Kitabı oku: «Spurlos», sayfa 3
12
Vater sass auf einem Hocker, vor sich auf der Werkbank eine Flasche Bier. Er liess den Verschluss schnappen, setzte an, trank. «Sandra ist beim Verwalter, putzen.»
Er wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Sein Gesicht war gelb und mager, faltige Haut und Knochen. «Setz dich zu mir. Möchtest du einen Schluck?»
Magnus nickte, er hatte Durst. Ohne den Hut vom Kopf zu nehmen, hockte er auf eine Kiste.
«Schon zurück?» Der Vater füllte Bier in ein Glas, Schaum schwappte über den Rand.
«Nebel», sagte Magnus, griff nach dem Glas, stürzte das Bier so hastig, dass es ihm vom Kinn tropfte. Der Vater schenkte nach.
Eine Weile sassen sie schweigend. Magnus fuhr mit dem Daumen über die Spindel, die auf der Werkbank lag. Wie Samt fühlte sich das Holz an. Birnbaum. Manchmal wünschte er sich, er könnte auch drechseln. Hätte er nicht zwei linke Hände. Im Dorf jenseits der Berge gab es einen Souvenirladen, Gasthäuser, Skilifte, Touristen. Man könnte die Spinnräder dort verkaufen. Er würde sie übers Joch tragen, über die Grenze. Mit Geld zurückkehren.
«Ich muss dir mal was sagen.» Der Vater rang sich die Worte ab. Sein Atem ging in Stössen, als ob ihm etwas den Hals einschnürte und ihn würgte. «Ich bin krank, Sandra hat recht.»
«Was kann ich dafür?»
«Du kannst nichts dafür, Magnus.» Er griff sich die Spindel, setzte sie zwischen seinen Handflächen in Schwung, liess sie über die Werkbank surren wie einen Kreisel. «Es ist der Glockenturm.»
«Was ist mit dem Turm?» Magnus hob seinen Kopf, schaute durchs Fenster hinüber.
«Vor fünfhundert Jahren haben ihn fromme Menschen gebaut. Drunten im Land hat man sie verfolgt», erzählte der Vater mit brüchiger Stimme. «In diesem Tal haben sie Schutz gesucht und ihren Frieden gefunden.»
«Bis die weisse Frau gekommen ist.»
«Das ist eine Sage.»
Mutter hatte ihm die Geschichte erzählt. In Vollmondnächten steigt eine Frau in weissem Gewand vom Berg herab. Die Tür des Turms öffnet sich, sie zieht am Strang, die Glocke klingt silberhell, ganz anders als sonst. Die weisse Frau bringt Unglück.
«Mutter hat sie gesehen», sagte Magnus.
«Sie konnte nicht mehr schlafen, seit Antennen im Turm sind.»
«Wozu Antennen?»
«Für Mobiltelefone. Aber Mutter hat die Wellen gespürt. Sie hatte so dünne Haut.»
«Es gibt doch hier keine Wellen.»
«Sie sind unsichtbar. Sie sind in der Luft, überall. Deshalb machen sie so Angst.»
Der Vater legte Magnus die Hand auf die Schulter, sein Atem streifte ihn, er roch säuerlich. «Ich hab Mutter nicht geglaubt. Seit sie noch stärkere Antennen eingebaut haben, spüre ich die Wellen auch. Der Glockenturm macht uns krank.»
«Das sagt Anita», stiess Magnus hervor. «Weil sie bald stirbt.» Seine Nase lief, er wischte sie mit dem Ärmel seiner Jacke ab.
Der Vater griff nach der Flasche, umspannte sie mit einer Hand. Die Sehnen traten aus seinem Handrücken hervor. «Vielleicht werde ich auch sterben.»
«Hier gibt es keine Wellen», wiederholte Magnus trotzig. Er stand auf, stiess die Kiste mit dem Fuss unter die Werkbank.
