Kitabı oku: «Finale», sayfa 3

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9

Ein Wort. Es kehrt wieder. Immer wieder: Seilbahn. Stimmen, Rufe, Schreie, eine Kakophonie. Was soll das? Jemand will eine Seilbahn bauen, man will mich hinübersenden, übers Tal und über den Fluss. Ein Pferd ist ertrunken im Wildwasser, das zwischen uns und dem Leben tobt. Wer wagt sich durch den reissenden Strom. Daniel? War er dabei, damals in Patagonien?

Daniel baut die Seilbahn mit linker Hand, er war ein Freak, ein starker Kletterer, stark ist er noch immer, und wir haben gestritten. Worüber eigentlich? Er verlässt mich, immer wieder. Muss zum Notfall, muss zur Sitzung, muss zur Konferenz, muss einen Artikel schreiben fürs New England Journal of Medicine. Er jettet nach San Diego, zu einer Tagung von Traumatologen oder zu seiner Geliebten. Kein Wort darüber, wir schweigen. Meine Geliebte ist die Medizin, sagt er. Und ich, was bin ich? Ist es die Scham oder die Eifersucht, die uns entfremdet? Zur Kletterwoche wollte er mich begleiten, eine Woche im Süden, eine Woche für uns. Und dann? Dann war da etwas. Etwas Unausgesprochenes, Verschwiegenes. Lügen? Ausflüchte? Finale.

Nun bauen andere die Seilbahn. Gute Kumpels, meine Freunde. Hammerschläge auf Haken, Klirren von Karabinern, Rufe. Hinüber! Flussabwärts finden wir das tote Pferd, halb im Sand vergraben. Wir weinen. Andrea fährt sich mit der Hand über die Augen. Sieht über sich Lichtstrahlen durch die Nacht fingern, bleicher Fels, ein tropfender Überhang. Ihr Kopf liegt tief, hingebettet hat man sie, auf abschüssigen Grund. Vergessen. Verlassen. Ein kalter Tropfen schlägt ihr ins Gesicht, sie schreit auf, doch niemand hört sie. Schatten hasten vorüber, Zweige knacken, Steine kollern, Atem hechelt dicht neben ihr, jemand spuckt aus, einer pisst ins Gebüsch. Sie vernimmt die Geräusche wie durch Kopfhörer. Bewegt die Lippen, versucht zu sprechen. Nach Orco, bringt mich nach Orco, dort steht mein Wagen. Der gute alte Cherokee. Geschenk meines Vaters. Aber noch immer keine Stimme. Und wieder das Wort: Seilbahn. Mit einem Ruck hebt man sie an, etwas schleift über Schotter, sie schwebt, hoch über dem wilden Wasser des Flusses. Drüben, die Rettung. Und das tote Pferd.

10

Der Pfad endete in einer Nische unter einer überhängenden Wand. Felix sah, dass es schwierig würde, eine Seilbahn um die Felsstufe einzurichten. An einem Felshaken war ein ausgefranstes Hanfseil befestigt, mit Reepschnurstücken aus Kunstfaser verknotet und verstärkt. Es führte als Geländer aus der Nische um einen Felspfeiler herum, zwanzig Meter, die man hangelnd überwinden musste. Für die Füsse waren Tritte in den Fels gemeisselt. Der Pfeiler sprang weit vor gegen das Tal hin, es war kaum möglich, ein Seil zu spannen und zu verankern. Niemand hatte Felshaken oder eine Bohrmaschine dabei. Die Träger hatten die Bahre abgestellt, ein Dutzend Leute standen in der Dunkelheit herum, redeten durcheinander, rauchten und riefen Vorschläge in die Runde, wie man die Schale mit der Verletzten um den Felspfeiler herumtransportieren könnte. Abseilen zum nächsten Band, mit Flaschenzug heraufziehen durch den felsigen und mit Gestrüpp bewachsenen Abhang. Der Offizier hieb mit der stumpfen Seite seines Beils auf den rostigen Felshaken ein, als ob er damit sicherer würde.

«Lass das», sagte Felix, «du lockerst ihn nur.» Er hatte Erfahrung mit dem alten Material. Der Mann gab einen grunzenden Laut von sich, hörte mit dem sinnlosen Hämmern auf.

