Kitabı oku: «Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur», sayfa 4
»Wie heißen Sie?« fragte die Direktrice.
»Denise Baudu.«
»Ihr Alter?«
»Zwanzig Jahre und vier Monate.«
Sie wagte es, die Augen zu Mouret zu erheben, den sie in allen Abteilungen mit der gleichen Autorität hatte auftreten sehen und dessen Anwesenheit sie in Verlegenheit setzte; unbeholfen fügte sie hinzu:
»Ich bin recht kräftig, wenn ich auch nicht danach aussehe.«
Alles lächelte.
»In welchem Haus haben Sie in Paris gearbeitet?« fragte die Direktrice.
»Ich bin eben erst aus Valognes angekommen.«
Das war ein neues Mißgeschick. Gewöhnlich verlangte man beim »Paradies der Damen«, daß die Verkäuferinnen mindestens ein Jahr in einer Pariser Firma gearbeitet hatten. Denise glaubte, nun sei alles verloren; und wären die beiden Brüder nicht gewesen, für die sie Geld verdienen mußte, sie wäre sicherlich davongelaufen, um diesem nutzlosen Verhör ein Ende zu machen.
»Wo waren Sie in Valognes?«
»Bei Cornaille.«
»Den kenne ich, das ist eine gute Firma«, bemerkte Mouret. Gewöhnlich enthielt er sich bei der Einstellung von Verkäufern oder Verkäuferinnen jeder Einmischung, denn die Abteilungsleiter waren für ihr Personal verantwortlich. Aber mit seinem feinen Sinn für Frauen spürte er bei diesem Mädchen einen verborgenen Reiz heraus, dessen sie sich selbst nicht bewußt war.
Der gute Ruf des Hauses, aus dem ein Anfänger kam, war von großer Bedeutung und oft entscheidend für die Aufnahme. Frau Aurélie fuhr mit milderer Stimme fort:
»Warum sind Sie von Cornaille weggegangen?«
»Aus Familienrücksichten«, erwiderte Denise errötend. »Wir haben unsere Eltern verloren, ich mußte mich meiner Brüder annehmen. Übrigens habe ich hier ein Zeugnis.«
Das Zeugnis war ausgezeichnet. Schon begann sie zu hoffen, als eine letzte Frage sie in Verlegenheit setzte.
»Können Sie uns in Paris irgendwelche Empfehlungen nennen? Wo wohnen Sie?«
»Bei meinem Onkel«, flüsterte sie, zunächst ohne den Namen zu nennen, denn sie fürchtete, daß man die Nichte eines Konkurrenten niemals einstellen werde. »Bei meinem Onkel Baudu gegenüber«, sagte sie endlich.
Da konnte sich Mouret nicht länger enthalten dreinzureden.
»Wie, Sie sind die Nichte Baudus? Hat Baudu Sie geschickt?«
»Oh nein!«
Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, so seltsam erschien ihr die Frage. Im gleichen Augenblick war sie wie umgewandelt, ihr Gesicht bekam Farbe, und das Lächeln auf ihren Lippen schien ihr ganzes Wesen erschlossen zu haben. Ihre grauen Augen gewannen einen zarten Schimmer, allerliebste Grübchen erschienen auf ihren Wangen, selbst ihre schweren blonden Haare wirkten heiter und duftig.
»Sie ist ja sogar hübsch!« bemerkte Mouret leise zu Bourdoncle.