«Sandra glaubt das auch nicht.» Der Vater riss einen Streifen Schleifpapier ab, begann die gedrechselten Radspeichen zu polieren, die auf einem Stofflappen auf der Werkbank lagen. Zärtlich zog er das feine Schmirgelpapier über das Holz, blies den Staub weg, legte die Speiche sachte auf den Stofflappen zurück, als könne sie zerbrechen.
Die Tür ging, Sandra trat in die Werkstatt. Sie atmete schwer und schwitzte. Ihre Zöpfe hatte sie um den Kopf gebunden, sie war parfümiert und trug einen weiten Rock mit Puffärmeln, eine Schürze und weisse Kniestrümpfe.
Magnus ging an ihr vorbei, warf sich den Rucksack über die Schulter und ging die Treppe hinauf zur Wohnung.
«Grüsst der junge Herr nicht mehr?», rief sie ihm hinterher. Er drehte sich nicht um.
13
Ning stand in einem blauen Blazer mit dem Signet der Hotelkette auf der Brusttasche hinter der Rezeption, ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden. «Die Herren sind schon im Café.» Sie lächelte Andrea zu. «Ich komme gleich.» Dann unterhielt sie sich in Englisch mit einem Paar, das ein Zimmer bezog.
Das Café des Hotels war fast leer. Zwei Herren in dunklen Anzügen sassen am Fenster, durch das man über die Stadt hinweg in die Ferne sah. Dunst schwebte über den Dächern, die Berge am Horizont standen im Schatten. Einer der Herren federte vom Stuhl, als er Andrea erblickte: «Frau Stamm. Wir kennen uns.»
Andrea erkannte die gedrungene Gestalt nicht gleich.
«Sie erinnern sich? Peter Frey.» Er wollte ihr die Windjacke abnehmen.
«Es geht schon», wies ihn Andrea zurück. «Sie sind der Gemeindeverwalter.»
Er stand dicht vor ihr, sein Atem roch nach Weisswein. «Die Gemeinde steht unter Kuratel. Ich bin von der Regierung abgeordnet.»
«Kuratel? Was heisst das?»
«Sie ist bankrott, wird vom Staat verwaltet. Weil ich im Dorf ein Haus besitze und Mitglied des Grossen Rates bin, hat man mich mit der Aufgabe betraut. Kein leichter Job. Ehrenamtlich sozusagen.»
Sie traten an den Tisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand, einige Schriftstücke lagen daneben ausgebreitet.
«Herr Grieco. Von der Lévi AG», stellte Frey einen rundlichen Herrn mit schwarzem Kraushaar vor. Das Jackett spannte über seinem Bauch, die rote Krawatte war schief geknotet. Ein unerwartet harter Händedruck liess Andrea zusammenzucken. Lévi AG, der Name weckte Erinnerungen. Unangenehme. Das Zementwerk hatte den Lévis gehört, der Kalksteinbruch und die grösste Baufirma der Gegend. Sie setzte sich auf die Kante des Stuhls, den ihr Frey rückte. «Wir warten noch auf Frau Stamm.»
«Ich bin Frau Stamm», gab Andrea zurück.
«Entschuldigen Sie. Ich meinte die Gattin Ihres verstorbenen Vaters. Sie trägt Ihren Familiennamen, wenn ich mich nicht irre?»
«Sie irren sich nicht.»
«Ihr versteht euch gut, habe ich vernommen.»
«Sie vernehmen viel, Herr Frey.»
«Das ist leider nicht selbstverständlich. Sie ist ja sozusagen Ihre Stiefmutter. Was trinken Sie?»
«Kaffee bitte.»
Frey winkte die Kellnerin herbei.
Grieco zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, tippte eine heraus, hielt sie Andrea hin. «Rauchen Sie?» Seine Finger waren breit, die Nägel kurz geschnitten. Eine Arbeiterhand, die nicht zu den goldenen Manschettenknöpfen passte.