Tom schlug vor, ein zweites Geländerseil zu legen, an Bäumen festgebunden und nur leicht gespannt. Drei oder vier starke Männer sollten sich mit ihren Klettergürteln dranhängen, die Schale auf ihre Arme nehmen und sie dann miteinander Schritt um Schritt um den Felspfeiler herummanövrieren. Die Bahre würde mit zusätzlichen Seilen gesichert.

Felix übersetzte, der Offizier zupfte seinen Schnurrbart, liess sich schliesslich überzeugen, einen Versuch zu wagen. Per Funk sprach er sich mit seinen Leuten im Tal ab. Während Tom und ein paar Männer die Seile spannten, begann auf der andern Seite des Felsens ein Stromaggregat zu knattern, ein Scheinwerfer leuchtete auf.

«Gefechtsfeldbeleuchtung», sagte jemand. «Wie im Krieg.»

Ein deutscher Kletterer beugte sich über Andrea, die reglos in der Transportschale lag, fühlte ihr den Puls. Er tippte Felix auf die Schulter. «Ich bin Arzt. Sie müsste dringend ein Schmerzmittel bekommen. Und eine Infusion, damit ihr Kreislauf durchhält. Sag das dem Kommandeur.»

Felix informierte den Offizier, der befahl einem Sanitäter, per Funk eine Spritze anzufordern. «Puntura», vernahm Felix. «No», rief er, «Infusione.» Der Offizier riss dem Sanitäter das Funkgerät aus der Hand, schrie selber ins Mikrofon. Der Deutsche musste nochmals erklären, was er wünschte, Felix übersetzte. Während der Konfusion fiel ihm ein Kinderlied ein, das Anna ihrer Tochter gesungen hatte. Ecco il dottore che fa la puntura, mamma ho paura, mamma ho paura … Die einfache Melodie und die Worte wiederholten sich unablässig in seinem Kopf, mit Wehmut dachte er an seine Tochter, mit der er kaum noch Kontakt hatte. Gelegentlich eine E-Mail, zu Neujahr oder wenn sie Geld brauchte.

Während die Kletterer sich bereit machten, Karabinerhaken einschnappten, Kommandos und Rufe durch die Dunkelheit hin- und herflogen, lehnte er an einen Baum, stützte seinen Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Er fühlte sich elend und sterbensmüde, hörte dem geschäftigen Hin und Her der Retter zu, bis eine Hand seine Schulter berührte.

«Was ist?» Sabine stand hinter ihm.

«Nichts.» Felix wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen. «Ich bin nur sehr müde.»

«Wie das nur passieren konnte?»

«Ich weiss es nicht. Es ging so schnell.»

«Hina sagte, du hättest das Sicherungsgerät falsch herum eingeklinkt.»

«Sie hat doch nichts gesehen.»

«Behauptet sie aber …»

«Ich habe mit einem Bremsknoten gesichert.»

«War der Knoten richtig? Bist du sicher?»

Er gab keine Antwort mehr. Sabine blieb eine Weile stehen, dann verschwand sie im Schatten zwischen den Bäumen.

Die Lichtkegel von Stirnlampen richteten sich auf die Höhle. Drei Männer ergriffen die Schale mit der Bahre von der Talseite her, Tom in der Mitte. Sie klinkten sich in das Geländerseil. Im Chor riefen sie: «Ooo … op!», hoben die Schale mit einem Ruck auf Brusthöhe. Die Sicherungsseile an beiden Enden strafften sich. Schritt für Schritt bewegten sich die drei Träger über dem Abgrund, Helfer leuchteten ihnen mit Stirnlampen, damit sie die Tritte im Fels nicht verfehlten. Geschrei setzte ein, wenn sich die Schale nach einer Seite neigte. An der Kante des Felspfeilers traten die Träger in den Lichtkegel des Scheinwerfers. Wie in einem Schattentheater bewegten sie sich als schwarze Gestalten die Wand entlang, Insekten schillerten im grellen Licht über ihren Köpfen. Der vorderste Mann, geblendet wohl, machte einen Fehltritt, ein Fuss rutschte weg. Die Schale kippte mit der Spitze nach unten, drohte in den Abgrund zu stürzen. «Tira, tira!», schrien die Männer an den Sicherungsseilen. Zwei Mutige kletterten hinaus, unterstützten, ohne sich zu sichern, die Träger, denen allmählich die Kraft ausging. Langsam schwebte die Schale um die Kante.

