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BILDER VON DER MENSCHLICHEN SEELE. MUTTER UND SOHN


Neues Wiener Journal, 3. November 1918

Die Wohnung befindet sich im Prater. Lange und graue Gassen, hohe Häuser, vollgestopft mit Artisten, kleinen Hausierern, allerlei Glücksspielern und Freudenmädchen.

Dort wohnt die Mutter.

Die Mutter steht ganz allein in der Welt. Wohl hat sie viele Kinder geboren; aber nur einer ist ihr von allen geblieben. Er ist in den letzten Jahren eine Berühmtheit geworden: ein berühmter Einbrecher. Vor einigen Tagen ist er aus dem Gefängnis entsprungen und wird von der Polizei gesucht.

Die Mutter ist Aufwartefrau in fremden Häusern. Wenn die Leute sie fragen, ob sie vielleicht mit dem bekannten Einbrecher verwandt wäre, sagt sie: nein; aber insgeheim trägt sie ein Mutterherz voll Kummer nach diesem Sohn. Immer lebt sie in Angst, er könnte kommen. Die Zeitungen liest sie in der Erwartung, etwas über ihn darin zu finden. Und vor einigen Tagen las sie: »Der bekannte Einbrecher … ist aus dem Gefängnis entflohen.«

Da erstarrte die Mutter, als sie es las, und ein unruhvolles Suchen ist seither in ihr; auf der Straße, bei den fremden Leuten, überall.

Zu Hause aber ist es ihr immer, als stehe jemand vor der Tür. Das war das Ärgste, wenn er kam. Er brachte Kameraden mit und Freudenmädchen und dann begann eine Zecherei. Die Mutter sollte mittrinken, aber sie wollte nicht; da war der Sohn beleidigt; er schlug auf den Tisch, daß die Flaschen und Gläser in die Höhe sprangen, dann verließ er mit den Kameraden und den Freudenmädchen schimpfend und fluchend das Haus.

Wenn er fort war und die Mutter dastand und nachsann, dachte sie, sie hätte vielleicht doch trinken sollen, dann wäre er bei ihr geblieben und nicht wieder der Polizei in die Hände gefallen.

O, man kannte ihn; jeder Polizist trug sein Bild bei sich; ein Entkommen war nicht möglich.

Vor einem Jahr hat die Mutter den Sohn zuletzt gesehen. Bevor er die große Strafe antrat, ist er zu ihr gekommen, hat ihr einen Sack Lebensmittel mitgebracht – damit sie nicht verhungere, während er nicht da ist. Geschrieben hatte er von dort nicht.

Müde von der Arbeit und dem Gram ihrer Seele geht die Mutter schlafen. Mit in den Schlummer nimmt sie ein Gebet für den Sohn, daß auch er in dieser Stunde Erlösung finden möge im Schlafe, daß er müde Richter finden und zu ihr zurückkehren möge.

Sie liebt diesen Sohn, wie man das einzige liebt, das man auf der Welt hat.

Kaum lag die Mutter im ersten Schlaf – es war eine frostige Novembernacht –, da war es ihr, als sehe sie draußen vor der Glastür einen langen Schatten; es war ihr auch, als hörte sie einen kurzen, schrillen Pfiff – eine lange Minute Stille, dann leises Stöhnen.

Die Mutter fuhr auf.

Nein, sie hatte nicht geträumt. Draußen stand ihr Sohn.

Sie schloß ihm sogleich die Tür auf und zog ihn hinein ins Zimmer.

Er hatte den Kopf verbunden mit Papierverband – er sah jämmerlich aus; seine lange Gestalt war ganz abgemagert. Das Gesicht mit den vorstehenden Knochen, das in allen illustrierten Zeitungen abgebildet war, sah fast kindlich aus.

Die Mutter legte ihn in ihr Bett; zu essen hatte sie nichts für ihn, nur eine Brotrinde; die gab sie ihm.

Er konnte nicht ruhig liegen; sein Körper war mit brandigen Blasen bedeckt, die in der Strafanstalt nicht behandelt wurden. Die Krankheit hatte er von einem Zellengenossen geerbt, Schmutz und Feuchtigkeit hatten sie verschlechtert.

