Kitabı oku: «Abara Da Kabar», sayfa 3

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Ich startete den Wagen nicht. Ich griff nach dem Hebel rechts am Sitz, legte mich mit der Rückenlehne flach und schlief sofort ein. Ich träumte und der Traum war von großer Klarheit und Lautstärke. Da war ein junger Niederösterreicher, den ich aus dem wirklichen Leben kannte, ich meine, kennen ist ein bisschen viel gesagt, ich hatte ihn nur einmal getroffen, als ich ihn vor Jahren in einem Gefängnis in Bangkok besuchte, das man Bangkok Hilton nannte, um über ihn zu berichten. Ich schrieb eine Serie über im Ausland inhaftierte Österreicher, die auf der ganzen Welt verstreut mit ihren geplatzten Träumen im Gefängnis saßen. Der noch kindlich wirkende Niederösterreicher war bei der versuchten Einreise von Laos nach Thailand mit einem Kilo Heroin festgenommen und zu hundert Jahren Haft verurteilt worden. Als ich ihn besuchte, hatte er sieben Jahre abgesessen und der thailändische König hatte seine Strafe im Zuge einer Amnestie halbiert. Er hatte also noch dreiundvierzig Jahre zu sitzen und weil er aus einer Familie stammte, die sich seit seiner Kindheit nie um ihn gekümmert hatte und er von ihr also nichts, nicht einmal einen Brief, erwarten durfte und auch sonst niemanden in seiner Heimat hatte, er also wirklich allein war, hielt er sich mit der Vorfreude am Leben, mit den Jahren einer der einflussreicheren Langzeithäftlinge zu werden und in den Genuss eines Privilegs zu kommen, das nur solchen Häftlingen vorbehalten war: eine ein bis zwei Quadratmeter große Bodenfläche im Gefängnishof bebauen zu dürfen und eines Tages seine eigenen Tomaten zu ernten. In meinem Traum tauchte er nun als Richter auf.

Er thronte inmitten der Beisitzer wie auf einer Kanzel im Hintergrund, vor der sich ein Meer befand. Eine Wasserfläche jedenfalls, über die man zum Gericht hin blickte. Gerichtsdiener trugen Akten herein und entfernten sich wieder. Einzelne Mitglieder des Senates besprachen sich stehend, andere hatten bereits Platz genommen. Da bemerkte ich erst, wer es war, der über die Wasserfläche hin auf das Gericht blickte: Ich selbst. Ich war es, der hier vor Gericht stand. Und ich realisierte, dass ich weit, weit weg von Zuhause in einem Traum aufgewacht war, der kein Traum war, sondern Wirklichkeit, die nicht weg ging, auch wenn ich noch so oft weg- und wieder hinschaute. Ich presste die Augen zusammen und öffnete sie wieder, um mich in der heilen Welt meines Schlafzimmers wiederzufinden. Doch ich stand vor Gericht. Die Beisitzer sprachen miteinander. Sie schienen Formelles abzuklären. Dann wendeten sie sich mir zu, aber ich verstand kein Wort. Ich folgerte aus der Situation, dass ich der Angeklagte sein musste und mein Gefühl des unbeteiligten Zaungastes verschwand. Ich stand im Zentrum des Geschehens, aber mehr verstand ich nicht. Ihre Sprache klang hart und abgehackt. Völlig gefühllos, weder kalt noch warm und ohne merkliche Betonung oder Farbe wurde sie silbenweise ausgestoßen wie trocken knackendes Gebell. Sie war voll mit Lauten, die aus zusammengepressten Lippen hervorbrachen oder von einer krachenden Kehle her über den Gaumen rollten, bevor sie von einer schnalzenden Zunge abgeschossen wurden.

