Kitabı oku: «Spitzeltango», sayfa 3

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Mein guter Freund, sagte Carmen. Du bist der beste von allen. Das wars dann. Der beste, mehr nicht. Er durfte sie auf die Wange küssen, auf den Handrücken, auf die nackten Schultern, mehr nicht. Sie war eine Diva, sie war eine Prinzessin. Inkarnation der grossen Calderón. Wahrscheinlich katholisch. Gelegentlich kam sie herunter, er drehte einen Joint, sie setzten sich auf den kleinen Balkon, rauchten, plauderten dies und das, und Hermann war glücklich.

Er schreckte aus seinen Träumen auf. Es hatte geklopft. Er horchte. Nichts. Dann klopfte es wieder und wieder. Es waren seine eigenen Finger, die auf den Tisch trommelten. El Choclo. Der Maiskolben. Der sentimentale Tango über eine Sängerin aus dem Slum von Buenos Aires.

Er sah auf den Tisch. Da lag das zerknitterte Kuvert der Filmkommission mit seinem Projekt, da lag sein Todesurteil. Er griff nach dem Umschlag, wog ihn in der Hand. Er kannte das. Wir danken Ihnen … zu unserer Entlastung zurück … Zusagen waren dünn, Absagen dick. Das war der Lauf der Welt. Er legte das Kuvert auf einen Stapel Papiere neben dem Bildschirm. Projekte, Manuskripte, Berichte, Gutachten, Manifeste, vergilbte Zeitungsartikel. Müll, nichts als Müll. Er war ein Verlierer, hatte alles versucht, nichts erreicht. Das Studium abgebrochen, das Erbe verschleudert, Monate für die Katz gearbeitet.

Hermann lehnte sich zurück. Er sah seinen Vater in dem Korbsessel aus Peddigrohr mit den geschweiften Armlehnen sitzen. Die Ellbogen hat er aufgestützt, die Brille mit dem feinen Metallrand und den Metallbügeln auf der Nase, die Zeitung aufgeschlagen. Er ist vertieft in die Lektüre. In der Küche das Klappern von Geschirr, seine Mutter am Abwaschtrog, in der Luft noch der Duft des Rollbratens. Sonntagnachmittag. Hermann büffelt für die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium Freudenberg, der Schuhmachersohn aus dem Kreis 4. Mathe war nicht seine Sache, doch wie stolz waren die Eltern, als er bestand, als einziger aus der Klasse. Von den Kollegen als Streber geächtet, am Gymi als Kind aus dem verrufenen Stadtteil ein Ausserirdischer.

Er schaltete den Computer aus, ging zur Kochnische, drückte Kaffeepulver ins Sieb des Espressokochers, zündete das Gas an. Durchs Fenster sah er graue Menschen mit grauen Regenschirmen auf der grauen Strasse dahinschlurfen, von den vorbeizischenden Autos angespritzt. Ein Briefträger in gelbem Ölzeug fuhr auf einem gelben Moped mit Anhänger zum gegenüberliegenden Haus. Er beneidete ihn, ein ehrlicher Beruf, mitten im Leben ohne hohen Anspruch. Zufrieden mit einem Bier und einem Fussballmatch am Fernsehen und einer Frau im Bett. Und er? Vorbei. Vorbei das Leben. Er war am Ende.


Die Blumen und die Kerzen waren verschwunden, auch das Bild von Martin Kunz. Ein paar Wachsflecken am Boden waren zurückgeblieben. Robert ging um die Steinsäule herum, las die Inschrift. «863 Kilometer nach Berlin. Die Stadt Zürich setzte diesen Stein als Zeichen ihrer Verbundenheit mit der Stadt Berlin. Am 11. April 1959.»

Das Datum sagte ihm nichts. Bau der Berliner Mauer vielleicht? In der Partei nannte man sie damals den «Antifaschistischen Schutzwall». Er erinnerte sich an das Referat eines Genossen aus der ddr, der die historische Notwendigkeit dieses «legitimen Grenzregimes», wie er es nannte, wortreich rechtfertigte. Es sei der Westen, der den real existierenden Sozialismus, das Paradies der Arbeiterklasse und der Bauern, ausbluten und zerstören wolle. Wie hatte man das glauben können? Robert wunderte sich, wie deutlich Bilder aus längst vergessenen Zeiten auftauchten. Selbst das Jackett jenes Funktionärs, graues Fischgratmuster, seine Brille, seine porige bleiche Gesichtshaut sah er vor sich, während er die Limmat entlangging. Schritt für Schritt hielt er sich am Geländer fest. Die Fassaden der Häuser an der Schipfe schwankten, als ob sie im Fluss schwimmen würden. Er hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, obwohl er noch nichts getrunken hatte.