Dieser machte eine ablehnende Geste. Claire schürzte die Lippen, während Marguerite sich abwandte. Frau Aurélie allein schien gewonnen und stimmte mit einem Kopfnicken Mouret zu, als dieser fortfuhr:
»Es ist nicht recht von Ihrem Onkel, daß er Sie nicht herübergebracht hat, seine Empfehlung hätte genügt. Man erzählt, daß er böse auf uns sei. Wir sind nicht so engherzig, und wenn er für seine Nichte im eigenen Haus keine Beschäftigung hat, werden wir ihm zeigen, daß sie bei uns nur anzuklopfen braucht, um aufgenommen zu werden. Sagen Sie ihm, daß ich ihn hochachte und daß er nicht über mich ungehalten sein dürfe; die veränderten Verhältnisse im Handel sind an allem schuld. Und sagen Sie ihm auch, daß er verloren ist, wenn er an seinen lächerlichen alten Gewohnheiten eigensinnig festhält.«
Denise war ganz blaß geworden. Dieser Herr war also Mouret! Niemand hatte seinen Namen genannt, aber er selbst hatte sich als der Chef zu erkennen gegeben. Sie begriff jetzt, warum der junge Mann einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte, zuerst auf der Straße, dann in der Seidenabteilung und jetzt wieder. Dieser Eindruck, den sie sich nicht zu erklären vermochte, lastete immer schwerer auf ihrem Herzen. Alle Geschichten, die der Onkel ihr erzählt hatte, kehrten in ihre Erinnerung zurück und ließen Mouret noch ungewöhnlicher erscheinen, umgaben ihn mit einer Legende, machten aus ihm den Meister der schrecklichen Maschinerie dieses Warenhauses, von deren Rädern sie sich seit dem Morgen erfaßt fühlte. Hinter seinem hübschen Kopf mit dem wohlgepflegten Bart und den schönen goldbraunen Augen meinte sie seine tote Frau, diese Frau Hedouin zu sehen, mit deren Blut das Haus gebaut war. Da packte sie wieder ein unklares Gefühl der Furcht.
Mittlerweile hatte Frau Aurélie die Liste zugeklappt. Sie brauchte nur eine einzige Verkäuferin, und es waren schon zehn vorgemerkt. Allein sie wollte zu sehr dem Chef gefällig sein, als daß sie noch länger gezögert hätte. Sie meinte nur, die Sache müsse ihren üblichen Gang gehen; der Inspektor Jouve werde Erkundigungen einholen, ihr berichten, und dann werde sie ihren Entschluß fassen.
»Es ist gut, Fräulein«, sagte sie endlich majestätisch. »Man wird Ihnen die Entscheidung schriftlich mitteilen.«
Denise stand noch immer verwirrt und unbeweglich da. Sie wußte nicht, wie sie von all diesen Leuten fortkommen sollte; endlich dankte sie Frau Aurélie und ging mit einem Gruß an Mouret und Bourdoncle vorüber. Diese beschäftigten sich übrigens längst nicht mehr mit ihr und vergaßen, den Gruß zu erwidern. Claire machte eine mürrische Geste zu Marguerite hinüber, wie um vorauszusagen, daß die neue Verkäuferin in dieser Abteilung keinen angenehmen Stand haben werde. Denise fühlte ohne Zweifel die Gleichgültigkeit und das Unbehagen, das sie zurückgelassen hatte, denn sie stieg ebenso verlegen die Treppe hinab, wie sie heraufgekommen war, die Beute einer seltsamen Beklemmung und ganz ungewiß, ob sie sich freuen oder ärgern sollte, daß sie hierhergekommen war. Durfte sie auf diese Stelle zählen? In ihrem Unbehagen, das sie daran hinderte, alles genau abzuwägen, vermochte sie sich diese Frage nicht zu beantworten. Von all ihren verschiedenen Empfindungen blieben zwei zurück und verdrängten allmählich alle übrigen: der tiefe Eindruck, den Mouret auf sie gemacht hatte, ein Eindruck, der an Furcht streifte, und die Liebenswürdigkeit Hutins, die sie jetzt noch mit Dankbarkeit erfüllte. Als sie das Geschäft verließ, suchte sie den jungen Mann, um ihm wenigstens mit einem Blick noch einmal zu danken; zu ihrem größten Kummer konnte sie ihn nicht entdecken.
»Nun, Fräulein, haben Sie Glück gehabt?« fragte sie eine Stimme, als sie endlich auf der Straße anlangte.
Sie wandte sich um und erkannte den großen, blassen, schlaksigen Jüngling, der sie am Morgen schon angesprochen hatte. Auch er kam aus dem »Paradies der Damen« und schien noch bestürzter als sie, noch verwirrter durch das Verhör, dem er sich hatte unterziehen müssen.
»Mein Gott, ich weiß es nicht einmal«, erwiderte sie.
»Genauso geht's mir auch. Die haben eine seltsame Art da drinnen, einen auszufragen und anzusehen ...«
Wieder standen sie einander gegenüber, und da sie nicht wußten, wie sie sich verabschieden sollten, erröteten sie abermals. Um doch wenigstens etwas zu sagen, fragte der junge Mann in seiner linkischen und biederen Art:
»Wie heißen Sie, Fräulein?«
»Denise Baudu.«
»Und ich heiße Henri Deloche«, stellte nun auch er sich vor. Da lächelten beide. Im Gedanken an die Gleichartigkeit ihrer Lage gaben sie einander die Hand.