Es wurde gegen mich in einer Sprache verhandelt, von der ich nicht ein einziges Wort verstand. Alles andere lief so ab, wie ich es von Gerichtsprozessen kannte. Der Richter verlas stehend etwas, warf immer wieder den weiten Ärmel seines Talars zur Seite, der immer wieder zurückrutschte und sein Dokument halb verdeckte. Sein Oberkörper neigte sich ein wenig seitwärts und er las sehr schnell, als gebe es ohnehin keine Widerrede. Er strahlte die Souveränität und Entschlossenheit eines unnahbaren Regimes aus, das alle Rechte hatte und gegen mich vorging. Der Richter hielt inne und blickte auf. Eine sehr übergewichtige Person in ziviler Kleidung hatte sich von einer Sitzreihe zur Linken des Gerichtes erhoben und sagte zwei, drei kurze, unbeteiligte Sätze. Dann hob er die Hand zum Zeichen seiner Bitte um Geduld und blätterte mit der anderen Hand in seinen Unterlagen, ohne die erhobene wieder runterzunehmen. Dann zog er ein Blatt aus dem Aktenberg, hob es präsentierend hoch und kommentierte es mit einigen Knacklauten. Der Richter durchwühlte mit schnellen Bewegungen einen seiner Ordner, schien nichts zu finden und blickte wieder den Übergewichtigen an, der nun mich anschaute, während er ein kehliges Schleifgeräusch ausstieß, das mit einem abgewürgten Stöhnen endete. Ich entnahm seinen Lauten nicht einmal, ob es eine Frage oder eine Mitteilung war. Er wartete zwei Augenblicke und als von mir nichts zurückkam, wandte er sich gleichmütig wieder an den Vorsitzenden und nickte. Alles schien vorbereitet. Aber ich wusste nicht, was. Das einzige, was ich zu verstehen dachte, war das Nicken des Übergewichtigen, das wohl ein Ja bedeuten musste, obwohl nicht einmal das gesichert war, denn die Inder etwa schüttelten den Kopf, wenn sie etwas bejahten. Der Übergewichtige sah jedenfalls aus wie ein Verteidiger, vielleicht mein Pflichtverteidiger, der etwas bejaht hatte. Sonst wusste ich nichts. Ich wusste nicht, was man mir vorwarf, nicht einmal, ob man mir überhaupt etwas vorwarf. Sicher schien nur, dass es ein Strafgericht war, aber nicht einmal dafür hatte ich eine Bestätigung. Theoretisch konnte es auch ein Verfahren zur Gewährung eines lebenslangen Luxusurlaubes sein, aber dagegen sprachen die schwer bewaffneten Justizbeamten, die bewegungslos links und rechts neben mir standen und mit dem Kinn auf den Richtersenat zeigten. Sie erstickten meine Fluchtgedanken im Keim. Ich nickte Kontakt aufnehmend und einladend in Richtung des Gerichts. Ich bot gestisch meine volle Kooperation an. Vielleicht hatten sie ja recht. Das konnte man besprechen. Ich hatte nicht vor zu lügen und so hätte man vielleicht das Prozedere abkürzen können und Klarheit schaffen und Ordnung, was vermutlich alle wollten, auch ich, ich sicher, vielleicht noch mehr als sie. Außerdem, wer war schon frei von Schuld? Und ich, ganz offen gesagt, fühlte mich auch nicht schuldlos. Natürlich waren Fehler passiert, das wollte ich nicht bestreiten, es wäre ja unsinnig und unglaubwürdig und vielleicht strafverschärfend, jeder hat Verbrechen begangen, zumindest an der Demut, an der Aufrichtigkeit und Unterwürfigkeit, wenn schon nicht an Leib und Leben.

Der Lauf der Verhandlung rollte über mich hinweg, als wäre ich nicht da, als würde in meiner Abwesenheit gegen mich verhandelt. Ich versuchte zu sprechen, aber da kam kein Laut aus meinem Mund. Ich wollte dem Gericht bedeuten, ja, ok, ist ja gut, ich komme euch entgegen, man muss mich gar nicht zwingen, ich sträube mich nicht. Ich spürte das Verlangen, meiner Schuld einen Grund zu geben, dieses diffuse Gefühl des Schlechtseins, das sich in mir breitmachte, mit einem konkreten Vorwurf zu identifizieren und bereubar zu machen. So bat ich mit den Augen um Bestätigung meiner Schuld. Aber niemand achtete auf meine geblickte Aussage. Ich war bereit, mich schuldig zu bekennen, aber man hatte mich nicht gefragt. Ich wollte ein volles Geständnis ablegen, aber welche Sache betreffend? Oder einen Gegenbeweis antreten, aber wovon? Ich wollte schuldig sein, doch konnte ich es nicht, weil ich nichts verstand. Ich verstand diese Sprache nicht und ich hatte diese melodielosen Geräuschketten noch nie gehört. Aber sie schienen ausschließlich aus Konsonanten zu bestehen. Es war wie unter Wasser, es war, als würde ich nun doch nicht an einem Ufer stehen und über das Wasser hinweg zur Kanzel blicken, sondern unter Wasser sein, ohne Luftraum, durch den sich Laute hätten bewegen können.