Andrea lehnte ab.
«Aber Sie erlauben?» Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, zog sie aus der Packung.
«Lieber nicht. Eine Freundin liegt mit Lungenkrebs im Spital.»
«Die Wirtin der ‹Alpenrose›», bemerkte Frey.
«Tut mir leid.» Grieco legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, in dem schon einige Stummel lagen. Ning trat leise an den Tisch, setzte sich neben Andrea. Ihr Parfümduft verdrängte den Tabakgeruch.
«Die Lévi AG interessiert sich für Ihr Haus», eröffnete Frey das Gespräch. «Sie kennen die Firma?»
«Eine Besitzerin ist in den Bergen umgekommen», bemerkte Andrea, «Claudia Baumberger-Lévi. Ich war bei der Bergung dabei.»
«Richtig.» Grieco beugte sich vor, kämmte sich mit seinen dicken Fingern das Kraushaar. «Nach ihrem tragischen Tod und dem …», er suchte nach dem richtigen Wort, «… dem Hinschied ihres Gatten haben leitende Angestellte das Unternehmen übernommen. Ich war Lévis Bauführer und bin nun für den Immobilienbereich zuständig.»
«Management Buyout», erklärte Frey. «Ich berate das Unternehmen in Finanz- und Steuerfragen. Sehen Sie nun den Zusammenhang?»
Andrea nickte. Baumberger hatte damals seine Frau auf dem Weg unter der Plattenburg erschlagen, jedoch Steinschlag vorgetäuscht. Er selber war kurz darauf in eine Leitplanke gerast, wahr scheinlich Selbstmord.
«Robert wollte nicht verkaufen», sagte Ning leise.
«Sie haben also schon meinem Vater ein Angebot gemacht? Er hat mir nie davon erzählt.»
Grieco klemmte ein Zündholz zwischen die Zähne, liess es auf und ab wippen. «Wir haben versucht, mit ihm zu verhandeln. Aber Sie kannten ihn ja.»
Kannte sie ihn? Sie sah ihn vor sich, wie er die Makler abgeputzt hatte, in seiner ruppigen Art. Er konnte verletzen, er konnte lieben, niemand kannte ihn wirklich. Sie sagte: «Töchter haben oft härtere Köpfe als ihre Väter.»
Die Männer lachten, als habe sie einen Scherz gemacht.
Grieco tippte auf die Tasten des Laptops, drehte ihn um, damit sie den Bildschirm sehen konnte. Ein Plan erschien, grüne, braune, gelbe Flächen und Linien. «Die Lévi AG plant eine grosse Überbauung an Stelle der alten Häuschen. Moderne, sonnige, soziale Wohnungen für Familien, Alterswohnungen, ein Kindergarten …»
«Die Behörden unterstützen das Projekt. Eine gute Sache», unterbrach ihn Frey, «absolut keine Spekulation. Wir haben hier ein Schreiben der Stadtverwaltung.» Er legte einen Brief neben den Computer, Stadtwappen, Unterschriften. Dr. Peter Frey, Grossrat, Gemeindeverwalter.
Andrea überflog das Papier, sah zwischendurch auf den Bildschirm. War das eine gute Sache? Erinnerungen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Lévis, die Zementbarone. Baumberger, eingeheiratet in die Familie, der seine Frau mit einem Stein erschlagen hatte, im Suff in die Leitplanke gekracht. Claudias Leiche auf dem Felsband unter dem Weg.
«Ich kann mir vorstellen, was Sie denken», sagte Grieco mit gedämpfter Stimme. «Ich habe Baumberger gekannt. Mein Vater war Schichtführer im Zementwerk des alten Lévi. Silikose, kein schöner Tod.» Er griff nach der Zigarette, drehte sie zwischen seinen Fingern. «Vergessen Sie die Vergangenheit. Wir kommen nicht weiter, wenn wir ständig am Alten hängen.»