Sein Koffer war noch immer nicht eingetroffen. Er hatte nochmals am Flughafen angerufen, eine männliche Stimme hatte ihn in schlechtem Englisch vertröstet. Ich sollte Marilyn informieren, ging ihm durch den Kopf. Sie könnte veranlassen, dass der Vortrag vom Netzwerk der University of Iowa an die Zürcher Hochschule übermittelt würde. Die grosse Uhr am Turm der Peterskirche zeigte kurz nach elf. In diesen Minuten würde das Symposium an der Hochschule eröffnet. Begrüssungen, Vorstellen der Referenten, Einführung durch den Leiter des Max-Frisch-Archivs, dann gemeinsames Mittagessen. Unrasiert und nass konnte er sich dort nicht zeigen. Die Veranstaltung interessierte ihn auch nicht mehr.

Robert stieg über eine kurze Treppe zur Plattform hinab, wo die Limmatschiffe anlegten. Was war mit Martin Kunz geschehen?, fragte er sich. Der junge Anwalt hatte sie nach einer dummen und dilettantischen Aktion verteidigt, vierzig Jahre war das her. Er hatte Martin nie mehr gesehen nach dem Prozess. Er sah auf den Fluss, der bis zum Rand der Plattform angestiegen war. Martin war in diesem grünen Wasser ertrunken, an dessen Grund sich zwischen schlammbedeckten Steinen gefiederte Schlingpflanzen träg bewegten. Hier war er in die Limmat gestürzt, flussabwärts bei der Bahnhofbrücke hängen geblieben. Ein Grüner im grünen Schlick, von Schlingpflanzen gefesselt. Welche Ironie. Ein Schwan trieb an den blauweissen Pfosten vorbei. Vier Stufen führten von der Strasse herab. Es war denkbar, dass einer im Suff da herunterfahren und ins Wasser stürzen konnte. Robert sah Flecken am Boden, Öl oder Blut. Es war möglich, dass einer da verunglückte, aber nicht wahrscheinlich. Er bückte sich, fuhr mit einem Finger über einen der Flecken, die Fingerkuppe war schwarz. Nach Öl roch sie nicht.

«Suchst du was?»

Robert erschrak, die Stimme klang wie Gebell. Am Zaun über ihm lehnte ein breiter Typ in schwarzem Lederzeug, Sonnenbrille im Gesicht, eine Wollkappe auf dem Kopf. Hinter ihm zwei andere in ähnlicher Kluft. Dicke Bärte, lange Haare.

Robert spannte sich, als ob er im Spielfeld stehen würde. Er war ein starker Handballer gewesen, durchtrainiert, doch der Ledermann war ein Schwergewicht. «Ob du was suchst, hab ich gefragt.» Er schob seine Sonnenbrille hoch.

«I’m sorry, Sir.» Robert trat zurück ans Gitter des Landungsstegs.

«Nix verstehen du Deutsch?»

Robert zeigte beide Handflächen. Drei Schwergewichte gegen einen Veteranen, keine Chance.

«Das ist doch nur ein blöder Touri», bellte einer der Männer. Der Vorderste klappte seine Sonnenbrille vors Gesicht, drehte sich weg. Motorräder starteten. Robert sah den Bikern nach, bis sie beim Helmhaus verschwanden.

Er spürte, dass er zitterte. Vor Kälte oder vor Angst. Der Regen hatte wieder eingesetzt. Er brauchte einen Schirm oder noch besser einen Mantel. Er überquerte die Strasse zum Niederdorf, kam durch die Weingasse in den Rosenhof. Zwei Afrikaner in grünen Overalls fegten missmutig das nasse Laub der Platanen zusammen. Er stieg die Treppenstufen zum Brunnen mit dem Kalksteinquader hinauf. Hier war ein Text von Max Frisch eingemeisselt. Mit der Hand fuhr er über den rauen Stein, die Schrift war kaum noch zu lesen. Robert hatte das Bild dieses Denkmals oft seinen Studenten gezeigt. Auf seinen Diapositiven fehlte der Chromstahlzylinder des Abfallkübels mit dem Haifischmaul, wie sie nun überall in der Stadt herumstanden.