Die Mutter wusch die Wunden; sie gab ihm reine Wäsche. Sie richtete sich auf dem Fußboden ein Lager neben seinem Bett.

In der Nacht hatte er Fieber. Er phantasierte.

»Mutter, warum hast du mich verstoßen?«, flüsterte er.

»Ich habe dich nie verstoßen.«

»Doch, du hast mich von dir gewiesen, darum bin ich schlecht geworden.«

»Du bist schlecht geworden und darum habe ich dich von mir gewiesen.«

»Mutter, ich büße für alles, das ich getan; fürchterlich büße ich. Ich habe aufgehört, ein Mensch zu sein und ein Menschengesicht zu tragen. Sie haben einen Teufel aus mir gemacht. Wenn ich nicht bald eingesperrt werde, begehe ich einen Mord. In mir ist alles Gift; ich hasse alle Menschen und alle hassen mich, auch dich hasse ich, Mutter.«

»Sohn, mein armer Sohn!

»Du weißt nicht, Mutter, was ich gelitten. Die Dunkelheit und die Einsamkeit und der Hunger und die Krankheit und grauenhafte Scheußlichkeiten, Menschen und Tiere, die einen peinigen. Noch fünf Jahre habe ich im Gefängnis zu sitzen. Man stirbt hundert Tode.«

»Ich leide mit dir, mein Sohn; ich sterbe hundert Tode mit dir.«

Mutter und Sohn sehen einander an. Die Mutter ist weißhaarig und ganz alt.

Der Sohn ist blond und jung; sein Gesicht ist hart verzerrt, aufgeschwemmt und von der Krankheit entstellt.

»Wenn ich bei dir bleiben könnte, Mutter! Für dich arbeiten! Dich lieben!«

»Das hast du mir schon oft versprochen und hast es nie getan.«

»Diesmal will ich es tun!«

»Du kannst aber nicht.«

»Es gibt also nichts, Mutter, für einen Sünder?«

»Es gibt nichts, mein Sohn …«

Der Sohn war eingeschlafen. Die Mutter wachte. Mit Wahnsinn in den Augen saß sie am Lager wie bei einer Leiche.

In der Früh kamen Polizisten. »Ist der entsprungene Häftling hier? – Anziehen und mitkommen!«

Der Sohn zog seine Lumpen an, die Polizisten faßten ihn mit hartem Griff und ohne ein Wort, ohne sich noch einmal umzusehen, ging er mit ihnen.

Die Mutter stand in der Mitte des Zimmers und blickte ihm nach. Ihre Augen waren groß und rund und glasig.

IM WARENHAUS


Neues Wiener Journal, 12. Januar 1919

Es ist drei Uhr nachmittags. Die eigentümlich träumerische Zeit, wenn noch nicht die elektrischen Lichter brennen. Eine Dämmerung wie auf freiem Felde liegt in diesem großen Käfig. Es ist wenig Kundenverkehr; die Verkäuferinnen stehen herum, plaudern miteinander, langweilen sich, grübeln nach, richten sich die Locken, pudern sich versteckt das Gesicht.

Manche sind noch jung; man hört sie über ein Wort, das die Kameradin ins Ohr geflüstert hat, laut lachen.

Aber viele, viele sind alt; haben Falten im Gesicht, Kummerringe um die Augen – das Leben und das Glück ist für sie ein für allemal verloren.

Sie stehen bei ihrem Ladentisch und verkaufen Bänder, Spitzen, Taschentücher und hundert andere Sachen, nur die Lustigkeit und Koketterie früherer Tage sind dahin. Hinter dem Ladentisch sind sie dahingewelkt und sind bissig und grob geworden. Sie beschimpfen die kleinen Lehrmädchen, die sie beneiden um ihre rosigen Wangen und glänzenden Augen, die sie hassen wegen ihrer Jugend.

»Ich bin lieber ungeschickt und dumm als alt und häßlich«, hatte ein fünfzehnjähriges Lehrmädchen im Zank zu einer vierzigjährigen Verkäuferin gesagt. So geht es zu. Der Wettstreit der Jahre im Warenhaus, eine stumme Tragödie, die Tag für Tag, Jahr für Jahr, spielt.