»Viel Glück!«
»Ja, viel Glück!«
Drittes Kapitel
Jeden Samstag von vier bis sechs Uhr hielt Frau Desforges für ihre nächsten Bekannten eine Tasse Tee und etwas Gebäck bereit. Ihre Wohnung lag im dritten Stock an der Ecke Rue de Rivoli und Rue d'Alger; die Fenster der beiden Salons gingen auf die Tuilerien hinaus.
Diesen Samstag war auch Mouret gekommen; als der Diener ihn in den großen Salon führen wollte, sah er durch eine offene Tür Frau Desforges gerade in den kleinen Salon gehen. Sie blieb stehen, als sie ihn bemerkte, er trat bei ihr ein und begrüßte sie sehr förmlich. Als der Diener aber die Tür geschlossen hatte, ergriff er lebhaft die Hand der jungen Frau und küßte sie zärtlich.
»Gib acht, es ist schon jemand da!« flüsterte sie und deutete auf die Tür des großen Salons. »Ich wollte nur diesen Fächer holen, um ihn den Damen zu zeigen.«
Allein er behielt ihre Hand in der seinen und fragte:
»Wird er kommen?«
»Sicher«, erwiderte sie; »er hat es mir versprochen.«
Sie sprachen von Baron Hartmann, dem Direktor der Immobilienbank. Frau Desforges, Tochter eines Staatsrates, war die Witwe eines Börsenspekulanten, der ihr ein Vermögen hinterlassen hatte, das von den einen überschätzt, von anderen ganz geleugnet wurde. Man erzählte sich, daß sie noch bei Lebzeiten ihres Gatten sich Baron Hartmann gegenüber recht erkenntlich gezeigt habe, da seine finanziellen Ratschläge dem Ehepaar Desforges vielfach nützlich gewesen seien. Später, nach dem Tode des Gatten, hatte das Verhältnis weiterbestanden, aber immer ganz im verschwiegenen, ohne jede Unklugheit, ohne Aufsehen. Frau Desforges vermied es, Gegenstand irgendwelchen Geredes zu werden, und war darum auch in den besseren Bürgerkreisen, denen sie entstammte, gern gesehen. Selbst heute noch, da die Leidenschaft des Bankiers, eines feinfühligen Mannes, sich in väterliches Wohlwollen gewandelt hatte – selbst heute noch bewies sie, wenn sie sich Liebhaber hielt, was er stillschweigend duldete, bei ihren Herzensromanen einen so feinen Sinn für gesellschaftliches Maß, daß der Schein stets gewahrt blieb und niemand es gewagt hätte, laut an ihrer Ehrbarkeit zu zweifeln. Sie war Mouret bei gemeinsamen Bekannten begegnet und hatte ihn anfangs kaum beachtet; später hatte sie, von seinen heftigen Liebeswerbungen überwunden, sich ihm hingegeben; und während es ihm offenbar immer mehr darum zu tun war, durch sie den Baron auf seine Seite zu bringen, faßte sie allmählich eine wahre und tiefe Leidenschaft für ihn. Sie liebte ihn mit der Glut der fünfunddreißigjährigen Frau, die nur neunundzwanzig Jahre eingesteht und in fortwährender Angst lebt, den weit jüngeren Geliebten zu verlieren.
»Ist er bereits informiert?« fragte Mouret wieder.
»Nein, Sie müssen ihm die Sache selbst erklären«, sagte Frau Desforges, ihn diesmal nicht duzend.
Sie schaute ihn an und dachte, er müsse doch recht ahnungslos sein, da er ihr eine solche Rolle dem Baron gegenüber zuwies, in dem er offenbar nur einen alten Freund seiner Geliebten sah. Mouret hielt noch immer ihre Hand, nannte sie seine gute Henriette, und sie fühlte ihr Herz weich werden. Sie bot ihm stumm die Lippen; dann flüsterte sie:
»Still! Sie warten auf mich ... Lassen Sie mich vorausgehen.«
Aus dem großen Salon drangen leise Stimmen, noch gedämpft durch die Vorhänge und Teppiche. Sie öffnete die Tür, ließ beide Flügel offen und reichte den Fächer einer der vier Damen, die in der Mitte des Salons saßen.