«Rauchen Sie», sagte Andrea. «Es stört mich nicht mehr.»
Grieco steckte sich die Zigarette in den Mund, ein Zündholz flammte auf, zitterte in seiner Hand. «Danke, Frau Stamm. Ich glaube, wir verstehen uns.»
Frey lehnte über den Tisch und wandte sich mit überlauter Stimme an Ning. «Haben Sie mitbekommen, worum es geht?»
Sie nickte. «Sie bauen Wohnungen. Für Familien, Kinder, alte Leute.»
«Wir werden eine schöne Wohnung für Sie und Ihren Sohn reservieren. Zu Vorzugsbedingungen.»
Ning lächelte. «Danke, danke vielmals.» Sie legte ihre Hand auf Andreas Arm.
«Die Lévi AG macht Ihnen ein faires Angebot.» Frey lehnte sich zurück, faltete seine Hände im Nacken. «Überlegen Sie sich das in Ruhe. Ein besseres werden Sie nie mehr erhalten.» Er schob ein zweites Schreiben über den Tisch, Briefkopf der Lévi AG. Andreas Augen glitten über Buchstaben, Absätze, blieben zuunterst an einer Zahl hängen, fett gedruckt. Eine Zahl, bei der ihr schwindelte. Meine Kindheit, dachte sie, Vater, Mutter, der Garten mit dem Plattenweg, die Beerenstauden und Gemüsebeete. Alles würde verschwinden unter Beton, alle Erinnerung würde zugedeckt und ausgelöscht, zurück blieb diese abstrakte Zahl auf einem Bankkonto. Aber wollte sie sich erinnern? Hatte sie nicht schon Abschied genommen? Wollte sie nicht etwas ganz Neues beginnen? Die «Alpenrose», die Kletterhütte, ihre Kletterschule. Endlich einmal Tritt fassen irgendwo.
«Sie müssen sich nicht heute entscheiden.» Grieco klappte den Laptop zu. «Reden Sie miteinander, wir wollen Sie nicht drängen. Obwohl wir sehr interessiert sind an dem Projekt.»
«Die ‹Alpenrose› wäre Ihnen», bemerkte Frey beiläufig und stand auf. «Ohne Hypothek. Mitsamt einer ordentlichen Renovation.»
Die Herren bezahlten, packten ihre Aktenkoffer, verabschiedeten sich.
Andrea legte Ning den Arm um die Schulter und trat mit ihr ans Fenster. «Ning», flüsterte sie ihr ins Ohr. «Ning. Sollen wir das Haus verkaufen? Willst du das?»
Eine Klingel ertönte, Ning wurde an der Rezeption verlangt.
«Ich will, was du willst, Andrea.» Sie wand sich los, ihr Lächeln war eingefroren. Was wollte sie wirklich? Warum sagte sie «Ja» zu allem, was ihr begegnete? Andrea mochte sie, aber sie verstand sie nicht. Und Robert? Ihr Vater war ein anderer Mensch geworden in der kurzen Zeit, in der er mit ihr gelebt hatte, scheinbar ruhig und glücklich und noch fremder als zuvor. Jetzt ruhte er auf dem Berg mit all seinen Geheimnissen.
14
Den Weg war er noch nie gegangen. Unter schroffen Felswänden stieg er an gegen Westen. Er überquerte eine Runse mit einem Bach, dann wurde der Pfad steinig und schmal. Führte hart dem Abgrund entlang. Ein blauer Pfeil zeigte in eine Felskehle, die gegen den Grat hinaufzog. Die Wände glatt, ausgewaschen, der Grund mit Geröll gefüllt. Magnus stieg durch rutschigen Schotter und über eingeklemmte Blöcke hinweg bis in eine Scharte. Kalter Wind fuhr ihm ins Gesicht.