dieser stein, der

stumm ist, wurde

errichtet zur zeit

des krieges in

VIETNAM

In seinem Seminar hatte er jeweils über Frischs politisches Engagement referiert, seine kritische Haltung gegenüber der imperialistischen Politik der usa. Sein Zwiespalt. Die anfängliche Bewunderung für die Lebensart, den Optimismus und Fortschrittsglauben der Amerikaner. Homo Faber. Später zunehmende Kritik an der Politik, Nixon, Reagan. Resignation schliesslich. Eine Alternative zur amerikanischen Gesellschaft sei für Amerikaner nicht denkbar, daher ein politisches Gespräch nicht möglich, schrieb Frisch in seinem letzten Tagebuch. Er fühlte sich entwurzelt, wenn er auf der Feuerleiter seines Lofts in New York sass und seine Pfeife rauchte. Der Architekt Frisch, unbehaust in der Welt, auf der unablässigen Suche nach Heimat. So etwas stand auch in seinem Vortrag.

Robert schritt um den Steinquader herum, versteinerte Erinnerungen. Gegen den Vietnamkrieg hatten sie demonstriert, gegen die Diktatur in Griechenland, gegen den tyrannischen Schah von Persien, eine Marionette der Amerikaner. Gegen die imperialistische Politik der usa in aller Welt. Gegen die Waffenlieferungen der Schweiz an die chilenische Armee. Gegen den Mord am Staatspräsidenten Salvador Allende während des faschistischen Putschs. Obwohl man heute wusste: er hatte sich selber erschossen, bevor er in die Hände der Putschisten Pinochets fiel. Den berühmtesten Sänger und Poeten Chiles hatten Pinochets Schergen im Stadion von Santiago ermordet, nachdem sie ihm die Finger gebrochen hatten, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte. In diesem Augenblick war sein Name wieder da: Victor Jara. Er war Kommunist gewesen, ein Freund Allendes.

Ich gehe, gehe,

ich suche die Freiheit.

Robert sah auf die Uhr. Das Symposium hatte begonnen, man würde ihn vermissen, aber es konnte ja sein, dass ein Referent aus dem Ausland später eintraf. Ein Amerikaner, Professor Brown aus Iowa City. Wo war das überhaupt, dieses Kaff? Beyond nowhere im Mittleren Westen. Er hatte sich den Veranstaltern nicht als Schweizer zu erkennen gegeben. Ich bin nicht Stiller, ich bin nicht Brönimann. Ich bin Brown. Er spielte mit literarischen Motiven Frischs, womöglich auch mit jenem des alten Herrn und der jungen Frau, als er mit Ariane durch die nächtliche Stadt spaziert war. Er erinnerte sich nicht, was er ihr erzählt hatte, was er preisgegeben hatte von seiner Geschichte. Vielleicht hatten sie nur über Martin Kunz gesprochen. Er erinnerte sich auch nicht mehr, dass er etwas über sie, über ihr Leben oder ihr Verhältnis zu Martin erfahren hatte.

Am Rindermarkt fand er einen Second-Hand-Laden mit Kleidern. Hinter der Theke sass eine junge Frau, vertieft in ein Buch. Milan Kundera. «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins». Sie blickte nur kurz auf, als er eintrat und die Ladenglocke erklang. Er fand einen grauen Regenmantel mit Achselpatten und Kapuze. Die junge Frau kassierte stumm, die unerträgliche Leichtigkeit war ihr nicht ins Gesicht geschrieben.

Er ging weiter durch die Altstadt, blieb vor einem Buchladen stehen, bunte Comicbände im Fenster. Es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass es das ehemalige Geschäft des kommunistischen Buchhändlers Theo Pinkus war. Bei Pinkus hatte man sich getroffen, diskutiert, sich mit politischer Literatur eingedeckt. Manchmal auch den Alten getroffen, der mit weisser Mähne, festen Überzeugungen und einem Rucksack voller Zeitschriften an jeder Veranstaltung auftauchte. Ein Messias der Linken. Nun waren Comics aus aller Welt eingezogen, Marx, Lenin und Robert Brönimann standen vor der Tür. Er brauchte dringend einen Kaffee, er fror noch immer, trotz des Mantels.