Felix lehnte noch immer am Baum, versuchte, sich den Absturz in Erinnerung zu rufen. Hatte er wirklich richtig gesichert? Den Halbmastwurf hatte man zu seiner Zeit noch nicht gekannt, man hatte in alter Manier über die Schulter gesichert oder das Seil einfach durch einen Karabiner laufenlassen. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er den Knoten in den Sicherungskarabiner gehängt hatte. Er hatte Andrea zugeschaut, wie sie geklettert war, so gewandt und sicher wie immer. Sie hatte den Stand erreicht, die Umlenkung eingerichtet. Sie hatte ihm etwas zugerufen. Und dann? Dann kam ihm nur noch der Schatten in den Sinn, der sich plötzlich aus der Wand gelöst hatte, das Knacken und Brechen der Zweige, als sie in den Busch stürzte, dann vornüberkippte und mit dem Kopf auf den Boden prallte. Und wie er vergeblich versucht hatte, den Code seines Mobiltelefons zu erinnern. Jetzt war er wieder da. 4181, das zwanzigste Glied der Fibonacci-Folge.

Die Männer mit der Bahre waren auf einer Felsplattform angekommen. Die Helfer lösten die Knoten, sammelten die Seile ein, schossen sie auf. Dann folgte einer hinter dem andern dem Geländerseil entlang auf die andere Seite. Felix war der Letzte. Er trug noch immer den Klettergürtel, Expressschlingen baumelten daran. Er klinkte sich ein, hangelte sich die Wand entlang, tastete im Dunkeln vorsichtig auf den feuchten Tritten nach Halt für die Schuhe. An der Kante blendete ihn das Scheinwerferlicht, Mücken tanzten zwischen glitzernden Regentropfen.

11

Die Bar Centrale in Finalborgo war ein Treffpunkt der Kletterszene. Daniel trat ein, sah sich um. Am Tresen standen drei Männer in Fliesjacken, Kletterhosen und Turnschuhen, Biergläser in der Hand. Auf einem Stuhl bei der Tür hockte ein Einheimischer vor einem leeren Glas, glotzte ihn an. Im Raum nebenan sassen an runden Tischen ein paar Bergsteiger oder Mountainbiker und unterhielten sich lautstark. In einer Ecke lief der Fernseher, ohne dass jemand hinschaute.

Daniel bestellte einen Espresso. Die junge Frau hinter der Theke lächelte ihm zu, zeigte ihre leicht vorstehenden Zähne. Ob sie sich erinnerte? Mit Andrea war er hier zum Frühstück eingekehrt oder zum Bier am Nachmittag nach dem Klettern. Die Frau war damals noch ein Teenager gewesen, inzwischen war sie rundlich geworden, trug ihre schwarzen Haare kurz geschnitten, war jetzt wohl verheiratet und Mutter. Ihr Vater, ein hagerer Mann, der aussah wie ein pensionierter Professor, bediente die Kaffeemaschine. Zur weissen Schürze trug er eine rote Krawatte. Bedächtig klopfte er den Kaffeesatz aus dem Kolben in einen Behälter, füllte neues Pulver ein, drückte es fest. Der Kaffee tropfte in die Tasse und verbreitete den Duft, der typisch ist für die italienischen Bars.

«Bitte, mein Herr. Ihr Kaffee.» Die junge Frau stellte die Tasse auf einen der bereitstehenden Unterteller.

Daniel löffelte Zucker aus der Dose, rührte. «Sie sprechen sehr gut Deutsch.»

«Mamma stammt aus Köln.»

Daniel fragte, ob sie von einem Kletterunfall gehört habe. Sie wandte sich an die drei Männer. Er verstand ihre Antworten nicht, die sie mit ausschweifenden Gesten unterstrichen, dabei zu ihm herüberschauten. Der Alte hörte ihnen zu, wischte sich die Hände an der Schürze. Immer wieder fiel das Wort «Silenzio».