Er hatte gehofft, auf der Nordseite führe der Pfad hinunter ins Dorf jenseits der Grenze. Doch die Flanke fiel steil ab, war mit Schnee bedeckt. Keine Spur zu erkennen. Zwischen vorspringenden Felsblöcken schimmerte blaues Eis. Tief unten lag eine Ziegenalp im Schatten, das Dorf blieb in einem bewaldeten Kes sel versteckt.
Von der Scharte schwang sich der Grat auf wie der Bug eines Schiffes. Der Dreimastsegler der Waljäger in seinem Buch. Die Drahtseile und Eisenleitern auf dem Grat glitzerten in der Sonne. Mit dem Feldstecher hatte er schon Leute beobachtet, die da hochkletterten. Bedächtig stiegen sie, klinkten sich mit Karabinerhaken an die Seile. Es reizte ihn, hinaufzuklettern auf das steinerne Schiff. Doch er besass weder Seil noch Karabinerhaken, nur den alten Rucksack und die Militärschuhe.
Der Berg machte Angst. Die Südflanke im Sonnenlicht senkrecht und glatt, die Nordseite düster und kalt. Scharf trennte der Grat Licht und Schatten, abweisend und steil ragte er in den Himmel.
Über aufgetürmte Felsblöcke kletterte Magnus zum ersten Aufschwung, eine Leiter war einzementiert. Es ging leichter, als er sich vorgestellt hatte. Ein Drahtseil führte weiter über einen geneigten First. Er fasste es mit beiden Händen, das kalte Metall schnitt ins Fleisch. Er wandte den Kopf, sein Blick fiel in die Tiefe, fand keinen Halt. Ihm war, als wolle ihn eine Kraft in den Abgrund reissen.
«Nein», presste er hervor, blickte in die Höhe, wo der Felsenbug vor ihm aufragte. Wie Gischt flocken Wolkenfetzen über ihn hinweg. Magnus klammerte sich mit beiden Händen ans Drahtseil. Es war, als gewinne das Schiff an Fahrt. Er hörte Rauschen und Zischen von Wind und Wellen. Sein Herz schlug heftig, Schweiss rann ihm übers Gesicht, brannte in den Augen. Er presste seine Stirn gegen den kalten Stein. Träumte er, wie so oft, er sei ein Matrose und klammere sich an ein Tau am schwankenden Mast?
Ein Satz aus dem Buch fiel ihm ein. Die Welt ist ein Schiff, das den Anker lichtet. Jetzt verstand er ihn. Die ganze Welt war ein Schiff geworden.
Er nahm allen Mut zusammen, kletterte weiter, Seilen und Leitern entlang, dann auf allen Vieren über ein flaches Gratstück, bis ihm ein Steinhaufen den Weg verstellte. Kein Seil, keine Leiter, nur noch Luft. Es war der Gipfel, der Ausguck des grossen Schiffs. Magnus’ Herz machte einen Sprung. Er packte einen Felsbrocken, schleuderte ihn mit einem Schrei über die Wand und hörte, wie er aufschlug und eine Steinlawine mit in den Abgrund riss.
Es war kein Traum. Er hatte einen Berg bestiegen. Ohne Seil, ohne Karabinerhaken, nur mit seinen Händen und seinem Mut. Er stand im Top, im Ausguck, zuoberst auf dem Schiff, das die Welt war.
Die Luft fühlte sich an wie Glas. Gegen Süden glitt sein Blick über Hügel, Täler und Höhenzüge hinweg zu blauen Gipfeln. Wellen eines versteinerten Meeres. Im Westen wand sich die glitzernde Schlange eines Flusses durch die Ebene, eine Stadt lag versunken in Rauch und Dunst. In der Ferne stieg eine feine Dampfsäule in den Himmel. Die Welt war unendlich weit und gross, und jetzt war sie wieder in Ruhe, fest verankert. Er blickte hinab. Die Kühe, tief unten auf der Alp, grasten wie Flöhe im grünen Pelz. Der Wohnbus des Hirten ein Spielzeug auf dem Parkplatz. Mit dem Feldstecher suchte Magnus die Gegend ab, entdeckte Alpen mit Hütten, Dörfer, Strassen durch Täler und über Pässe, Berggipfel, deren Namen er nicht kannte.