Da sah ich den Gerichtsschreiber. Er saß zur Rechten des niederösterreichischen Vorsitzenden aus dem Bangkok Hilton und blickte nun auf. Ich wunderte mich, ihn bis dahin nicht wahrgenommen zu haben, denn schon sein Aussehen wirkte, als käme er aus einer gänzlich unbekannten Kultur. Seine lange, gebogene Nase erinnerte an einen Schnabel, seine Augen waren außergewöhnlich groß und außergewöhnlich schwarz und sein kommentarloser Blick war klar wie Gebirgsluft. Er musste einer hierarchischen Ebene entstammen, die Dimensionen drüberstand. Er, und nur er, war hier der wahre Vorsitzende, auch, wenn er wie ein Besucher wirkte. Und dann erkannte ich ihn: Tehut. Es war Tehut. Der Erfinder der Schrift. Der Protokollchef des Totengerichts. Tehut, der Schreiber.

Da klopfte es. Ich öffnete die Augen und sah das gequält lächelnde Gesicht eines alten rumänischen Bettlers, der mir durch die verschmierte Windschutzscheibe zunickte und die Hand aufhielt. Die Sonne stand schon hoch und im Wagen war es heiß geworden. Mein Kopf steckte unter einer schmerzenden Trockenhaube. Mir war übel, Schweiß verklebte mich von oben bis unten und ich war erleichtert, in Wien zu sein und angebettelt zu werden. Ich öffnete die Wagentür. Die kühlende Luft auf meinem nassen Körper fühlte sich an, als würde ich Wasser aus dem Paradies trinken.

Mein Traum befand sich noch in der Nähe und hallte nach. Erinnerungsgefühle aus einer fremdartigen Tiefe wehten herauf und ich spürte eine vergessene Vertrautheit, wie ein Wiedersehen mit meinen entferntesten Augenblicken, die weiter weg waren als ich jemals gewesen war und möglicherweise selbst aus Träumen stammten. Ich schleppte mich hinunter zum Donaukanal und ließ mich im Schatten nieder. Es stank nach Urin, duftete nach Lindenblüten und roch nach den fauligen Dieselabgasen der Fähre, die Richtung Bratislava abgelegt hatte und mit winkenden Urlaubern an Deck lautlos vorbeizog. Die bunten Graffitis an den Ufermauern verschwammen, wenn sie nicht schon verschwommen waren. Ich war zufrieden, als wäre ich durch ein Ziel gegangen. Aber ich wollte nur noch kotzen. Da sah ich, dass der Bettler noch da war und mir eine Flasche Wasser unter die Nase hielt. Ich trank und dann kam ein dicker, gelblicher, verklumpter Strahl aus meinem Mund wie aus einem Abwasserrohr. Alles wurde leichter. Und der Bettler lachte begeistert mit zahnlosem Mund und kindlich glänzenden Augen.

War ich aufgewacht, obwohl die Verhandlung weiterlaufen sollte? Hatte der Bettler bewirkt, dass das Verfahren vertagt wurde, um in der Zukunft weitergeführt zu werden? Oder erinnerte ich mich nicht mehr an alles und es war auch zu einem Urteil gekommen? Hatte man mich verurteilt? Es dürstete mich nach Gewissheit wie nach Wasser. Ich hoffte, verurteilt worden zu sein, ich hatte Lust, verurteilt worden zu sein und ich wollte es wissen. Vor allem die Urteilsbegründung hätte mich interessiert. Mehr noch als das Strafausmaß. Fast wäre ich gern verurteilt gewesen, nur um zu erfahren, wofür und zu was. Dieses Gericht schien viel über mich zu wissen, sehr viel. Und ich wollte es auch erfahren. Aber es gelang mir nicht, weitere Bilder des Traumes auszugraben. Sie entfernten sich, verloren ihre Lautstärke und Fragwürdigkeit. Nur das Gefühl tiefer, alter Verwandtschaft blieb noch lange und wurde nur langsam schwächer. Ich fuhr in meine Wohnung und fiel ins Bett.