Silenzio, Preis der Liebe. Das hatte in der kryptischen sms gestanden. Abgeschickt von Andreas Handy, das seither verstummt war. Die einzige Nachricht seit dem Streit kurz vor ihrer Abreise zur Kletterwoche. Er hatte sie versetzt, hatte die Sitzung der Berufungskommission vorgeschoben, um abzusagen. Den wahren Grund hatte er verschwiegen. Er hatte keine Worte gefunden und den richtigen Moment verpasst. Seit dem Scheitern ihrer Expedition zum Cerro Torre wirkte sie bedrückt und verschlossen. Sie müssten sich aussprechen, doch ihre Wege strebten auseinander. Sie floh in die Berge, er in die Arbeit. War das der Preis der Liebe?

Die Ahnung, der Unfall sei kein Zufall, peinigte ihn seit der Abfahrt. Eine letzte Botschaft, nein, das war nicht Andreas Stil, beruhigte er sich. Dafür kannte er sie zu gut. Aber kannte er sie wirklich? Liebte er sie?

Die junge Frau polierte mit einem Tuch die Granitplatte der Theke. «Es habe einen Unfall gegeben an der Falesia del Silenzio. Eine Frau sei abgestürzt, verletzt.»

Daniel war es, als hätte ihn ein Felsblock auf den Kopf getroffen. Eine Frau. Das konnte nur Andrea sein. Il Silenzio, das war der Schlüssel. Er kannte das Felsband, sie hatten dort geklettert, in gelben Überhängen an Löchern, die nur für einen oder zwei Finger Platz boten. Andrea leicht und locker wie eine Artistin am Trapez. Er hatte sich abgemüht, war viel zu schwer geworden. Dass sie an jenem Fels stürzte, konnte er sich nicht vorstellen. Sie war erfahren, die Routen waren gut gesichert.

«Weiss man mehr? Wer die Frau war, wohin man sie brachte?»

Die drei Kletterer waren zu ihm getreten. «English?», fragte einer.

«Yes, of course.»

Sie hatten von dem Unfall gehört. Ein Gerücht, sagten sie, Genaues wüssten sie nicht. Es gebe immer wieder Kletterunfälle in der Gegend, meist Fehler beim Sichern. An der Rocca di Corno sei vor Jahren ein junger Deutscher deswegen zu Tode gestürzt. Oft passiere das den Deutschen, weil sie manchmal abseilten, statt umzulenken. Das gebe viele Missverständnisse.

«Wo bringt man die Verletzten hin?», unterbrach Daniel den Redeschwall des Italieners, der gut englisch sprach und das offensichtlich gerne zeigte.

«Pietra Ligure, Ospedale Santa Corona.»

Er erklärte den Weg. Hinab zur Küste, dann auf der Aurelia rechts ab. «Soll ich mitkommen? Es ist nicht weit.»

«Nicht nötig. Ich habe GPS.»

Daniel kippte den Espresso, der kalt geworden war, bezahlte, trat ins Freie.

Die Steinfliesen der Piazza waren nass. Die Fassaden der Palazzi wirkten im Licht der Lampen kalt und abweisend. Die Geschäfte und der Kletterladen rockstore hatten ihre Gittertüren verschlossen. Daniel schritt über den Platz, sah in einer Spaghetteria ein paar Leute sitzen. Er war hungrig, doch die Unruhe trieb in weiter. Ein Junge auf einem Moped fuhr über den Platz, bog in eine Seitengasse. Auf dem Kirchturm beim Stadttor schlug die Glocke die Stunde, zehn träge, metallen klingende Schläge.

12

«Wie heisst du? Sag mir deinen Namen!»

«An… Andrea.»

«Deinen Nachnamen?»

«Stamm.»

«Wie bitte?»

«Andrea Stamm.»

«Weisst du, wo du bist?»

Was soll diese doofe Fragerei? Wo ich bin? Cerro Torre? Oder an der Sila, im Winter damals. Daniel hat mich empfangen, unsere erste Nacht. War es das? Ist doch egal. Es ist so kalt, kein Gefühl in den Gliedern, nur Schmerz wie Feuer und Eis. Aber ist nicht Frühling?