»Da haben Sie ihn; ich konnte ihn erst nicht finden.«
Dann wandte sie sich um und fügte mit heiterer Miene hinzu:
»Kommen Sie, Herr Mouret, gehen Sie durch den kleinen Salon; das ist weniger feierlich.«
Mouret begrüßte die Damen, die er sämtlich kannte.
»Gar nicht übel, diese Chantillyspitze!« rief Frau Bourdelais, die den Fächer in der Hand hatte.
Sie war eine kleine, blonde Frau von dreißig Jahren, mit einer schmalen Nase und lebhaften Augen, eine Schulfreundin Henriettes; ihr Mann war Abteilungsleiter im Finanzministerium. Sie entstammte einer alten bürgerlichen Familie, versah ihr Hauswesen selbst und erzog ihre drei Kinder mit Rührigkeit und Anmut, zugleich mit einem ungewöhnlichen Sinn für alles Praktische.
»Fünfundzwanzig Franken hast du für die Spitzen gezahlt?« fragte sie weiter, während sie jede Masche sorgfältig prüfte.
»Und du sagst, du hast sie in Luc gekauft, von einer Arbeiterin aus der Gegend? ... Das ist nicht teuer. Aber du hast doch auch den Fächer dazu arbeiten lassen?!«
»Gewiß«, erwiderte Frau Desforges. »Das kostete zweihundert Franken.«
Frau Bourdelais lachte. Das nannte Henriette einen günstigen Kauf! Zweihundert Franken für eine einfache Elfenbeinarbeit mit Namenszug! Für hundertzwanzig Franken konnte man so etwas fix und fertig kaufen!
Inzwischen ging der Fächer von Hand zu Hand. Frau Guibal würdigte ihn kaum eines Blickes. Sie war eine große, hagere Frau mit rötlichen Haaren; in ihrem gleichgültigen Gesicht saßen zwei graue Augen, aus denen die krasse Selbstsucht funkelte. Man sah sie niemals in der Gesellschaft ihres Mannes, eines bekannten Rechtsanwaltes, der, wie man sich erzählte, auch seinerseits ein freies Leben voller Vergnügungen führte.
»Oh«, flüsterte sie und gab den Fächer an Frau von Boves weiter, »ich habe in meinem Leben keine zwei Fächer gekauft; man bekommt ohnedies mehr als genug geschenkt.«
Die Gräfin erwiderte mit feinem Sport:
»Sie können sich glücklich schätzen, meine Teure, daß Sie einen so galanten Gatten haben.«
Frau von Boves, in Begleitung ihrer erwachsenen Tochter Blanche erschienen, hatte die Vierzig hinter sich. Sie war eine gute Erscheinung mit einem vollen, regelmäßigen Gesicht und großen, schmachtenden Augen. Unvermittelt wandte sie sich an Mouret:
»Sagen Sie uns doch Ihre Meinung: Ist das zu teuer, zweihundert Franken für das Gestell?«
Mouret stand unter den fünf Frauen und lächelte beifällig zu allem, was sie interessierte. Er nahm den Fächer in die Hand, besichtigte ihn eine Weile und war eben im Begriff zu antworten, als der Diener die Tür öffnete und meldete:
»Frau Marty!«
Eine magere, häßliche, blatternarbige, mit auffallend gesuchter Eleganz gekleidete Frau trat ein. Ihr Alter war schwer zu bestimmen; ihre fünfunddreißig Jahre konnten ebensogut für dreißig wie für vierzig gelten, je nachdem wie sie sich gerade gab. An ihrer rechten Hand hing eine rote Ledertasche, die sie nicht ablegen wollte.
»Verzeihen Sie, teuerste gnädige Frau, daß ich mit meiner Tasche eintrete«, sagte sie zu Frau Desforges. »Denken Sie sich: auf dem Weg zu Ihnen bin ich einen Augenblick ins ›Paradies der Damen‹ hineingegangen, und wieder einmal habe ich mich zu allerlei Torheiten verleiten lassen.«
Als sie Mourets Anwesenheit bemerkte, fuhr sie lachend fort: »Ich sagte das nicht, um für Sie Reklame zu machen, denn ich wußte nicht, daß Sie hier sind. ... Sie haben jetzt wirklich ganz außerordentlich schöne Spitzen.«
Man kannte Frau Marty und ihren Hang zum Geldausgeben; man wußte, daß sie keiner Versuchung widerstehen konnte. Sie war von strengster Ehrbarkeit, unnahbar für jeden fremden Mann, dagegen weich und haltlos vor dem winzigsten Endchen Stoff. Sie war die Tochter eines kleinen Beamten und ruinierte jetzt ihren Gatten, einen Lehrer am Bonaparte-Gymnasium, der sein Gehalt von sechstausend Franken durch Privatstunden verdoppeln mußte, um den fortwährend wachsenden Anforderungen seines Haushalts genügen zu können.