Auf dem Gehsteig vor dem Eingang zum Volkshaus standen ein paar Leute und rauchten. Das eine oder andere Gesicht kam Pippo bekannt vor, aber so war das immer. Als Tramführer glaubte man mit der Zeit, jede Nase in der Stadt zu kennen. Einige grüssten, an Namen konnte er sich nicht erinnern. Verkehrte Welt, hatte er oft gedacht im Dienst, ich sehe sie nur noch im Rückspiegel, wenn ich die Leute beim Ein- und Aussteigen beobachte. Ich sehe, wie sich die Menschen und die Zeiten ändern. Wie sie immer ungeduldiger, immer hektischer werden. Die Röcke kürzer, dann wieder länger, die Haare umgekehrt. Die Jungen frecher, die Gesellschaft farbiger, die Sprachen verworrener. Mobiltelefone tauchten auf, wurden immer kleiner, dann wieder grösser. Die Passagiere schwatzten unablässig, aber nicht mehr miteinander, sondern mit Irgendwem im Irgendwo. Zwanzig Jahre Tramfahren, das waren zwanzig Jahre Welttheater.

Einer der Raucher trat seine Zigarette aus. «Tag Pippo.»

Pippo deutete ein Nicken an, ging vorbei. Die Glastür unter dem steinernen Bogen des Portals stand offen. Der Bildschirm an der Wand der Eingangshalle neben dem Anschlagbrett war neu.

14.00 Trauerfeier Kunz Blauer Saal.

Er stieg die Wendeltreppe hinauf, zog sich am Geländer hoch. Sein Atem ging schwer. Früher, als er regelmässig hierherkam zu Vollversammlungen oder Gewerkschaftssitzungen, war ihm das Treppensteigen leicht gefallen. Der Geruch der Granitfliesen, von hunderttausend Schuhen abgewetzt, hatte sich nicht verändert.

Die Erinnerung an eine letzte Niederlage schmerzte. Er hatte für die Fortsetzung des Streiks geredet. Gemeinsam sind wir stark, Genossen! Doch die Reformisten und Opportunisten hatten ihn überstimmt. Mit erhobener Faust und gesenktem Kopf hatte er den Saal verlassen, war aus der Gewerkschaft ausgetreten.

Der Blaue Saal war zur Hälfte besetzt. Vorn am Tisch, über den ein grünes Tuch gebreitet war, sassen zwei Männer und eine Frau, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. An der Wand hinter ihnen klebte ein Poster mit schwarzer Schleife, ein Bild des Verstorbenen. Martin Kunz mit weisser Mähne und melancholischen Tränensäcken. Ein Wahlplakat der Grünen, der Slogan weggeschnitten. Den Tisch schmückten zwei karge Sträusse mit Nelken. In der Ecke des Saals standen ein Hackbrett und Notenständer bereit.

Er wandte sich der hintersten Reihe zu, wo ein Hagerer auf einem Stuhl flegelte, die Beine weit von sich gestreckt, Hörer in die Ohren gestöpselt. Hermann. Die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die käsige Gesichtshaut mit Sommersprossen gefleckt, Seehundschnauz. Eine Jeansjacke schlotterte um seine dünnen Arme. Der rote Hermi. Er musste um die siebzig sein, doch seine Haare hatten ihre Rostfarbe behalten. Vielleicht wurden Rothaarige gar nie grau. Gelegentlich hatte er ihn ins Tram einsteigen sehen, vermutlich ohne Billett. Pippo sah es den Schwarzfahrern an, wie sie vor jeder Station unruhig nach Kontrolleuren Ausschau hielten. Einmal hatte er die Zentrale angerufen, aus einer Laune heraus. Am Paradeplatz hatten die Kontrolleure den Rostkopf freundlich empfangen.

Hermann hob die Hand zu einem müden Gruss. Hinter ihm an der Wand über dem blauen Täfer hing noch immer das Bronzerelief mit dem Kopf des Spitzbarts.

W. I. Lenin, der Begründer der Sowjetunion

des ersten sozialistischen Staates der Welt

sprach hier in diesem Saale am 9. Januar 1917

über die Bedeutung der russischen Revolution von 1905.

Pippo setzte sich mit einem Stuhl Abstand neben Hermann, ohne ihm die Hand zu reichen. Der zupfte einen der Stöpsel aus dem Ohr. «Schön, hast du es geschafft.»

Pippo wischte sich mit dem Handrücken einen Tropfen von der Nase. Es war vierzehn Uhr vorbei, doch noch immer kamen Leute herein, sahen sich nach Bekannten um, grüssten mit gedämpfter Stimme.

Hermann beugte sich herüber. «Alles klar?»

Pippo nickte.

«Pensioniert?»

«Du sagst es.»