«Wo ich bin?»

«Erinnerst du dich nicht?»

«Finale? Ist das Finale?»

«Finale, richtig. Welcher Tag ist heute?»

«Deine Fragerei nervt. Hör auf.»

«Entschuldige, Andrea … Es ist wichtig …»

Grelles Licht stach ihr in ein Auge. Sie fuhr zusammen, wollte ihr Gesicht mit der Hand schützen. Eine glühende Nadel bohrte sich durch den Arm zur Schulter, durchstach ihren Hals und stocherte im Hirn. Sie versuchte sich aufzurichten, fiel zurück und eine violette Welle schwappte über sie hinweg. Sie ertrank. Rang nach Luft, wollte schreien. Doch nur ein Röcheln drang aus ihrer Kehle. Jemand drückte ihr eine Maske auf Mund und Nase, sie rang nach Luft, Sauerstoff zischte. Tausend Dolche stachen bei jedem Atemzug in die Lungen.

«Es gibt einen kleinen Stich.» Eine Stimme, nahe an ihrem Ohr. Ein Deutscher. Was tat der hier? Was machte der sich an ihr zu schaffen? «Was ist los? Wo bin ich?»

«Finale. Du bist gestürzt. Falesia del Silenzio, erinnerst du dich?»

«Gestürzt? Warum?»

«Keine Ahnung. Pass auf, ich stecke jetzt die Infusion.»

Sie spürte nichts. Abgestorben der ganze Leib. Doch gleich schlug das Flammenschwert wieder zu, säbelte an ihrem Bein, riss ihre Brust auf, schnitt ihr das Herz aus dem Leib. «Ich sterbe», sagte sie. So war das also. Man hat sich das oft vorgestellt. Ein Freund hatte einmal gesagt: Man stirbt, wie man gelebt hat. Im Tod vollzieht sich das Leben. Da war nun der ganze Schmerz ihres Lebens versammelt in ihrem Körper. Die Krankheit der Mutter, die Asche des melancholischen Vaters, die Gesichter der Männer, die sie geliebt und gehasst hatte. Und die Toten, denen sie begegnete. Die ermordete Frau auf dem Felsband, der Schreiner, in einer Höhle verendet, der alte Bergführer, erstickt in der Lawine. Die Qualen der grossen Berge, der Stürme, der heissen Felsen. Mein Schmerzkörper. Das Wort hatte sie irgendwo gelesen. Nun war er da, nur noch er. Nur noch Schmerz war sie.

«Du stirbst nicht.» Die deutsche Männerstimme klang sanft, ganz nah an ihrem Gesicht. «So ’nen Quatsch will ich nicht mehr hören! Du reisst dich jetzt zusammen. Bist noch zu jung, um abzutreten.»

«Und du? Wer bist du?»

«Herbert. Ich bin Arzt. Hab dir eine Infusion gesteckt. Dein Körper braucht Flüssigkeit. Jetzt schau ich nach deinem Bein. Okay?»

«Mach, was du willst. Ich …» Ich krepiere, wollte sie sagen, aber das duldete er ja nicht, der deutsche Doktor. Behutsam machte er sich an ihrem Bein zu schaffen, doch bei der leisesten Berührung schrie sie auf. «Hör auf, du tust mir weh!»

«Schrei nur, das tut gut.»

«Gemeiner Kerl!»

Der Deutsche lachte. «Weiter so! Du lebst!»

Doch sie war erschöpft. Sie fror. Sie schwitzte. Versuchte sich zu erinnern. Finale, ja. Die Kletterwoche. Mit wem? Wer war da nur? Sie mochte nicht mehr denken. Der Schmerz packte sie wieder so heftig und umfassend, dass alle Energie aus ihrem Körper entwich. Es war, als schrumpfe sie zu einem Punkt, der sich wieder ausdehnte, ein heller Klecks im schwarzen Himmel, ein blauschillerndes Gebilde, das sich von ihr ablöste, in die Höhe stieg. Ihr ganzes Leben, zart und zerbrechlich. Flügel wuchsen ihr.