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Als ich am späten Nachmittag erwachte, dachte ich, das Piepsen meines Mobiltelefons gehört zu haben, das den Eingang einer Nachricht meldete, vergaß es aber gleich wieder. Ich fühlte mich entleert. Mein Magen war sauer und mein Genick so verspannt, dass der Schmerz auf beide Schultern ausstrahlte, besonders auf die linke, wo er bis zum Ellbogen durchstach. Meine Wohnung lag in einem fremden Dämmer und in meinem Kopf lärmte eine Großbaustelle. Die Aufgewühltheit, die der Traum hinterlassen hatte, war abgezogen und hatte einer schuldbeladenen Leere Platz gemacht, einer seelischen Übelkeit, die das Halbdunkel meiner Wohnung noch tiefer machte. Mir war, als triebe ich nächtens allein auf hoher See, wogenden, schwarzen Bergen aus Wasser ausgeliefert, und ich wünschte mich zurück in die Harmlosigkeit meiner kleinen Welt. Ich wollte auf die heranrollenden Wasserberge einreden und spürte die Abwegigkeit dieser Idee. Die hohe See hörte kein bisschen zu. Sie trieb keinen Handel und sie machte sich nichts aus kleinen Lungenatmern, sondern ersäufte alles, was keine Kiemen hatte. Der Bettler hatte mich aus der Verhandlung geholt, noch bevor sie zu Ende war. Ich hatte mich an der Kippe gesehen, von dem Regime aus dem Verkehr gezogen zu werden. Mir war bewusst geworden, dass das jederzeit passieren konnte.

Ich kochte Kaffee, schluckte Tabletten, setzte mich an den Schreibtisch und begann, in den Archiven internationaler Zeitungen und einiger Universitäten nach Beiträgen zum Thema »Sprache« zu suchen. Ich überflog, las quer, tauchte da und dort tiefer, ließ wieder ab und ging weiter. In keinem einzigen dieser Texte klang auch nur entfernt etwas an, das in meine Richtung deutete. Nirgendwo war die Rede von einem Kommunikationsproblem, das vom System ausging. Der Tenor lautete: Die Sprache ist ein rätselhaftes Wunderwerk, ein Geheimnis. Sie schenkt uns die Kommunikation und nicht ein Kommunikationsproblem.

Obwohl ich längst wusste, dass ich an eines der ganz großen Themen geraten war, sah ich erst jetzt, wie gewaltig riesig es wirklich war. Es reichte bis an den Horizont und ging daher vermutlich auch darüber hinaus. Alle Protagonisten des Denkens, Forschens und Schaffens sämtlicher Epochen und aller Kulturen vom Altertum bis herauf in die Gegenwart äußerten sich über die Sprache. Sprache ist … begannen sie alle und dann folgte etwas Hellsichtiges, Ergreifendes, sprachlich Virtuoses, nachdenklich, malerisch, angestrengt, wütend, kategorisch, tastend, resignierend, originell, leidend, bohrend, anbetend, verdammend, verstiegen. Tausende Jahre lang hatten sie ihre Gedanken über das ungreifbare Phänomen aufgetürmt, immer höher und höher. Je mehr darüber gesagt wurde, desto größer war das Thema geworden. Das reichte von den Sehern des indischen Altertums, den persischen und äthiopischen Welterklärern, den Intelligenzbestien des alten Athen, den esoterischen Deutern des Mittelalters, sämtlichen Philosophen, Dichtern und Künstlern bis herauf zu den Empirikern der jüngsten Jahrhunderte und schließlich den modernen Linguisten, Kunstschaffenden und Schreibern der Gegenwart. Alle erklärten, was sie dachten, dass Sprache war. Und alle hatten eines gemeinsam: Sie versuchten sprachlich in einen Bereich vorzudringen, wohin ihre Sprache nicht reichte. Alles, was sie tun konnten, war, mit schöner literarischer Kunstfertigkeit und beeindruckender philosophischer Kraft zu umschreiben, dass sie es nicht wussten. Und fast niemand ließ sich herab, genau das zu artikulieren. Einer schon: »Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver, Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.« Ok, schön, dachte ich. Aber das brachte mich auch nicht weiter. Geist und Kadaver und Skalpell. Was sollte ich damit?