Dann spürte er, wie müde und hungrig er war. Brot und Käse hatte er längst aufgegessen, die Flasche war leer. Er legte sich ins Geröll neben den Steinmann, bettete seinen Kopf auf den Rucksack, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, roch das Gestein und stellte sich vor, das grosse Schiff lichte die Anker und trage ihn weiter bis ins Meer, das im Süden hinter den fernen Bergkämmen lag.
Ein Luftzug weckte ihn. Faseriges Gewölk hatte sich vor die Sonne geschoben. Zeit zum Absteigen. Er klammerte sich ans Drahtseil, das Gesicht nahe am Fels, tastete mit den Füssen nach Halt. Tritt um Tritt kletterte er vorsichtig tiefer. Die Bergführerin kam ihm in den Sinn, die wie eine Spinne am Seidenfaden vom Berg herabschwebte. Wenn er das auch könnte! Sich ohne Angst, sicher und beschwingt über Abgründen bewegen.
Allmählich kam er besser voran, fühlte sich sicherer. Fiel sein Blick über die Felswände in die Tiefe, spürte er ein luftiges Flattern im Bauch. Ein Gemisch aus Angst und Lust. Wie als sie heimlich gekifft hatten im Heim.
Die Sonne stand tief, als er die Scharte erreichte. Die Ziegenalp auf der Nordseite war im Schatten versunken. Durch Schotter rutschte er die Felskehle hinab zum Weg. Bei der Runse kniete er nieder, schöpfte mit beiden Händen kaltes Wasser aus dem Rinnsal und trank, bis sein Bauch schmerzte.
Es dämmerte, als er zur Alphütte kam. Die Tür stand offen, ein Glatzkopf und eine junge Frau mit Rastalocken sassen am Tisch. Sie drehten Spaghetti auf Gabeln, tranken Wein. Kerzen brannten. Erstaunt blickten sie auf, als Magnus eintrat. Der Glatzkopf legte seine Gabel auf den Teller, wischte sich mit der Hand den Mund, stand auf. Gehänge wie Löffel baumelten an seinen Ohrläppchen. Er musterte Magnus von Kopf bis Fuss: «Das darf ja nicht wahr sein! Der Magnus.»
Magnus wich einen Schritt zurück. An der schrillen heiseren Stimme erkannte er den Alphirten. Iwan Zemp, sein Wohngruppenleiter. Im Heim hatte er blonde Haare bis auf die Schultern getragen. Christkind nannten sie ihn.
15
Sie war zu früh im Dorf, lehnte auf dem Parkplatz vor der «Alpenrose» am Jeep und betrachtete das Haus. Eine Nomadin wird sesshaft, dachte sie. Robert hatte einmal behauptet, ihre Mutter stamme von Fahrenden ab. Andrea war in der Welt «herumzigeunert», wie er das nannte. Jene Zeit lag hinter ihr, etwas Neues tat sich auf, so unbekannt wie der Weg durch die Felswand in Patagonien, den noch nie ein Mensch betreten hatte. Man sagte, die Sesshaften seien stärker als die Nomaden, die sie überall auf der Welt verdrängt und ausgerottet hatten.
Vom Turm schlug es drei Uhr. Gleich danach parkte Frey seinen BMW neben ihrem Jeep, stieg aus. Die Lichter seines Wagens blinkten auf, als er abschloss. Er begrüsste sie, gratulierte zu ihrem Entscheid. «Herr Kernen wird gleich da sein.»
«Wer ist das?»
«Der Dorfschreiner. Bei öffentlich-rechtlichen Vertragsabschlüssen habe ich immer einen Vertreter der Gemeinde dabei.»