Dann war da wieder diese Stimme. Herbert, der Folterknecht. «Wir müssen dein Bein strecken. Du hast mehrere Brüche, die Gefahr besteht, dass beim Transport Knochensplitter durchs Gewebe stechen. Es wird wehtun, kurz und heftig, aber dann wird es besser.»

«Macht, was ihr wollt.»

Sie biss ihre Zähne zusammen, ihre Zunge war dick geschwollen und brannte, ihr Mund schmeckte nach Blut. Sie spürte Hände auf ihrem Körper, und dann schrie sie nur noch, heulte und versuchte, mit der Faust nach den Typen zu schlagen, die sie quälten. Sie rissen ihr das Bein weg, sie zerrten es aus der Hüfte, sie hieben die Knochen in Stücke. Andrea versuchte sich hochzustemmen, doch ihre Hand knickte ein, als sei sie gar nicht vorhanden. Der Schmerz in ihrem Bein löschte jeden Gedanken in ihrem Kopf. Nur eines wusste sie: Gleich bin ich tot. So ist das also, drüben. Ein schwarzes Meer von Schmerz.

Und dann diese Stille. Weit weg Stimmen. «Weiter!»

Sie war kein Mensch mehr, ihre Seele hatte sich gelöst aus ihrem Leib, der Schmetterling auf ihrem Schulterblatt hatte abgehoben, trug sie mit sich davon. Blue Mountain, das Tattoo von der Venice Beach, Los Angeles. Der Schmetterling ihrer wilden Jahre. Ihren Körper schleppten sie da unten auf der Erde dahin. Sie vernahm Rufe, hörte Steine fallen, tief unter sich.

«Passt auf! Nicht so schnell!»

«Vorn höher, höher! Lasst sie nicht fallen!»

«So ist gut, ja.»

«Und da hinüber, nein, nicht über den Fels, direkt die Rinne hinab.»

«Haltet euch fest, gleich kommen die Fixseile.»

Der Schmerz war von ihr gefallen, und der Schmetterling schwebte höher und höher, samtblau mit sanften Flügelschlägen im weissen Licht.

13

Andreas Wagen stand auf dem Parkplatz bei der Kirche von Orco. Der Cherokee mit dem Schriftzug rock’n’ice und dem Signet ihrer Kletterschule, der Seiltänzerin zwischen zwei Bergspitzen. Ein gelber Volvo parkte daneben, Schweizer Nummer, die andern Plätze waren leer. Im Tal unter dem Dorf rauschte das Lichterband der Autobahn. Daniel erinnerte sich, dass der Weg den Friedhof entlangführte, dann über eine Anhöhe zur Falesia del Silenzio. Im Spital in Pietra Ligure hatte er die Auskunft bekommen, die Rettung sei noch im Gang.

Er holte eine Stablampe aus dem Handschuhfach, fand im Kofferraum einen Knirps. Bei seinem hastigen Aufbruch hatte er weder Regenschutz noch feste Schuhe eingepackt. Er ging um Andreas Cherokee herum, alle Türen waren verschlossen. Im Friedhof auf der andern Strassenseite brannten elektrische Lämpchen vor einer Wand mit Grabplatten. Eine schwarz verhüllte Gestalt stand davor und schien zu beten. Daniel folgte dem Schotterweg ohne Licht, auf der Anhöhe trieb ihm der Wind Regentropfen ins Gesicht. Er spannte den Schirm auf, schritt weiter durch die Nacht, atemlos und von Angst getrieben. Was war geschehen? Warum dauerte die Rettung so lange? Er fand keine Erklärung, stolperte über einen Baumstamm, der quer über den Weg lag. Wenn ich mitgefahren wäre, wäre nichts passiert, warf er sich vor. Immer wieder.

Der Schotterweg führte in eine Senke, ein Pfad zweigte nach rechts ab, zur Falesia, vermutete Daniel. Er knipste die Stablampe an, zwängte sich durchs Gebüsch. Feuchte Zweige schlugen ihm ins Gesicht, bald war er nass bis auf die Haut. Auf der Höhe riss ihm ein Windstoss den Knirps beinahe aus der Hand. Er klappte ihn zu, der Regen hatte nachgelassen. Am Horizont schimmerte ein heller Streifen zwischen dem Meer und tiefliegenden Wolken.