Ohne ihre Tasche zu öffnen, begann sie von ihrer vierzehnjährigen Tochter Valentine zu sprechen, der kostspieligsten Ausgeburt ihrer eigenen Gefallsucht. Sie kleidete sie wie sich selbst in allen Einzelheiten nach der neuesten Mode.
»Sie wissen doch, im Augenblick werden die Kleider der jungen Mädchen mit Spitzen garniert«, sagte sie. »Und als ich da eine recht hübsche Valenciennesspitze sah ...«
Angesichts der allgemeinen Neugierde entschloß sie sich endlich, die Tasche zu öffnen. Die Damen reckten die Hälse, um besser zu sehen. Da vernahm man inmitten erwartungsvollen Schweigens die Klingel im Vorzimmer.
»Das ist mein Mann«, sagte Frau Marty sehr verlegen. »Er sollte mich nach der Schule hier abholen.«
Sie hatte ihre Tasche rasch wieder geschlossen und mit einer unwillkürlichen Bewegung unter den Sessel geschoben. Die Damen lachten. Sie errötete über ihre Hast, nahm die Tasche wieder auf ihre Knie und meinte, die Männer verstünden so manches nicht und brauchten auch nicht alles zu wissen.
»Herr von Boves, Herr von Vallagnosc«, meldete der Diener. Das gab eine allgemeine Überraschung. Frau von Boves hatte nicht damit gerechnet, ihren Gatten hier zu treffen. Herr von Boves, ein gutaussehender Mann mit Schnurr- und Knebelbart und vornehmer, militärischer Haltung, in den Tuilerien sehr beliebt, küßte Frau Desforges die Hand. Dann trat er beiseite, damit sein Begleiter, ein großer, etwas verlebter junger Mann von vornehmem Auftreten, die Dame des Hauses begrüßen könne. Aber kaum war das Gespräch wieder etwas in Fluß geraten, als zwei Ausrufe ertönten:
»Wie, du bist's, Paul!«
»Schau an, Octave!«
Mouret und Vallagnosc drückten einander die Hände. Frau Desforges ihrerseits war sehr überrascht. Wie, die Herren kannten sich? Aber gewiß, sie waren ja zusammen in Plassans zur Schule gegangen, und es war offenbar nur ein Zufall, daß sie einander bei Frau Desforges noch nicht begegnet waren.
Während der Diener den Tee brachte und die Damen enger zusammenrückten, gingen die beiden nach nebenan in den kleinen Salon.
Ihre ganze Jugend erwachte wieder, die alte Schule in Plassans mit ihren beiden Höfen, den feuchten Klassenräumen, dem Speisesaal, wo es so viel Kabeljau gegeben hatte, und dem Schlafsaal, wo die Kissen von Bett zu Bett geflogen waren, sobald der Aufseher schnarchte. Paul, der aus einer alten Juristenfamilie stammte, war stets einer der besten Schüler gewesen, vom Klassenlehrer, der ihm eine große Zukunft prophezeite, allen als Vorbild hingestellt, während Octave, immer einer der Letzten, außerhalb der Schule den wildesten Vergnügungen nachging. Trotz der Verschiedenheit ihrer Naturen hatte sich eine sehr enge Kameradschaft zwischen beiden herausgebildet, die bis zu ihrer Prüfung dauerte, die der eine ruhmvoll, der andere schlecht und recht erst nach zwei mißlungenen Versuchen bestand. Dann hatte das Leben sie auseinandergebracht, und jetzt fanden sie sich nach einem Zeitraum von zehn Jahren verändert und älter geworden wieder.
»Und was hast du aus dir gemacht?« fragte Mouret.
»Ach, gar nichts.«
Trotz der Freude des Wiedersehens hatte Vallagnosc seine Blasiertheit beibehalten. Ein wenig erstaunt über diese Antwort, fragte sein Freund noch einmal:
»Aber du tust doch irgend etwas – was tust du denn?«
»Nichts«, erwiderte der andere trocken.