Andrea erkannte den Mann im blauweiss gestreiften Überkleid und dem Christusbart, der sich vom Glockenturm her näherte. Er war ihr im Stadtspital begegnet, mit einem Bund Weidenkätzchen hatte er Anita besucht. Ein zukünftiger Nachbar. Er blieb in gehörigem Abstand stehen, blickte auf den Boden, während er einen Gruss murmelte.
Frey zog einen schweren Schlüssel aus seinem Aktenkoffer, schloss die Eingangstüre zur «Alpenrose» auf. Feuchtmuffige Luft schlug ihnen aus dem Treppenhaus entgegen. Noch habe ich nicht unterschrieben, ging Andrea durch den Kopf. Noch kann ich zurück. Ein Klumpen sass ihr im Hals. Der Kauf war ein Entscheid aus dem Bauch gewesen.
«Das Haus stand längere Zeit leer», erklärte Frey, «einmal gut durchlüften, dann müffelt es nicht mehr. Die Substanz ist gut.» Die Treppenstufen knarrten, Andrea war bisher nie aufgefallen, wie ausgetreten sie waren. Holzwürmer hatten winzige Krater aus weissem Staub aufgehäuft. Putz war auf die Stufen und Zwischenböden gefallen, Risse durchzogen die geweisselte Wand wie Spinnweben. Die Gaststube sah aus, als wären eben die letzten Stammtischgäste aufgestanden und ins Freie getorkelt. Klebrige Ringe auf dem runden Tisch, auf einem andern standen zwei Gläser auf Biertellern mit eingetrocknetem Schaum und eine angebrochene Flasche.
«Anita konnte nicht mehr aufräumen, man hat sie nach der letzten Untersuchung gleich im Spital behalten.» Freys Stimme hallte in der Gaststube. Der Schreiner brummte etwas und zupfte seinen Bart.
An der hinteren Wand hingen noch immer Aquarelle von Anita neben den vergilbten Fotos, die Andrea früher oft betrachtet hatte. Sie stammten von Töni, dem legendären Wirt und Bergführer. «Haben Sie den Töni gekannt?», fragte sie den Schreiner.
Er sah auf die Fotos, nickte. «Ich arbeitete auswärts, als er starb.» Er deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Berge. «Drüben.»
Frey rief vom Fenster her: «Die Aussicht fasziniert mich jedes Mal, diese Stimmung.» Die Wolken hatten sich gehoben, ein Stück Himmel zeigte sich. Die schroffen Hänge der andern Talseite erschienen im Licht der Sonne sanfter. «Möchten Sie nochmals einen Rundgang machen, oder wollen wir gleich den Papier kram erledigen?»
Andrea hatte die «Alpenrose» mit einem Architekten und Kletterkumpel, der mit ihr in Patagonien gewesen war, vom Keller bis unters Dach abgeschritten. Reto Kocher kannte sich mit Altbauten aus. Der Zustand des Hauses sei nicht schlecht, da und dort faules Holz, das Gebälk zum Teil verwurmt, das Dach müsste gelegentlich erneuert werden, die Kellergewölbe entfeuchtet. Schimmelpilz hatte sich angesetzt. Zum Glück kein Hausschwamm. Doch die Substanz sei gut, ein historisches Objekt, im Kern ein paar hundert Jahre alt, das unbedingt erhalten werden müsse. Höchste Zeit, dass etwas geschieht, hatte Reto gesagt und sich anerboten, ein Projekt auszuarbeiten. Er hatte die Kosten einer sanften Renovation abgeschätzt und bei Frey den Preis nochmals gedrückt. So viel sei allein schon das Grundstück wert, meinte Reto. Eine gute Investition also.
«Machen wir’s kurz.» Andrea setzte sich an den runden Tisch, Frey und Kernen nahmen gegenüber Platz. Der Verwalter wischte mit einer Hand Staub weg, legte die Verträge hin.
«Müsste nicht ein Notar dabei sein?», fragte Andrea.