Ich wollte jetzt ja nicht die Sprachwissenschaften in ihrer Gesamtheit studieren, sondern machte mich mit der herkömmlichen Ahnungslosigkeit des Journalisten am Beginn seiner Recherche auf eine gezielte Suche nach Spuren meiner eigenen Gedanken. Doch ich fand nicht viel. Nur ein oder zwei der radikalsten Denker gaben Äußerungen von sich, in denen etwas durchklang, das bei mir anschlug. Nietzsche zertrümmerte die gesamte Sprachromantik mit wenigen Hieben: Die Sprache sei ein Instrument der Lüge und diene zur Vertuschung eigener Verwerfungen. Und einige Mystiker unterstellten, die Sprachenvielfalt diene zur Verhinderung von Kommunikation.

Aber wirklich sicher waren nur die Priester. Sie wussten es. Die Sprache war ein Geschenk Gottes und die Sprachverwirrung zu Babel eine Strafe desselben. Und so war das Thema das gesamte Mittelalter unter priesterlichem Verschluss geblieben, bis im späten achtzehnten Jahrhundert erste Mutmaßungen offen ausbrachen, die Sprache sei ein Werk des Menschen. Der Mensch selbst habe sie erfunden und entwickelt. Wahrscheinlich durch Nachahmung von Naturlauten in Verbindung mit körperlichen Zeichen und Gesten. Die Linguistik war geboren.

Ich versank in den Recherche-Unterlagen. Nach drei Tagen war ich eingeraucht mit Sprachgeschichte. In meinem Kopf drehten sich Satzfetzen, die sich selbstständig gemacht hatten. Am frühen Morgen nach der dritten Nacht, ich war halb wach und hörte die Vorgänge in meinem Hirn mit großer Lautstärke, da fügten sich einzelne herumschwirrende Brocken zu einer sauberen Ordnung und ergaben plötzlich ein Bild, das ich zu erkennen glaubte. Ich dachte den Grund für die Angst der Priester zu sehen und ich sah die Gefahr, die es für sie bedeutete, wenn ihnen Fragen nach der geheimnisvollen Macht der Laut-Kombinationen gestellt wurden. Mir leuchtete ein, wie sehr die Menschwerdung selbst, jawohl, die Menschwerdung und nichts Geringeres als die Menschwerdung, mit der Aneignung von Sprache einherging. Was Sprache konnte, lief darauf hinaus, dem Gott der Priester die Erschaffungskompetenz zu entziehen.

Schon klar, nicht alles, was es gab, war auch nachweisbar, aber alles, was nachweisbar war, gab es auch wirklich. Und sie, die Sprache, war es nun einmal nachweislich gewesen, die im Hirn des Menschen eine Kette neuer Fähigkeiten aktiviert hatte, die ihn, den Menschen, allen anderen Wesen der Natur so konkurrenzlos überlegen macht. Diese Kettenreaktion war die Mutter aller Kettenreaktionen und sie war eine Nebenwirkung der Sprache.

Eine Faust schlug gegen meine Wohnungstür. Ich stieg aus dem Bett. Der Gasmann begehrte Einlass, als hätte er einen Durchsuchungsbefehl. Ich hatte die vorgeschriebenen Wartungsarbeiten an der Gastherme nie durchführen lassen, musste nun glaubhaft lügen und war dankbar, dass die Sprache vorsätzliche Unwahrheiten zuließ. Furchtbar die Vorstellung von einer Sprache, die wie ein Geheimdienst in meinem Kopf saß und mich daran hinderte, mich zu verstecken. Aber dann griff ich zur noch einfacheren Lösung. Ich öffnete nicht.

Ich hatte wirklich zu tun. So war das also mit der Sprache, dachte ich. Hochinteressant. Was von all dem Gelesenen am besten ineinander passte, machte ich zu meiner Meinung. Ich trank kalten Kaffee. Ich kratzte in Tomatensauce eingetrocknete Nudelreste vom Rand der Pfanne. Ich starrte aus dem Fenster.

Meine Recherche bekam Eigendynamik. Eines ergab das andere und so hantelte ich mich immer weiter in einen Stoff hinein, in dem es wie in einem Schlund immer tiefer nach unten ging und ich bald das Gefühl bekam, selbst verschluckt zu werden. Ich telefonierte drauf los, fixierte Gesprächstermine, hinterließ Nachrichten, ersuchte um Rückrufe, verschickte Mails mit allgemeinen Fragen, bat um Interviewtermine oder um Hinweise auf mögliche Gesprächspartner. In einer der Zeitungsgeschichten, auf die ich gestoßen war, fiel mir die Sprachhistorikerin Michaela Halbmond auf, weil sie aus Wien stammte und mit dabei gewesen war, als man in den Achzigerjahren in Westafrika eine unbekannte Sprache entdeckt hatte. Eine Sprach-Entdeckerin also. Gleich hier um die Ecke. Am Institut für Linguistik fand sich jemand, der mir ihre Telefonnummer verriet. Ich wählte sie. Besetzt.