Octave lachte; nichts sei nicht genug, meinte er. Satz für Satz erfuhr er nun die Geschichte Pauls; es war die Geschichte aller mittellosen jungen Leute, die glauben, daß sie es ihrer Geburt schuldig seien, eine sogenannte Bildungslaufbahn einzuschlagen, und sich in einer eitlen Mittelmäßigkeit begraben, vollkommen zufrieden, wenn sie mit ihren guten Zeugnissen nicht Hungers sterben. Er hatte Jura studiert, weil das so Familientradition war; dann hatte er eine Zeitlang seiner verwitweten Mutter auf der Tasche gelegen, die ohnehin nicht wußte, wie sie ihre beiden Töchter versorgen sollte. Endlich hatte er sich dieses Zustandes geschämt, den Frauen die Reste ihres Vermögens, von denen sie nur knapp existieren konnten, überlassen und eine kleine Stelle im Innenministerium angenommen, wo er verborgen saß wie ein Maulwurf in seinem Loch.
»Und wieviel verdienst du?« fragte Mouret.
»Dreitausend Franken.«
»Das ist ja der reinste Hungerlohn! Mein lieber Alter, du tust mir leid! ... Ein so begabter Bursche, der uns alle in den Schatten stellte! Und dir zahlen sie nicht mehr als dreitausend Franken, nachdem man dich fünf Jahre lang mit allen möglichen Kenntnissen vollgestopft hat! Nein, das ist aber wirklich ungerecht... Du weißt doch, was aus mir geworden ist?«
»Ja«, sagte Vallagnosc, »man hat mir erzählt, daß du Kaufmann geworden bist. Du hast das große Modewarenhaus an der Place Gaillon, nicht wahr?«
»So ist es; Kaufmann bin ich geworden, mein Lieber.«
Mit der Heiterkeit des Mannes, der sich des ihn ernährenden Berufs nicht schämt, wiederholte er:
»Ja, Kaufmann – und wie! Du erinnerst dich sicher: ich konnte mit all den Büchern nie viel anfangen, obgleich ich mich im Innern nicht für dümmer hielt als die übrigen. Nach der Schule hätte ich, um meiner Familie ihren Wunsch zu erfüllen, genauso gut Rechtsanwalt oder Arzt werden können wie die andern aus der Klasse. Aber diese Berufe sind mir unbehaglich; man sieht dabei gar so viele Leute hungern! Na, und da bin ich Geschäftsmann geworden – und ich bereue es nicht, das versichere ich dir.«
Vallagnosc lächelte verlegen und murmelte dann:
»Zum Leinwandverkaufen allerdings nützt dir dein Zeugnis nicht viel.«
»Meiner Treu«, erwiderte Mouret vergnügt, »was ich von ihm verlange, ist, daß es mir nicht im Weg steht. Du weißt, wenn man sich so etwas einmal auf den Hals geladen hat, wird man es nicht leicht wieder los. Man kommt nur langsam vorwärts im Leben, während andere, die keinen solchen Klotz am Bein haben, einem ungebunden davonlaufen.«
Als er merkte, daß diese Wendung des Gesprächs seinem Freund peinlich war, nahm er ihn bei den Händen und fuhr fort:
»Ich will dich ja nicht kränken, aber gesteh nur, daß alle deine Zeugnisse dir nicht dabei geholfen haben, auch nur ein einziges deiner Bedürfnisse zu befriedigen. Wirst du glauben, daß der Leiter der Seidenabteilung in meinem Haus dieses Jahr zwölftausend Franken verdient? Und das ist ein einfacher Junge, der alles in allem gerade die Orthographie beherrscht und die vier Rechenarten. Allerdings: tüchtig ist er ... Die gewöhnlichen Verkäufer bei mir verdienen drei- bis viertausend Franken, mehr als du, und ihre Ausbildung hat nicht so viel gekostet wie die deine, sie sind nicht mit dem Versprechen, die Welt werde ihnen zu Füßen liegen, hinausgeschickt worden ... Geld verdienen ist nicht alles, das ist wahr; aber wenn ich zu wählen habe zwischen den armen Teufeln, die mit Wissen vollgestopft sind und die höheren Berufe übervölkern, ohne sich satt zu essen, und den praktischen Jungen, die für das Leben gewappnet sind, ihr Handwerk verstehen: da zögere ich nicht lange, da bin ich entschieden für die zweiten; die verstehen ihre Zeit besser!«
Er wurde beredt, seine Stimme hatte an Wärme gewonnen. Henriette, die gerade den Tee ausschenkte, wandte den Kopf nach ihm um. Als er sah, wie sie lächelte, und merkte, daß noch zwei weitere Damen im großen Salon ihrem Gespräch lauschten, gab er seiner Stimme einen helleren, heiteren Klang.