«Städtischer Angestellter hätte man sein sollen. Mit fünfundsechzig die Füsse hoch.»

«Klaro», murmelte Pippo. «Hättest dich ja auch bewerben können.»

«Ich war in der falschen Partei.»

«Ich auch, wie du weisst. Und noch mehr.»

«Wie hast du überhaupt die Stelle bekommen? Ich meine …»

«Als Knastbruder, meinst du?» Pippo stand auf. Hermann nervte ihn, er hatte sich nicht verändert. Nebst der Haarfarbe war ihm das lose Maul geblieben.

«Als politischer Gefangener, meine ich.»

Pippo wandte sich ab, wollte sich weiter vorn hinsetzen. Da stupfte ihn Hermann in die Seite. «Schau mal, wer da kommt …»

Eine junge Frau trat in den Saal, eine Art Beret mit flachem Deckel auf dem Kopf, einen Schal um den Hals gewickelt. Ein älterer Herr in einem Regenmantel folgte ihr. Sie eilte zum Tisch, umarmte die Frau, küsste die Männer, setzte sich neben sie und legte ihre Mütze vor sich hin. Ihr Begleiter war unter der Tür stehengeblieben. Er war gross, sein Mantel, eine Nummer zu klein, spannte um seine Schultern. Er fixierte Pippo, kniff die Augen zusammen, kam mit zögernden Schritten auf ihn zu.

«Robert leibhaftig», raunte Hermann. «Hab gemeint, der sei im Himmel.»

Die grauen Haare, das etwas fette Gesicht, die breiten Schultern, der Bauchansatz. Robert war vor einem halben Leben ausgewandert in die Staaten, in Feindesland untergetaucht. Kurz nach dem Prozess. Man hatte nie mehr etwas von ihm gehört.

Er stand dicht vor Pippo, sah ihm ins Gesicht. «Bist du nicht …»

«Ich bin, ja …»

Pippo vermied seinen Blick. Robert Brönimann war nie sein Freund gewesen. Genosse, ja. Auch verurteilt damals, aber nur bedingt, zusammen mit Hermann. Dann war er abgetaucht. Aber das Leben holt einen immer wieder ein, das wusste Pippo. So oder so. Diesmal in Gestalt des Klugscheissers und ewigen Studenten, der ihm nun eine Hand entgegenstreckte. Eine wurstige Amerikanerhand. Pippo ergriff sie nicht, setzte sich wieder.

Hermann kicherte. «Dann ist unser Kommando ja fast komplett.»

«Maul halten, Rostkopf!»

«Fehlt nur noch der Bündner Toni …»

«Schweig!»

Köpfe drehten sich. Einer der Männer am Tisch stand auf, bat um Ruhe, begrüsste, kündigte die Musik an: «Martins Lieblingsband.»

«Darf ich?» Robert deutete auf den Stuhl zwischen Pippo und Hermann.

Pippo rührte sich nicht. Hermann stand auf, umarmte Robert. «Welche Überraschung. Was bringt dich her? Die junge Schöne dort?»

«Zufall.» Robert zog seinen Mantel aus, hängte ihn über die Stuhllehne und setzte sich.

«Zufall macht Geschichte. Nicht der Klassenkampf, wie der da meinte.» Hermann deutete mit dem Daumen zu Lenins Bronzekopf an der Wand.

«Ich bitte um Ruhe!» Der Mann am Tisch erhob sich nochmals, sah in die Runde. Drei Musiker traten an die Instrumente. Der Hackbrettspieler begann mit seinen Schlägern die Saiten sacht zu bearbeiten. Klarinette und Geige setzten ein, leise und melancholisch. Eine Mischung aus Jazz und Appenzeller Volksweisen erklang.

Pippo schloss die Augen. Wie oft hatten sie in diesem Saal gesessen, scharf beobachtet vom bronzenen Lenin, hatten den Maulhelden der Partei oder einer politischen Gruppe zugehört. Hermann und er waren meist die einzigen mit lupenreiner proletarischer Herkunft gewesen. Arbeiter und Bauern. Die Avantgarde. Sie gehörten zu den wenigen, die schliesslich zur Aktion geschritten waren. Nach dem Putsch in Chile durch General Pinochet im September 1973, dem Tod des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, den Massakern, Vergewaltigungen und Folterungen an seinen Anhängern im Stadion von Santiago. Konzerne der usa und der cia hatten die Putschisten unterstützt, weil Allendes Unidad Popular Kupferminen, Kohlebergbau und Grossgrundbesitz verstaatlichen wollte. Auf Fotos sah man Militär mit Geschützen der Waffenschmiede Moraves in Oerlikon und Sturmgewehren aus der Schweiz. Ende des Palavers, genug des Geschwätzes und der grossen Worte, sagten sie sich. Schreiten wir zur Tat! Etwas musste geschehen, ein Fanal, ein Aufschrei. Toni Tscharner begeisterte sie für die Idee eines Anschlags, er war ein Scharfmacher, hatte angeheizt. Er hatte den Vorschlag gemacht, sie sollten sich «Kommando Victor Jara» nennen, nach dem ermordeten Sänger und Poeten.