Sprachentdeckungen waren mehr als selten geworden. Die junge empirische Wissenschaft hatte innerhalb eines Jahrhunderts alles fast restlos wegentdeckt. Sie registrierte Abertausende lebende Sprachen, verglich und katalogisierte sie, definierte ihre baulichen Strukturen und gliederte sie über grammatische, semantische oder lexikalische Ähnlichkeiten in Familien, Gruppen und Untergruppen und entschied, ob ein Einfluss etwa balto-slavisch oder vielleicht indo-iranisch war.

Ich wählte die Nummer von Michaela Halbmond. Es war besetzt. Ich schrieb an Noam Chomsky, dann schrieb ich an Salikoko Mufwene. Als ich auf Senden drückte, läutete mein Telefon und einer jener Sprachexperten im weitesten Sinn, die ich anfangs nicht erreicht hatte, rief zurück.

Er war ein Geistlicher und ein besonderer Mensch. Seit vielen Jahren hatte er mich mit vertraulichen Informationen aus der Kirche versorgt, die sich bei Überprüfung stets auf Punkt und Beistrich bestätigten. Er war ein erbarmungsloser Kirchenkritiker, denn er wollte sich seine Kirche nicht von jenen nehmen lassen, die sie veruntreuten. Wenn er den Vatikan bloßstellte, kam das ganz ruhig und ohne Feindlichkeit daher, aber es rollte tonnenschwer über Rom hinweg. Akademisch sehr hoch gebildet und mit uralten griechischen und lateinischen Originaltexten belesen, hatte er sich von der realen Zeit so abgewendet, dass er im echten Leben seltsam deplatziert wirkte. Fast wollte man eine Persönlichkeitsstörung vermuten, wenn man nicht bemerkte, dass es seine ausgeprägt kindliche Unerfahrenheit war, die ihn so weltfremd machte. Er wirkte wie ein Untoter, wie das lebende Relikt eines Gelehrten aus einem vergangenen Jahrhundert. Auch seine Demut hatte etwas Kindliches und man spürte, dass dieser Mann sich eher verbrennen lassen würde, als seine Werte zu verraten. Er war ein faszinierender Pakt zwischen großem Wissen und tiefer Ahnungslosigkeit. Und er befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium seiner Alkoholsucht.

Diesmal hatte ich ihn aus zwei Gründen angerufen. Zum einen wollte ich ihn bitten, mich mit einem ihm persönlich bekannten Priester in Kontakt zu bringen, der ausgebildeter Exorzist war. Einer, der mit der Kraft der Sprache gegen den Teufel vorging. Einer, der die Sprache direkt als Waffe einsetzte. Und das nicht etwa auf dem Niveau des Bundeskanzlers, der mit gebrochener Muttersprache einen weinerlichen Lügen-Wahlkampf führte. In der Praxis der rituellen Austreibung gottesfeindlicher Besessenheit ging es ein bisschen anders zu als in der SPÖ-Wahlkampfzentrale. Exorzismus war seit eh und je selbstverständlicher Teil der kirchlichen Realität gewesen und so hatte der Papst erst unlängst daran erinnert, dass jede Diözese über mindestens einen Exorzisten zu verfügen habe. Das Fach der Vertreibung böser Geister wurde in Rom gelehrt und es äußerte sich in der Praxis nicht immer in angstkreischenden Wahnsinnigen mit schwarzen Ringen um blutunterlaufene Augen, in denen der Teufel wütete, in Abscheu vor dem Kreuz, das ihm der Exorzist unter Gemurmel von Bannsprüchen entgegenhielt. Viel öfter waren die Eingriffe der religiösen Psychotherapie wenig spektakulär. Schon ein schlichtes Gebet um Heilung durch den Schöpfer war Exorzismus. Herr, sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund. Das Wort, das gesund macht. Das frei macht von Schmerz. Das Wort als Kraft. Die Sprache des Herrn. Also: Die Sprache.