»Kurzum, mein Lieber, jeder Kaufmann, der heute anfängt, steckt in der Haut eines Millionärs!«
Vallagnosc lehnte sich ins Sofa zurück. Er hatte die Augen halb geschlossen und saß mit einer müden und geringschätzigen Miene da, die nicht ganz überzeugend wirkte.
»Pah«, murmelte er, »das Leben ist nicht so viel Mühe wert; es gibt ja gar keinen richtigen Spaß mehr!«
Da Mouret, empört über eine solche Gleichgültigkeit, ihn hocherstaunt ansah, setzte er hinzu:
»Was kommen will, das kommt, gleichviel, ob man etwas dazu tut oder nicht.«
Und dann legte er seine pessimistischen Ansichten dar. Er hatte einen Augenblick davon geträumt, sich auf dem Gebiet der Literatur zu versuchen, allein aus seinem Umgang mit den Schriftstellern war ihm nur eine Art Weltverachtung geblieben. Sein letztes Wort war stets, daß alle Anstrengungen vergebens seien, das Leben sei gar zu dumm.
»Amüsierst du dich etwa?« fragte er schließlich seinen Freund. Mouret war vom Erstaunen zur Entrüstung übergegangen.
»Ob ich mich amüsiere?« rief er aus. »Was redest du da für krauses Zeug? Natürlich amüsiere ich mich! Ich genieße das Leben selbst dann, wenn die Dinge schiefgehen. Ich bin nun mal leidenschaftlich veranlagt und nehme nicht alles so ruhig hin. Vielleicht macht es mir gerade darum solchen Spaß.«
Er warf einen Blick nach dem Salon und fuhr flüsternd fort:
»Die Frauen haben mich schon zu vielen Dummheiten verleitet, ich gebe es zu. Aber wenn ich eine habe, so halte ich sie auch fest; immer geht's nicht schief, und ich nehme mir schon mein Teil. Und zu guter Letzt mache ich mich doch nur lustig über sie. Man muß immer etwas vorhaben, man muß etwas schaffen ... Da hast du einen Gedanken, kämpfst für ihn, treibst ihn den Leuten mit Hammerschlägen in den Schädel, siehst ihn wachsen und triumphieren ... Ach ja, mein Lieber, ich amüsiere mich sehr gut.«
Reine Daseinsfreude klang aus seinen Worten; er wiederholte einige Male, er sei eben ein Kind der Zeit. Er machte sich weidlich lustig über die Verzweifelten, die Angewiderten und Pessimisten, die mit ewiger Schmollmiene durch die ungeheure Werkstatt der Gegenwart liefen. Eine saubere Rolle, während die anderen arbeiteten, sich hinzustellen und vor Langeweile zu gähnen!
»Das ist mein einziges Vergnügen: andere anzugähnen«, sagte Vallagnosc mit einem kühlen Lächeln.
Mouret nahm einen wärmeren Ton an.
»Ach, du bist ganz der alte Paul: immer die Gegensätze gegeneinander ausspielen. Wir haben uns doch nicht wiedergefunden, um zu streiten. Glücklicherweise hat jeder seine eigenen Gedanken. Aber ich muß dir einmal meine Maschinerie in Bewegung zeigen, du sollst sehen, daß die Sache gar nicht so schlecht ist .... Erzähl mir doch etwas von dir. Deiner Mutter und deinen Schwestern geht es hoffentlich gut? Und dann hieß es ja, daß du angeblich vor sechs Monaten in Plassans geheiratet hast?«
Eine plötzliche Gebärde Vallagnoscs unterbrach ihn. Mouret merkte, daß der andere mit unruhigen Blicken im Salon umherschaute; er wandte sich um und sah, daß Fräulein von Boves kein Auge von ihnen ließ. Blanche war groß und voll wie ihre Mutter; nur ging bei ihr das Gesicht schon jetzt in die Breite, und ihre Züge wirkten verschwommen. Mouret befragte seinen Freund leise, worauf Paul erwiderte, es sei noch nichts entschieden und vielleicht werde auch nichts daraus. Er habe die junge Dame bei Frau Desforges kennengelernt, bei der er im vorigen Winter viel verkehrt habe. Er sei auch in der Familie eingeführt und schätze besonders den Vater: ein sehr liebenswürdiger Mensch, alter Lebemann, der sich jetzt in die Verwaltung zurückgezogen habe. Im übrigen sei keinerlei Vermögen da. Frau von Boves habe ihrem Mann nichts als ihre junonische Schönheit zugebracht, die Familie lebe nur kümmerlich von einem verschuldeten Landgut und von den neuntausend Franken, die der Graf verdiene. Unter diesen Umständen müßten sich die Damen natürlich sehr einschränken, und es komme vor, daß sie ihre Kleider selber ausbessern und umändern müßten.