Vor dem Verkaufsstand für Strümpfe und Wollsachen stehen zwei junge Mädel.

»Wieviel Uhr ist es, Hedwig?«

Hedwig blickt auf ihre goldene Uhr, die sie von ihrem Geliebten geschenkt bekam, zum Dank dafür, daß es doch nicht das war, was er befürchtet hatte. »Wir können bald sperren, noch eine Stunde«, sagt Hedwig.

»Wie dumm«, meint die Kameradin, »jetzt haben wir so früh aus und man weiß doch nichts mit der freien Zeit anzufangen. Ich sitze, wenn ich heimkomme, bei meiner Mutter in der Küche und flicke unsere alten Fetzen bei der Kerze.«

»Warum nimmst du nicht ein Buch?«, fragt Hedwig.

»Ich lese nicht gern; nein; es interessiert mich nicht.«

»Na ja.«

»Man hat nichts von der freien Zeit. Früher hat es nie ein Ende nehmen wollen; es ist acht worden, es ist neun worden, und jetzt hat man auch nichts davon. Wohin soll man gehen? Alles ist so teuer.«

Hedwig hat einen Hustenanfall; sie hustet erstickt und erschrocken in ihr Taschentuch hinein.

Da flammt das elektrische Licht auf. Die Kameradin fährt zusammen.

»Hedwig, was hast du für ein bleiches, bleiches Gesicht?«

Hedwig lächelt. Wie hübsch sie ist mit dem roten Haar und den feinen, schmalen Wangen. Im grellen Licht sieht sie aus wie eine schöne Tote. Wie eine Tote auf der Bühne –

Im Konzertcafé. Sie sitzen in einer Ecke; jeder hat ein Gläschen Nougat vor sich. Ein paar Geiger und ein Klavierspieler spielen: aus den Deutschen Tänzen von Schubert.

»Ja«, sagt Hedwig, indem sie ihre Hand in die Hand ihres Geliebten legt: »Alles wird vergehen. Was ist der Mensch überhaupt? Man lacht und freut sich, man trinkt und liebt, man quält und härmt sich ab – und was ist das Ende? Man zerfällt in Staub. Alles vergeht, nur dies nicht.« Und sie summt leise mit dem Orchester die entzückende Melodie aus den Deutschen Tänzen.

Sie sitzen schweigsam.

»Hedwig, du bist nicht bei mir, du bist ganz woanders mit deinen Gedanken.«

Hedwig lächelt. Wie schön ist ihr junges Gesicht, wenn sie lächelt. Er sieht es und drückt ihre Hand.

Die Musikanten haben Pause. »Laß uns jetzt ernst reden, Hedwig. Wann kommst du zu uns ins Spital. Ich muss endlich wissen, was dir fehlt.«

»Ich werde schon kommen.«

»Komme gleich morgen. Morgen hat Doktor D. Dienst. Er ist sehr tüchtig: Er wird dir sagen –«

»Ich will es gar nicht wissen.«

Nach einer Weile sagt Hedwig: »Wie viel Prüfungen hast du noch?«

»In einem Jahr werde ich Doktor.«

»Und dann?«

»Und dann? Wie kann ich heute etwas sagen. Alles ist so ungewiß.«

»Ja, alles ist ungewiß.«

Die Musikanten spielen wieder. Den großen Gesang aus der »Bohème«.

»Ich werde heute nach Hause gehen«, sagt sie.

»So? Warum?«

»Ich habe Sehnsucht nach meiner Mutter, nach zu Hause.«

»Aber geh’.«

»Sie sieht mich eigentlich nie. Bei Tag bin ich im Geschäft und abends mit dir. Ich weiß nichts von ihr, sie nichts von mir. Wenn ich nach Hause komme, schläft sie, und in der Früh geht sie um sechs Uhr in die Arbeit.«

Hedwig schließt die Augen. Sie fühlt die Nähe des Geliebten wie einen Rausch. »Flüchtiges Glück!«, denkt sie. Wenn man jetzt einschlafen könnte und nicht mehr erwachen. Hier war es warm und licht, hier war Vergessenheit. Vergessen war die Mariahilferstraße – Fräulein, kann ich diese Socken auch in grau haben? Was kosten sie? Achtstundentag – ja – die Arbeiter werden es einmal besser haben. Es kommt eine glücklichere Zeit. Menschendämmerung!, hatte jemand in einer Versammlung ausgerufen. Auch für ihre Mutter wird es einmal besser werden. Weil sie auch zu den Arbeitern gehört. Was aber kann noch mit sechsundfünfzig Jahren besser werden … Nächstes Jahr macht er das Doktorat – ein Arzt. Die Hauptsache ist und bleibt ja aber doch ihre kranke Lunge.