Zum anderen ging es mir diesmal auch um meinen Vertrauensmann selbst, denn dieser Mann verfügte über etwas sehr Erstaunliches, über das er auch offen reden hätte können. Er beherrschte sage und schreibe sechsundvierzig Sprachen. Er sprach fließend Latein und sogar ganz gut Aramäisch, die Sprache des Jesus von Nazareth. Aber das war noch gar nichts. Er sprach Kadugli, Bijago, Mbulungisch-Nalu, Senegambisch, Limba, Mansonaka, Kulere und Bantu aus der Niger-Kongo-Familie. Er konnte nilo-saharische Sprachen wie Kuliak, Gumuz, Kunama und Songay. Er beherrschte sino-tibetische, austronesische und altaische. Von seinen Lippen rollten Turksprachen wie Tschuwaschisch, Tofalarisch und Jakutisch. Mongolische wie Dagur oder Kalmückisch. Tungusische Sprachen wie Orochisch, Evenkisch oder Negidalisch. Aus irgendwelchen Winkeln und Ecken seines unheimlichen Gehirns fischte er malayo-polynesische Lautketten hervor, maduresische, jakunische, perakanische und semedonische. Er konnte Bima-Sumba. Er konnte Algonkin, Sprachen der Oto-Mangue-Gruppe wie Chibcha, Tupi, Quechua oder Irokesisch. Und Pidgin-Sprachen, diese verbogenen, verstümmelten Mischsprachen, die sich aus Kolonial- und Eingeborenen-Sprachen zusammensetzten und von den Folgegenerationen alter Sklaven gesprochen wurden. Er sprach Zwergsprachen, die von weniger als tausend Sprechern benutzt wurden und von denen noch kein normaler Mensch je etwas gehört hatte.

Ich lag am Bauch vor ihm. Mich faszinierten Sprachkenntnisse. Ich hatte davon geträumt, noch in diesem Leben fünf, sechs Sprachen zu beherrschen und schaffte es gerade einmal bis eindreiviertel plus Begrüßungsbrocken in dieser und jener. Dieser Mann hatte über Jahre unserer Bekanntschaft seine unglaublichen Kenntnisse mit keinem Wort erwähnt. Bis wir einmal gemeinsam im Park saßen, nachdem er mich angerufen hatte, weil er in der Bibliothek des Priesterseminars einen vierhundert Jahre alten Wälzer entdeckt hatte, den er mir zeigen wollte. Der Text war auf Mandarin und weil er so selbstverständlich vorlas und übersetzte, fragte ich nach.

Wir saßen damals lange. Er erzählte von Killersprachen wie Englisch, Russisch oder Französisch, die kleine Lokalsprachen infiltrierten, infizierten und verdrängten wie eingeschlepptes Unkraut. Er redete über Kultur tragende Sprach-Großfamilien wie die afroasiatische, in der das Arabische eine junge Kultursprache war. Ganz jung waren auch Assyrisch und Babylonisch, denn die alten Formen dieser Großfamilie waren etwa das mesopotamische Akkadisch. Oder das Indoeuropäische mit seinen jungen, modernen Entwicklungsstufen wie Griechisch und Latein.

Nun also hatte er am Festnetz zurückgerufen. Ich hob ab, erklärte kurz angebunden, ich würde mich gleich wieder melden, denn auch das Mobiltelefon läutete. Aber jedes Mal, wenn ich ein Telefon auflegte, läutete schon das andere und so vergaß ich, ihn zurückzurufen. Und das war es dann. Zwei Tage später starb mein klerikaler Freund am Blut einer geplatzten Ader seiner Speiseröhre, das seine Lungen überschwemmt hatte.