Der Weg führte in ein Tal hinab, das dunkel und schweigend vor ihm lag. Eine gottverlassene Gegend, für die sich nur Kletterer und andere Verrückte interessierten. Der Pfad wurde wieder schmal, Dornengebüsch zerkratzte ihm die Hände, mit denen er sein Gesicht schützte. Er leuchtete den Boden ab. Da und dort war er aufgewühlt, von Wildschweinen wahrscheinlich. Er hatte den Weg verloren. Vorsichtig arbeitete er sich durchs Dickicht talwärts in der Hoffnung, auf ein Felsband zu stossen. Dem entlang würde er die Falesia erreichen. Das Licht der Lampe begann flackernd nachzulassen, er knipste sie aus. Schritt um Schritt kämpfte er sich weiter, bis er glaubte, die Wildschweine zu riechen. Falls er in einen Einstand mit Jungen geriet, könnte es gefährlich werden. Er versuchte, die Stelle zu umgehen, traf auf Felsabsätze, wagte es jedoch nicht, in der Dunkelheit hinunterzuklettern.

Durch den Grund des Tals drang das Wimmern einer Sirene herauf. Eine zweite mischte sich dazu, eine dritte. Blaulicht blitzte auf wie fernes Wetterleuchten, spiegelte sich in den nassen Felsen der andern Talseite. Das Ende der Rettung, dachte er. Man bringt Andrea weg, nach Pietra Ligure, Ospedale Santa soundso.

«Ich muss sofort da hin, die bauen sonst Mist», sagte er laut vor sich hin. Den italienischen Spitälern und Ärzten traute er nicht, er hatte Horrorgeschichten gehört. Sinnlose Operationen, Organdiebstahl, selbst Amputationen, ohne die Patienten zu informieren, kamen vor, um Versicherungsgelder zu kassieren. Vor Kurzem war ein Skandal aufgeflogen, Ärzte und Versicherungsangestellte waren darin verwickelt. Die Mafia. Er musste Andrea herausholen.

Er folgte einem Felsband, bis zu einer Trockenmauer. Dahinter schien offenes Gelände zu sein. Er kletterte über die Mauer, ein Steinbrocken löste sich unter seinen Füssen, kollerte den Hang hinab. Dann gelangte er in einen Olivenhain, sah hoch über den Terrassen Licht in einem Steinhaus. Als er sich näherte, sprang ihm ein schwarzes Tier in den Weg, duckte sich und knurrte. Er blieb stehen, seine Hand krampfte sich um den Knirps. Das Biest musste sein Herzklopfen hören, seinen Angstschweiss riechen. Er versuchte, einen Stein aufzuheben, doch bei jeder Bewegung fletschte das schwarze Ungeheuer die Zähne, als wolle es ihm gleich an die Kehle.

«Chi è?» Die Stimme eines alten Mannes. Der Hund sprang auf, lief auf die Gestalt zu, die sich zwischen den Olivenstämmen näherte, Hut auf dem Kopf, eine Flinte unter dem Arm.

«I missed the way», stammelte Daniel. Der Schock hatte ihm beinahe die Sprache verschlagen.

Der Alte antwortete in Englisch mit amerikanischem Akzent. Er sei dreissig Jahre Koch in New York gewesen. Man nenne ihn l’Americano. Die Leute meinten, er sei reich. Man habe ihn auch schon überfallen. «Deshalb das Ding hier.» Er strich mit der flachen Hand über den Doppellauf seiner Flinte. Dabei seien die Oliven sein einziger Reichtum, «gli ulivi e il lavoro». Er gab ein glucksendes Lachen von sich, machte eine Kopfbewegung zur Steinhütte hin. Daniel folgte ihm, der Hund trottete hinterher.

Daniel erzählte, warum er durch die Gegend geirrt war, trank bei Kerzenlicht ein Glas sauren Wein, ass dazu Brot und salzige Oliven. Dann begleitete ihn der Alte zurück zum Friedhof von Orco.

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