Auf der Straße nimmt sie den Arm ihres Geliebten.

»Wohin gehen wir?«, fragt sie.

»Ich begleite dich natürlich nach Hause.«

»Ich will nicht nach Hause gehen.« –

Im Behandlungssaal des Krankenhauses.

Der junge Mediziner spricht mit dem Arzt.

»Wir wollen noch eine Röntgendurchsuchung machen, damit Sie es sehen können«, sagt der Arzt.

»Zieh dich noch nicht an, wir wollen noch ins Röntgenkammerl«, flüstert zitternd der Mediziner.

»Was haben Sie, Kollege; warum sind Sie so aufgeregt?«

»Gar nichts; es ist ein Mädel, das ich kenne.«

»Ach so – schade – hm, kein Zweifel, Todeskandidatin; wir werden es ja gleich sehen.«

Hedwig steht vor dem Röntgenapparat. Der Arzt und der Mediziner betrachten das Bild.

»Sehen Sie einmal, Herr Kollege.«

Und er zeigt ihm die Lunge seines geliebten Mädchens zerfallen und ausgehöhlt – ein letzter Fetzen Leben. Er sieht ihr Herz, ihr zärtliches, junges Herz; er sieht es mühsam arbeiten mit letzter Kraft.

»Verloren«, flüstert ihm der Doktor zu, »noch vier Wochen.« Dann geht er aus der Kammer.

»Hedwig, zieh dich wieder an«, er sagt es leise mit weißen Lippen.

»Ja, ja; ich weiß alles«, sagt sie, sieht ihn an und lächelt wie eine Tote.

VON DIENENDEN


Neues Wiener Journal, 18. Februar 1919

Eben bin ich nach Hause gekommen. Ich habe einen sehr geliebten Menschen noch eine Strecke Wegs das Geleit gegeben; dann bin ich ganz allein zu später Nachtstunde nach Hause gewandert und habe nachgedacht.

Man hat jetzt so viele Erlebnisse, und alle sind so wuchtig und schwer.

Wohin man schaut, Ungerechtigkeiten, erdrückendes Unrecht.

Man muß an die Menschen denken, die leiden!

O, wie kann ein Menschenherz leiden!

Wie eisig kalt … Wie gut wäre die Straßenbahn, die einen bis nach Hause brächte!

Man muß an die denken, die frieren; die sich irgendwo verkrochen haben mit steifen Gliedern, die ohne ihre Schuld die grausame Qual des Frierens erleiden müssen.

Ach – es heißt noch ein paar Tage die Zähne zusammenpressen, dann ist wieder der Frühling da – das Wunder, das uns sicherer ist als das Brot und über das man doch immer wieder staunt.

Seit ein paar Tagen spüre ich wieder eine gesammelte Kraft zur dramatischen Arbeit. Sie ist mir während der Jahre des Mordens abhanden gekommen. Man konnte ja keine Nacht ruhig schlafen ohne das Bild der Schlachtfelder vor sich, und jede Zeile niedergeschrieben, die nicht aus den Schreckensgeschehnissen des Tages hervorging, war überflüssig. Erst jetzt geschieht es wieder, daß die Eindrücke sich zu sublimieren beginnen.

Ich habe es in dieser Woche versucht, ein dramatisches Werk zu beginnen, und ich sehe mit Freude, daß es wächst.

Die ganze tiefe Liebe der Schaffenden umfängt mich wieder. Ich bin wie eine Mutter von vielen Kindern; so glücklich und so leidvoll!