Nach der missglückten Aktion war Toni verschwunden. In den Achtzigern wieder aufgetaucht, Phönix aus der Asche der bleiernen Zeit, auf der andern Seite der Barrikaden. Anton Tscharner nannte er sich nun. Journalist, Medienunternehmer, Politiker, ein Kopf der Rechten im Land. In Artikeln und Reden hetzte er gegen Einwanderer und Asylsuchende, nannte sie Wirtschaftsflüchtlinge und Kriminaltouristen. Behinderte Menschen, die auf Unterstützung angewiesen waren, beschimpfte er als Scheininvalide.

Die Musik klang aus. Zwei oder drei klatschten, hörten aber gleich wieder auf, hatten wohl vergessen, dass sie sich an einer Trauerfeier befanden. Pippo öffnete die Augen, der Saal war noch immer nur halb voll. Obwohl es damals noch keine Handys, kein Internet und E-Mail gab, hatten sie oft Hunderte mobilisiert. An den Versammlungen standen sie den Wänden entlang, hockten vorn ums Rednerpult am Boden, die Luft von Rauchschwaden durchzogen.

Nun redete die Junge, die mit Robert gekommen war. Ihre Stimme war leise. Pippo verstand nicht alles, was sie sagte. Bewundert habe sie Martin Kunz, seine Konsequenz, seine Menschlichkeit seien ihr Vorbild. Im Alter noch engagiert und optimistisch. Er habe sich für eine wohnliche Stadt eingesetzt, für Genossenschaftswohnungen, soziale Projekte. Beharrlich habe er sich gegen die Spekulanten gestellt, das habe ihn das Leben gekostet. Es reizte Pippo, dazwischenzurufen: Und der Friesenberg? Kein Wort hat er gegen den Abriss von günstigen Wohnungen am Friesenberg verloren. Auch Genossenschaften sind Spekulanten geworden. Aber er biss die Zähne zusammen.

Die Junge rang nach Worten, tupfte sich die Tränen ab mit dem Tuch, das sie um den Hals geschlungen hatte. Lange braune Haare fielen ihr über die Schultern. Pippo hatte den Eindruck, sie sei die Geliebte von Kunz gewesen. Eine seiner Frauengeschichten.

«Eine Schlägerbande hat Martin in den Tod getrieben», fuhr sie fort, «brutale Typen auf Motorrädern. Es war kein Unfall, wie die Polizei behauptet. Sie haben ihn verfolgt, in die Enge getrieben. Ein politischer Mord.»

Einige klatschten. Man stand auf, schwieg im Andenken an Martin eine Minute, setzte sich wieder. Die Junge mit dem flachen Hut glich Alice auf jener Wanderung auf den Monte Morello, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Florenz in der Ferne im Dunst, die Olivenhaine entlang der Hügel gegen Fiesole. Ihre warme Stimme, ihre Zärtlichkeit. Die Schatten über der Ebene, der Wein. Die erste Nacht.

Pippo fuhr hoch, als jemand seinen Arm packte und schüttelte.

«Was ist?»

«Wacht auf, Verdammte dieser Erde!» Hermann grinste und zwirbelte seine Schnauzzipfel.

«Dummkopf!»

«Ende Feier, Ende Feuer. Gehn wir was trinken.»

Pippo wischte sich die Augen. Bei der Tür stand Robert und unterhielt sich mit der Jungen mit dem Tellerhut. Ihr Gesicht war gerötet, von Trauer keine Spur mehr.


Die Glatzköpfe hatten sich vor dem Bezirksgebäude gegenüber dem Volkshaus versammelt. Hermann zählte ein gutes Dutzend. Sie trugen Jacken aus Tarnstoff und kurze Lederstiefel, glotzten herüber, pfiffen oder reckten den Mittelfinger nach oben.

«Linke und Grüne, ab von der Bühne», grölten sie im Chor.