«Nicht nötig. Ich bin amtliche Urkundsperson. Herr Kernen unterschreibt als Vertreter der Bürgergemeinde.»
Sie überflog den Kaufvertrag, bemerkte keine Veränderungen gegenüber dem Text, den der Architekt mit Frey ausgehandelt hatte. Steuerbefreit für die ersten zwei Jahre, das war schon etwas wert. Sie unterschrieb, Frey setzte seinen schwungvollen Schnörkel darunter, schob Kernen das Papier zu. Der zögerte. «Was soll ich …?»
«Unterschreiben, Herr Kernen.»
«Damit übernehme ich doch keine Verpflichtungen?»
«Absolut nicht, Herr Kernen.» Frey tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. «Lesen Sie hier. Sie bestätigen lediglich, dass Frau Stamm und ich persönlich unterschrieben haben. Als Zeuge sozusagen.»
Das Wort «Zeuge» schien Kernen zu verunsichern, doch er setzte Vornamen und Namen in einer regelmässigen Schülerschrift auf das Dokument.
«Gratuliere! Das Haus gehört Ihnen.» Frey stand auf, überreichte Andrea mit einer Verbeugung den Schlüssel. «Viel Glück für Ihr Unternehmen. Wie heisst Ihre Kletterschule schon wieder?»
«Rock’n’Ice.»
«Toll! Das wird Leute und Leben ins Dorf bringen. Und Arbeit fürs Handwerk, nehme ich an.» Kernen schaute aus dem Fenster, Freys Geschwätz war ihm offensichtlich peinlich.
«Mein Architekt wird mich beraten», sagte Andrea.
«Selbstverständlich sind Sie in der Wahl der Handwerker frei.»
Frey sah auf die Uhr: «Ich muss jetzt leider. Habe noch einen Termin.»
Gemeinsam traten sie ins Freie, redeten noch etwas übers Wetter, das nun hoffentlich besser werde, dann fuhr er weg.
Der Schreiner blieb stehen, als habe er noch ein Anliegen, die Hände in den Taschen seiner Überhosen. «Schönes Haus», sagte er mit belegter Stimme. «Gut, dass Sie es übernehmen und nicht ein Spekulant. Sie kennen die Berge und das Leben hier.»
«Die Berge kenne ich», sagte Andrea. «Das Leben noch nicht.»
Er wühlte in seinem Hosensack, zog ein Päcklein Kaugummi hervor, riss einen auf und steckte ihn in den Mund. «Ich habe das Rauchen aufgegeben. Mögen Sie?»
Andrea nahm sich einen Kaugummi. «Natürlich werden wir Sie anfragen, Herr Kernen, wenn es um Schreinerarbeiten geht.»
«Schon gut.» Er riss einen zweiten Kaugummi auf, schob ihn zwischen die Zähne, drehte das Papier zwischen seinen Fingern zu einer Kugel.
«Ist noch was?», fragte Andrea.
Er atmete tief durch. «Ich würde so gerne noch einmal auf den Berg.»
«Auf welchen Berg?»
«Die Plattenburg. Als Junge war ich mal oben. Mit dem Töni.»
«Dann haben Sie ihn also gut gekannt.»
«Er war mein Onkel.» Kernen presste eine Hand in die Hüfte, als fahre ein plötzlicher Schmerz durch seine Seite. «Wir sind über den Südgrat geklettert, vom Joch aus.»
«Töni muss ein guter Bergsteiger gewesen sein», sagte sie. «Die Erstbesteigung der Westwand war in jener Zeit eine grosse Sache.»
Kernen sah an ihr vorbei, seine Kinnladen mahlten versunken den Kaugummi. Sie wartete, ob er noch etwas erzähle von seinem Onkel, doch er schwieg.
«Sie hören von mir», sagte Andrea.
Kernen nickte. «Ich danke Ihnen.» Sein Händedruck war feucht und kraftlos.
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