Auf die erste Seite habe ich die Worte geschrieben: »Allen Dienenden gewidmet.« Und von Dienenden soll es handeln. Von armen Dienstboten. Und eine Tragödie des Hasses soll es sein. Die Tragödie eines Menschen, dem all seine Liebe in Haß gewandelt wurde. Aber das wäre nichts Neues. Denn das gerade ist der Kernpunkt jedes Dramas. Der Mord als die letzte Konsequenz des Hasses.

Es ist ein Uhr nachts. Ich habe bereits seit einer Stunde geschrieben und höre jetzt auf.

Wie zu einem Kinde sage ich: »Gute Nacht!«

Es hat bereits einen Odem, mein Werk, man kann die Herztöne fühlen; die Augen sind noch zu; bald werden sie erwachen.

Gute Nacht, du mein werdendes Kind! Der Dienenden muß ich gedenken. (So geht es den Menschen, die geistig arbeiten; den Schlaf ihrer Nächte »verdenken« sie. Und es wird Morgen und die Tagesarbeit ist da für sie so gut als für die anderen auch.) O, wer ein einziges Mal nicht denken bräuchte an das, was alles das Herz jetzt quält.

Wer, wie die Näherin, die den ganzen Tag an der Maschine gesessen hatte, sich müde hinlegen könnte zum Schlafe …

An die Dienenden muß ich denken.

Und ich werde wohl daran denken, ehe es in meinem dunkeln Zimmer grau geworden ist vom Frühdämmer.

… Vielleicht eignet sich das menschliche Herz am wenigsten zum Dienen.

Dienstbote sein, Magd, Knecht, das ist vielleicht das Härteste von allem.

Auch am besten Dienstplatz fühlt sich die menschliche Seele geknebelt und gefesselt; ein Sklave in Ketten.

Und wird sich immerdar so fühlen, denn das teuerste Gut des Menschen ist ihm genommen: die Freiheit.

Was er dafür eintauscht: Verköstigung, Lohn, ein Dach überm Kopf ist des Lebens nicht wert ohne das eine: Freiheit!

… Vor einiger Zeit kam ich in ein kleines, vornehmes und teures Hotel, um eine Freundin, eine Schauspielerin, aufzusuchen. Ich traf sie nicht an; sie war schon bei der Vorstellung im Theater; sie spielte an diesem Abend.

In ihrem Ankleide-, Empfangs- und Studierzimmer war es dunkel. Im Schlafzimmer brannte eine elektrische Birne.

Ein Stubenmädchen, eines von den »uniformierten« Hotelstubenmädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze, heizte im Ofen ein. Sie konnte mich nicht sehen – ich war unbemerkt eingetreten –, mir war alles hier bekannt. Ich nahm Platz beim Schreibtisch und versank sofort in Träumerei.

… Die armen Künstlerinnen in den paar armen kleinen Hotelzimmern. Da wurden sie daran gemahnt. Alles ist eitel: dieses Hotelbett, dieser Hotelkasten, dieser Spiegel mit dem gewöhnlichen, vergoldeten Rahmen; diese Tischchen, Sesselchen bis zum Thermometer, und diese Ottomane, Teppiche und Bettvorleger: Wie ist das alles fremd und lieblos.

Das Stubenmädchen schließt pflichtschuldig die Fenster, zieht die Gardinen zu, legt das seidene Nachtkleid der Künstlerin zurecht, stellt ein Glas Wasser auf das Tischchen neben das Schlafpulver, dann kommt sie herein, um hier Ordnung zu machen.

Ich frage sie: »Wo ist das Fräulein?«

»Ja, ich weiß es nicht.«

»Wahrscheinlich im Theater, nicht?«

»Ich weiß nicht, mir sagt sie es doch nicht.«

»Haben Sie sie denn nicht gesehen? Haben Sie nicht mit ihr gesprochen?«

»Was soll das Fräulein denn mit mir sprechen?«

»Nun, warum denn nicht? Ihr kennt einander doch schon so lange. So oft das Fräulein in Wien ist, wohnt sie hier, jetzt schon den zehnten Monat. Und da sind Sie einander noch nicht näher gekommen? Man sollte es nicht für möglich halten. Ein Mensch ist doch wahrlich wie der andere. Und warum so fremd? Warum diese Schranken?«