Michaela Halbmond hob ab. Sie war ein Glücksfall. Erstens hatte sie eine ruhige, angenehme Stimme, zweitens war sie freundlich und offen, drittens war sie gerade in Wien und viertens wollte sie am Abend des nächsten Tages an einer Buchpräsentation teilnehmen, bei der zahlreiche Linguisten verschiedener Fachrichtungen anwesend sein würden. Sie bot mir an, sich mit mir dort zu treffen. Zwei emeritierte Professoren hatten gemeinsam mit einem jüngeren Kollegen ein Sachbuch über historische Sprachverbreitung mit dem Titel »Die Balkan-Route« geschrieben. Im Zentrum der Ausführungen stand ein filmreifer Konflikt, den ich als inter-menschoid bezeichnen würde, wenn das geht. Es ging um das nachgewiesene Aufeinandertreffen einer Gruppe moderner Menschen mit einer Gruppe von Neandertalern im Gebiet des heutigen Israel, das vor vierzigtausend Jahren stattfand. Davon zeugen freigelegte Lagerplätze der beiden Menschenarten, die unweit voneinander entdeckt wurden. Als die neumodernen Kolonialisierer des Homo sapiens von Ostafrika her in das Gebiet kamen, waren die alten Neandertaler bereits seit 20.000 Jahren da und hatten etwas dagegen, dass Fremde, ja sogar Fremdartige, einfach in ihr Gebiet einflossen, um sich da breitzumachen. In der Kunst der politischen Kompromissfindung noch etwas entwicklungsfähig, kam es zu schweren Zusammenstößen und die Modernen mit der senkrechten Stirn zogen mit blutigen Schädeln ab. Sie gelangten, nunmehr von Wirtschafts- zu Kriegsflüchtlingen mutiert, über die Balkan-Halbinsel nach Europa.

Es gab nichts, dachte ich, was es nicht schon gegeben hätte und das tausend Mal früher, als man dachte. Das schien auch ein Motto für die Buch-Autoren gewesen zu sein, denn sie nannten viele Beispiele. Dass ein Herr Kolumbus Amerika entdeckt haben soll, entlarvten sie süffisant als Mythos einer eingebildeten Zivilisation, die das für den Anfang hielt, woran sie sich selbst erinnern konnte. Tatsächlich waren zwanzigtausend Jahre vorher ganz andere Typen über den Nordpol nach Amerika gegangen. Und die Herrschaften, die vor achttausend Jahren die indoeuropäische Sprache von Asien nach Europa brachten, waren keine Einwanderer, sondern Rückkehrer. Vor neunzigtausend Jahren waren sie aus Afrika gekommen und über Europa nach Asien gewandert. Als Zeugnisse hatten sie ihre Schädel zurückgelassen und ihre Beile, in die Erde gesenkt wie Proviant-Depots der Erinnerung, zur Wiederausgrabung in einer fernen Zukunft, als Beleg ihrer Rastlosigkeit, ihrer Suche nach Sicherheit und Sinn, die sie über die Horizonte hinaus lockte und keine Rückkehr kannte. Sie gebaren und starben unterwegs. Wandern war ein Urzustand. Allein ihre Reise von Afrika über Europa nach Indien dauerte zwanzigtausend Jahre, denn ihre auf dieser Route ausgegrabenen Schädel werden von West nach Ost stufenweise um zwanzigtausend Jahre jünger.

Aber auch sie waren lange nicht die Ersten. Eigentlich waren diese Leute fast schon Touristen, wenn man sie mit den wahren Pionieren verglich, die sich zwei Millionen Jahre davor auf den Weg nach Osten gemacht hatten. Das war der Erektus plus Anhang: ein wahrhaft uriger Entdecker. Er verfügte über keine konkrete innere Vorstellungswelt, einfach, weil er keine Sprache hatte, die differenziert genug war, abstraktes Denken zu ermöglichen. Seine Laute klangen absichtsvoll, doch verwaschen und unbeholfen. Dennoch war er der erfolgreichste Menschoide neben dem, der sich mit seiner komplexen Lautsprache zur Alleinherrschaft über die Natur aufschwingen und als einzige Menschen-Art überleben sollte. Der Erektus: unsentimental, allürenfrei, geradeaus. Er hätte mehr Erfolg verdient. Und wie bunt ginge es auf diesem Planeten zu, wäre er von mehreren Menschen-Arten bewohnt und nicht nur von einer einzigen in verschiedenen Farben.

Ein sehr gelungenes Buch, bei dessen Präsentation ich Michaela Halbmond kennenlernen sollte. Die Autoren hatten es geschafft, mich in ihre Geschichte zu entführen und den Erektus als Angehörigen wahrzunehmen. Ich mochte ihn. Ich sympathisierte mit dem Vormenschen. Das waren noch Typen, tausend Mal authentischer als der urigste Alt-Bauer. Das waren Echtfleisch-Menschen, die das systematische Überleben erfunden haben. Sie haben das Wissen dafür gegen zahllose ihrer Leben eingetauscht, haben sich jede Kleinigkeit an Wissenszuwachs erstorben. Die Erkenntnis, was ein Risiko ist, entwuchs einem Teppich aus Todesopfern.

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