Die Gäste der Trauerfeier standen auf dem Gehsteig unter dem Vordach und schauten in den Regen. Einige diskutierten, ob man auf die Provokation reagieren solle oder sie ignorieren. Die Glatzköpfe hatten bestimmt Schlagringe und Ketten in den prallen Taschen ihrer Kampfanzüge, sie suchten den Krawall. Die Trauergäste waren nur mit Schirmen bewaffnet.

Hermann sah, wie sich Roberts Fäuste ballten. Er hatte Handball gespielt, fiel ihm ein. Sport galt damals auf der Linken als politisch unkorrekt, als bürgerliche Zeitverschwendung. Für den Lehrersohn war Handball ein proletarischer Sport, ein Mannschaftssport, bei dem es hart auf hart ging. Nach dem Globuskrawall im Sommer 68 hiess es, Robert habe einen Polizisten zusammengeschlagen. Das verschaffte ihm Ansehen in der Szene. Jetzt schien er sich zu fassen, seine Fäuste lösten sich. Er murmelte zwei oder dreimal vor sich hin: «Und das in Zürich.»

«Das sind die Typen, die Martin umgebracht haben!» Die Junge mit dem afghanischen Pakol auf dem Kopf stand dicht bei Robert, hielt sich an seinem Arm. Sie zitterte vor Erregung. «Mörder, Mörder!», gellte ihr Stimme.

Niemand unterstützte sie. Die Leute hatten keine Lust auf eine Schlägerei, ein paar verzogen sich ins Volkshaus oder gegen den Stauffacher. Die Glatzköpfe johlten, ein Dicker mit einer Wollmütze steckte den Zeigefinger in die Faust, bewegte ihn hin und her, brüllte etwas von «linken Fotzen» und «Ficken …» Hände reckten sich in die Höhe zum Hitlergruss.

Eine Bierbüchse flog über die Strasse. Hermann kickte sie zurück. Steine folgten und Latten von einer Baustelle. Eine krachte einem Auto in die Seite, der Fahrer bremste scharf. Glatzköpfe umringten das Auto, Fäuste trommelten aufs Blech. Der Fahrer gab Gas.

«Mörder, Mörder!», schrie die Junge.

Robert legte ihr eine Hand auf die Schulter. «Beruhig dich, das bringt nichts.»

Aus der Langstrasse raste ein Polizeiwagen mit Blaulicht quer über den Helvetiaplatz, stoppte beim Arbeiterdenkmal. Polizisten in Kampfmontur sprangen heraus, stellten sich auf ein Glied. Ein Offizier trat vor die Gruppe, forderte die Leute übers Megafon auf, sich zu zerstreuen. Gegen den Stauffacher hin waren zwei Mannschaftswagen aufgefahren. Die Polizisten bildeten eine Front, Schild an Schild, die Helmvisiere heruntergeklappt. Zwei oder drei hielten die Gewehre mit dem Gummischrot im Anschlag. Hinter ihnen staute sich der Verkehr. Ein Hupkonzert setzte ein.

«Sie gehen gegen uns, die Skinheads lassen sie ziehen!»

Einer der Glatzköpfe schleuderte noch eine Büchse, sie schlug auf den Randstein, spritzte die Vordersten mit Bier voll. Dann marschierten sie im Gleichschritt ab wie eine militärische Einheit. Dazu sangen sie.

Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!

Zum Kampfe stehn wir alle schon bereit!

Die Polizei sah zu, wie sie abzogen.

Hermann gab Pippo einen Stoss in die Rippen, der wie versteinert dastand. «Komm, wir trinken noch was.»

Pippo spuckte auf den Boden.

«Komm schon, jetzt wo unser Genosse Robert auferstanden ist.»

«Halt doch den Latz!»

Pippo fuhr sich mit der Hand über seinen von Stoppeln umkränzten kahlen Schädel. Sieht aus wie einer von denen, dachte Hermann. Verbittert, enttäuscht, versteht die Welt nicht mehr. Er wandte sich an Robert, der wie belämmert dastand, die Hände in den Taschen seines Regenmantels vergraben. Seine Begleiterin war verschwunden.

«Wo ist denn deine Freundin?»

Robert hob die Schultern.

«Was stehen wir im Regen herum. Kommt, feiern wir Wiedersehen.»

Hermann steuerte auf die Cafébar des Volkshauses zu. Pippo, Robert und ein paar andere folgten ihm.