»Ja, das Fräulein hat anderes zu tun, als mit mir zu sprechen. Wer bin ich denn? Ein Mensch ist nicht wie der andere. Sie läutet mir zweimal, wenn sie etwas will: Wasser oder frische Handtücher oder die Schuhe bringen. Auch in der Nacht hat sie schon geläutet, wenn sie etwas brauchte.«

»Und Sie kamen?«

»Freilich kam ich; das mußte ich laut meines Dienstvertrages, und dem Fräulein wird es dann in die Rechnung gestellt.«

»Und wem läuten Sie, wenn Sie in der Nacht etwas brauchen?«

»Niemand; dazu habe ich kein Recht; ich bin nur ein armer Dienstbote.«

»Wie heißen Sie?«, frage ich.

»Marie; eigentlich heiße ich Anastasie, aber die Herrschaften hier sind gewöhnt an eine Marie, darum heiße ich auch Marie.«

»Marie«, sage ich, »Verzeihung, Anastasie, glauben Sie daran, daß es anders wird? Daß die Künstlerinnen mit ihrem Stubenmädchen ›sprechen‹ werden, daß die Menschen einander beistehen werden, daß sie einander die Bruder- und Schwesterhände reichen werden, um nicht länger armselig verlassen und allein dazustehen … Glauben Sie daran – Anastasie?«

»Wenn das wäre«, sagt sie, »aber dann bin ich schon zu alt.« Und sie läuft aus dem Zimmer, hinaus auf den Gang. Unten hat es schon mehreremale heftig geläutet. Man hört rufen: »Marie, wo bleiben Sie denn? Kommen Sie endlich, mir meine Schuhe ausziehen …«

Was Anastasie wohl damit meint: Dann bin ich schon zu alt.

POPPER-LYNKEUS ZUM 81. GEBURTSTAG


Neues Wiener Journal, 23. Februar 1919

Wie im Traum gehe ich jedesmal diesen Weg von der Elektrischen durch die paar kleinen Gassen, die Fasholdgasse, dann biegt man ab in die Trauttmansdorffergasse, die Wattmanngasse, dann kommt gleich die Woltergasse.

Es ist alles so ruhig, so feierlich; selten begegnet man Leuten; bald geht ein feudal aussehender Herr an einem vorüber; ein Hausmädchen mit einem Hund, und manchesmal hüpft ein Kind über den Weg; sonst aber ist es still.

So oft ich das Stückchen Woltergasse hinuntergehe, bis zum zweiten Hause, ist es mir, als fühlte ich mich von allem befreit.

… Das Haus hat ein Gärtchen, und Tannen sind darin, Blautannen. Im Sommer gibt es viele Blumen und die Vögel singen in den Bäumen. Jetzt liegt das Gärtchen im Nebel da und alles sieht aus wie verzaubert.

Ich gehe die Stufen hinauf. An der Türe ist ein Schild: Josef Popper. Ich läute. Annerl macht mir auf. Mit einem raschen Blick prüfe ich, ob sie wohl und gesund ist; dann liegen wir uns in den Armen. Mariedl kommt aus der Küche. Diese zwei Frauen, Tante und Nichte, diese zwei guten Hausgeister, diese beiden Heimchen bei Lynkeus! »Annerl«, flüstere ich – denn Popper schläft um diese Zeit – »wie geht es unserm …?« Und von ihrem Gesicht lese ich es ab. Ist das Gesicht rosig und heiter, liegt ein Lächeln über diesem schönen, junggebliebenen Frauenantlitz, dann geht es gut; ich habe ihr Gesicht schon an Tagen gesehen, wo es schmerzverzogen und trübsinnig war; dann ging es schlecht. Gestern war Annerls Gesicht wieder voll Sonnenschein; also ging es gut.

Ich sitze eine Weile bei Annerl und Mariedl. Sie erzählen mir ihre Wirtschaftssorgen, ihre häuslichen kleinen Freuden und Leiden; dann aber sprechen wir von Politik, von Büchern, von geistigen Sachen. Ich erzähle ihnen, was ich gelesen, was ich geschrieben habe.

Nach einer Viertelstunde ist Popper erwacht; man kann zu ihm hinein. Ich öffne leise die Tür, ohne anzuklopfen. Wie beseligend ist es, in diese teuern Züge zu blicken.

