person.
Um unser autistisches Kind der Welt, die es bewohnen muss, zu präsentieren, müssen wir meistens etwas ausholen. Einfache Lösungen oder oberflächliche Beschreibungen greifen nicht. Wenn wir Tagesfreizeiten besuchten, zum Schwimmunterricht gingen, neuen Lehrer*innen, Begleiter*innen begegneten, mit der Nachbarschaft oder unserem Freundeskreis in Kontakt kamen, dann habe ich die Unterhaltung nie so angefangen, dass ich einfach gesagt habe, mein Sohn ist autistisch, sondern erläutert, wie sein Autismus ihn in der aktuellen Situation beeinflussen könnte. Ich habe eine kurze Liste mit Kommunikationstaktiken und Vereinbarungen erstellt, damit er das für sich Beste aus den verschiedenen Begegnungen herausholen konnte. Ich bat die Menschen, ihn direkt anzusprechen, aus der Nähe, die Standardsprache zu verwenden und Redensarten zu vermeiden. Mehr zu zeigen als zu sagen. Seine Aufmerksamkeit auf Gleichaltrige zu richten, an denen er sich orientieren konnte. Diese Anweisungen waren simpel, aber nicht banal. Durch diese konkreten Richtlinien hatten andere Menschen, denen mein Sohn begegnete, Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass sich Erfolge für ihn einstellen konnten.
Erst kürzlich bin ich auf einen Zeitschriftenartikel gestoßen, der anschaulich schildert, dass die Fähigkeiten autistischer Menschen ein breites Spektrum umfassen. Eine Mutter, die nach einem Unterstützungsprogramm für ihren Sohn suchte, meinte: „Er ist fast ein Genie, wenn es darum geht, Fakten zu lernen. Aber er kann nichts mit ihnen anfangen.“ In der Highschool hat er in theoretischer Mathematik eine Eins, aber Alltagsprobleme kann er nicht lösen. Diese Mutter sagte, es habe vier Jahre gedauert, bis er gelernt hat, allein mit dem Bus nach Hause zu fahren. Bei uns war es andersherum: Bryce ist am anderen Ende des Spektrums, und er hat eher Probleme mit abstrakter Mathematik, ein Bereich, der vielen Menschen Schwierigkeiten bereitet. Standardisierte Tests waren immer sein Erzfeind. Aber es hat nur eine Stunde gedauert, bis ich ihm, damals war er fünfzehn, beigebracht hatte, allein mit dem Bus zu fahren. Dasselbe gilt für andere Alltagsdinge, die er lernen wollte.
Beide, der Sohn der anderen Mutter und meiner, können als autistisch bezeichnet werden, wenn man den Begriff weit fasst. Das Wort an sich, losgelöst von negativen Konnotationen, hat aber keine Bedeutung, wenn es darum geht, mit den individuellen Herausforderungen und Bedürfnissen klarzukommen. „Mein Kind ist ‚autistisch’“, diese Aussage heißt für mich nur, dass es eine Diagnose hat, die ein breites Spektrum umfasst. Es hilft mir nicht, seine Herausforderungen, seine Stärken, seine beglückenden und zugleich besorgniserregenden Eigenschaften zu verstehen. Wer gewinnt seine Zuneigung, verwirrt oder verängstigt es? Was beunruhigt, fasziniert oder beschwingt mein Kind? Das müssen wir wissen, weil es nicht sein kann, dass ein einfaches Adjektiv, das möglicherweise falsch interpretiert wird, dazu führt, dass Kinder nicht so gefördert werden, wie sie es brauchen. Hier sehe ich eine Dichotomie, eine Gratwanderung: Man muss generell akzeptieren, dass die Diagnose Autismus lautet, sonst hätte man keinen Zugang zu individualisierten Dienstleistungen. Das ist korrekt und nicht per se schlecht. Aber es liegt an Ihnen, ob Sie den Begriff dazu benutzen, um eine Entwicklung voranzutreiben, oder als Entschuldigung dafür, dass Ihnen oder anderen Grenzen gesetzt sind.
Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir das Adjektiv ‚autistisch‘ in den Mund nehmen. Das öffnet Tür und Tor zu dessen missbräuchlicher Verwendung. Es kommt überall vor, dass ein Mensch, der unkooperativ, rebellisch, emotional distanziert oder irgendwie unkommunikativ ist, abwertend als ‚autistisch‘ bezeichnet wird. Mir sträuben sich die Haare, wenn ich einen Sprachgebrauch sehe, der unseren Kindern das Recht verwehrt, als Personen mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Stärken gesehen und gefördert zu werden sowie eine Ausbildung zu erhalten. In unserer Kultur inzwischen gängige Stereotypen, bequemes Schubladendenken, tragen nur dazu bei, dass unsere autistischen Kinder nicht als ‚ganze‘ Personen in der Gesellschaft akzeptiert werden. Und genau deswegen sollte man spezifischere und positivere Worte finden, um unsere Kinder zu beschreiben.
Viele Kinder, die als autistisch diagnostiziert wurden, sind älter geworden und jetzt Erwachsene, die sich selbstbewusst als Autist*innen bezeichnen. Andere lehnen diese Etikettierung oder eine andere ab. Das ist und bleibt ihre eigene Entscheidung. Wenn es gut gelaufen ist, dann gründen sie diese Entscheidung auf eine Kindheit, die frei von Vorurteilen und voll von Möglichkeiten war. Wenn sie dann erwachsen sind, haben sie über die Jahre hinweg viele Hürden genommen. In diesen Jahren wurden sie von Erwachsenen dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, sie wurden in ihrer kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung gefördert und haben gelernt, für sich selbst einzutreten. Sie wissen, dass möglicherweise einige ihrer Probleme auf Autismus zurückzuführen sind, dass ihr Autismus aber niemals eine Entschuldigung oder ein Freischein ist.
Also ob nun ‚autistisch’, ‚mit Autismus‘, ‚Aspie‘, ‚Autie‘, ‚aus dem Spektrum‘, prüfen Sie, ob das Wort oder die Wörter zu Ihrer Realität passen und fragen Sie sich, ob sie Ihre Sicht dessen, was die Zukunft für Ihr Kind bereithält und was es unserer Welt geben kann, in irgendeiner Weise limitieren. Wenn dem so ist, dann denken Sie daran, dass nichts, wirklich nichts, vorgezeichnet ist und dass Ihre gemeinsame Zeit unzählige Möglichkeiten bereithält.
9Bekanntlich sind im Englischen mit Begriffen wie ‚teacher‘ oder ‚student‘ immer alle Geschlechter gemeint. Wir haben versucht, dem so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Gleichwohl gab es Textstellen, wo es aus rein sprachlichen Gründen eleganter oder auch einfacher war, entweder nur die männliche oder die weibliche Form zu nutzen. In dem Fall sollen stets die nicht aufgeführten Geschlechter mitgedacht werden.
10IEP steht in den USA für ‚Individualized Education Program‘ und entspricht einem sonderpädagogischen Förderprogramm in Deutschland (Anm. d. Übers.).
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