Sie setzten sich auf eine Bank mit Lederpolster in einer Ecke der Cafébar. Aus Leder genäht war auch eine Nashornpuppe über dem Eingang. Was diese Figur zu bedeuten hatte, konnte sich Robert nicht erklären. Kunst oder politische Metapher? Nashörner stürmten blind voran, wenn sie in Wut gerieten, und sie waren vom Aussterben bedroht.

Die Stühle schienen noch die gleichen zu sein wie früher, als das Volkshaus einem Wartesaal glich. Arbeiter, Gewerkschafter, Parteifunktionäre, Arbeitslose sassen herum, diskutierten mit Studenten, die den Kontakt zur Basis suchten. Alle schienen auf etwas zu warten, auf Arbeit, auf bessere Zeiten, auf den Umsturz, die Neue Zeit, die klassenlose Gesellschaft. Lenin wartete hier auf den Zug, der ihn nach Sankt Petersburg und zur Revolution in Russland führte. Die Bar mit Spirituosen vor Spiegeln hatte es noch nicht gegeben, aber vielleicht den Kronleuchter, der zwischen schwarzen Lüftungsrohren und Leuchtstofflampen hing, so irritierend wie das lederne Nashorn.

Robert und Pippo bestellten Bier, Hermann einen Espresso. Er schwatzte ohne Pause, Pippo starrte stumm vor sich hin, sein Kiefer bewegte sich, als kaue er an der Vergangenheit. Er vermisste wohl seine Zigaretten, der Qualm von einst fehlte, der hier Lungen und Köpfe vernebelt hatte.

Robert fühlte sich unwohl, etwas Unverdautes lag ihm im Magen, bleierne Schwere lähmte seine Glieder. Er hatte Hermann und Pippo im Blauen Saal fast nicht mehr erkannt. Zwei alte Männer. Auch ich, dachte er, bin so alt und verbraucht wie sie. Doch je länger sie zusammensassen, desto jünger schienen sie zu werden. Hermann mit seinen Sommersprossen, den roten Haaren, der Krähenstimme. Pippo bärbeissig, mit beinahe kahlem Schädel, Stoppelbart und grauem Schnauz. Die Zeit schien sich rückwärts zu bewegen. Hermanns Geplauder plätscherte dahin wie einst, immer mehr glich er dem Hermi der Erinnerung. Es kam Robert vor, als seien sie erst gestern im Keller des Café Boy gesessen und hätten eine Aktion der Revolutionären Zelle geplant. Flugblätter oder eine politische Broschüre oder das Sprayen von Slogans an die Fassade einer Bank oder eines Konzerns.

US raus aus Vietnam.

Schah an den Galgen.

Tod der griechischen Junta.

Chile – Mörder Pinochet.

Es lebe Salvador Allende.

Der faschistische Putsch in Chile war die Wende gewesen.

Das Kommando Victor Jara.

Hermann erzählte von einem Filmprojekt, an dem er arbeite, «Tanguerilla». Er kam ins Schwärmen, sprach von politischen Bezügen, bis ihn Pippo anschnauzte: «Tango und Politik! Was soll der Schmarren?»

«Alles ist politisch, haben wir doch früher gesagt.»

«Auch Ficken und Fressen.»

«Tango ist proletarische Kultur. Arbeiter und Emigranten haben ihn getanzt in den Hafenvierteln und Bordellen von Buenos Aires. Während der Diktatur war Tango in Argentinien verboten!» Hermanns Gesicht glühte vor Begeisterung. So war er immer gewesen, überschwänglich, überdreht. Strohfeuer, das aufflackerte und gleich wieder erlosch.

«Wir hätten also Tanzstunden nehmen sollen statt Kurse in Marxismus-Leninismus.»

«Porqué no? Auch Che Guevara war ein grosser Tanguero.»

«Der hätte gescheiter getanzt statt Revolutionär gespielt.»

Auch Sara, dachte Robert. Sie hätte bestimmt gerne getanzt. Wären sie tanzen gegangen statt an Demos, dann würde sie noch leben. Eine ältere, aber noch immer attraktive Dame. Frau Brönimann vielleicht. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen. Wie sie in diesen Stühlen von gestern sitzt. Es glich Ariane, die verschwunden war.

Pippo streckte drei Finger in die Höhe. Der Kellner, ein Schwarzer mit Boxergesicht, brachte drei Stangen Bier. In Zürichdeutsch fragte er: «Wisst ihr, warum die Eidgenossen auf dem Rütli drei Finger gehoben haben?»

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