Popper ist vollkommen wohl, jugendlich und frisch.

Er ruht auf dem Sofa, aber manchmal geht er auch im Zimmer umher mit seiner hohen, aufrechten Gestalt – was sind die Jahre für das Genie –, man muß bewundernd stehen bleiben und ihn anschauen: Welch ein schöner Mensch! In einem dunkelgrauen Anzug, weißem Kragen, dunkler Halsbinde; fein und vornehm sieht er aus. Das wundervolle Haupt mit dem hermelinweißen Seidenhaar, die Augen, die eine Welt der Güte und Liebe ausstrahlen. Alles an dem Mann ist so göttlich groß und menschlich zugleich.

Ich setze mich zu ihm und wir sprechen. Ich halte seine Hand in meinen Händen und ich fühle es wie etwas Heiliges – soll ich es Traum, erfüllte Sehnsucht, Glück oder Ehrfurcht nennen –, ich möchte die Stunde festhalten, den Tonfall der geliebten Stimme mit mir nehmen.

Wir sprechen von der »Nährpflicht«. Ich sage, was mir gerade durch die Seele geht: Die Nährpflicht wird Wahrheit. Das Geld ist nichts mehr, die Ware ist alles. Alle Reichtümer, aller Besitz ist nichts, wenn nicht die Arbeit da ist, die hervordringenden Arbeiter. Ich komme täglich zu Menschen, die im schrecklichsten Elend leben. Frühgealterte Männer, die das Leben gepeitschter Tiere hinter sich haben; Frauen, die weder Glück noch Liebe kennen gelernt, die Kinder geboren in Haß und Verzweiflung, Kinder, die nicht lachen und spielen können, nur stöhnen und klagen. Es sind oft liebenswerte Menschen, edel in ihrem Denken und Fühlen und trotzdem geschändet von Armut.

In einigen Jahren, wenn der Sozialismus das Gut der ganzen Welt geworden ist, werden sich die Menschen besinnen: Wohltätigkeit – welch trauriger Schwindel, welch ein Betrug an den Armen! Jemand schenkt von seinem Überfluß, aber erst dann, wenn der Beschenkte am Zugrundegehen ist. Wenn ihm nicht mehr geholfen werden kann. An Stelle der schandbaren Wohltätigkeit tritt die soziale Fürsorge. Aber auch soziale Fürsorge wird immer Stückwerk bleiben. Nie werden die »Verschämten« in den Dachkammern aufgefunden werden, nie die Mutter, die schweigend für ihre Kinder hungert. Immer werden viele zugrunde gehen, viele verhungern, viele ungeheilt dahinsiechen.

Erst das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht wird die Menschheit von dem Übel der Armut und des Verhungerns erlösen.

Die größte Befreiungstat aller Zeiten, die nie ein Mensch für die Menschheit gefunden hat: Jeder im Staate ohne Ausnahme ist gesichert für Wohnung samt Einrichtung, Nahrung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege.

Keine Mutter wird mehr von der Sorge zerfressen werden: Wo nehme ich für den nächsten Tag Brot für meine Kinder; kein alter Arbeiter wird mehr denken: Wohin lege ich mein müdes Haupt, wenn das Asyl für Obdachlose geschlossen ist.

Die allgemeine Nährpflicht wird Selbstverständlichkeit, wird Gesetz geworden sein. Es wird nicht mehr denkbar sein, daß Menschen das, was sie unbedingt zum physischen Leben haben müssen, nicht bekommen sollten.

Popper-Lynkeus wird es erleben. Es wird das Wunder geschehen, daß einer der größten Gedanken, der je von einem der größten Menschen gedacht wurde – verwirklicht werde.

Wie könnte es anders sein! Das wirtschaftliche Programm der Sozialdemokraten, wenn es eines gäbe, führt nicht aus dem Chaos.

Es ist einfach und klar wie der Tag: Nur das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht kann Lösung und Heil der Zukunft sein.

Im Zimmer ist es finster geworden. Josef Poppers Augen schauen mich ernsthaft an.

In der Sofaecke lehnt der große Denker und Menschenbeglücker, leuchtet Lynkeus’ blasses Gesicht aus dem Dunkel.

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