»Warum dann also?« fragte Mouret.
»Mein Gott, irgendwann muß es doch sein«, sagte Vallagnosc in müdem Ton. »Außerdem bestehen einige Hoffnungen, wir rechnen mit dem baldigen Tod einer alten Tante.«
Mouret hatte mittlerweile Herrn von Boves nicht aus den Augen gelassen, der sich sehr angelegentlich mit Frau Guibal zu beschäftigen schien. Jetzt wandte sich der junge Mann seinem Freund zu und blinzelte bedeutungsvoll zu den beiden hinüber, so daß Vallagnosc sich veranlaßt fühlte zu sagen:
»Nein, die nicht ... wenigstens jetzt noch nicht ... Das Schlimme ist, daß er fortwährend dienstlich im ganzen Land herumreist und folglich stets Vorwände hat zu verschwinden. Vorigen Monat, während seine Frau ihn in Perpignan glaubte, saß er mit einer Klavierlehrerin in einem kleinen Vorstadthotel.«
Sie schwiegen eine Weile; dann setzte Paul, der die Liebenswürdigkeiten des Grafen nun gleichfalls beobachtet hatte, hinzu:
»Du kannst recht haben, um so mehr als man sich erzählt, daß die liebe Dame gar nicht so unzugänglich ist. Man spricht von einem sehr drolligen Abenteuer, das sie mit einem Offizier gehabt haben soll ... Aber schau ihn nur an! Ist es nicht komisch, wie er sie aus den Augenwinkeln heraus zu bezaubern sucht! Das ist Altfrankreich, mein Lieber! Ich verehre diesen Mann, und wenn ich seine Tochter heirate, geschieht es vielleicht nur seinethalben!«
Mouret lachte, und als er hörte, daß der erste Gedanke einer Heirat zwischen Vallagnosc und Blanche von Frau Desforges stamme, fand er die Geschichte noch besser. Die gute Henriette schwelgte so sehr in dem Vergnügen, andere Leute zusammenzubringen, daß sie, wenn die Töchter versorgt waren, die Väter unter den Damen ihrer Bekanntschaft sich eine Freundin suchen ließ – alles natürlich im festen Rahmen des Anstandes, ohne daß die Welt jemals Stoff zu einem Skandal bekommen hätte.
Jetzt erschien sie in der Tür des kleinen Salons, gefolgt von einem ungefähr sechzigjährigen Herrn, dessen Eintritt die beiden Freunde nicht bemerkt hatten.
»Hier, lieber Baron«, sagte Frau Desforges. »Ich stelle Ihnen Herrn Octave Mouret vor, der das lebhafte Verlangen hat, Ihnen seine Hochachtung zu bezeigen.«
Dann wandte sie sich zu Octave und fügte hinzu:
»Herr Baron Hartmann.«
Auf den Lippen des alten Herrn erschien ein feines Lächeln. Er war ein kleiner, lebhafter Mann mit einem dicken Elsässerkopf, dessen breites Gesicht beim geringsten Zucken der Mundwinkel, beim leichtesten Blinzeln der Augen seine Klugheit verriet. Zwei Wochen schon widerstand er den Wünschen Henriettes, die diese Zusammenkunft von ihm erbat. Nicht als ob er allzu eifersüchtig gewesen wäre – er hatte sich in die Rolle des Beschützers längst hineingefunden; aber dies war schon der dritte Freund, mit dem Henriette ihn bekannt machte, und er fürchtete, auf die Dauer lächerlich zu werden. Darum war, als er auf Octave zutrat, jenes feine Lächeln auf seinen Lippen erschienen, das besagen wollte, daß er, der reiche Gönner, sich wohl liebenswürdig zeigen, aber keineswegs überrumpeln lassen wolle.
»Oh, Herr Baron«, sagte Mouret mit seiner provenzalischen Begeisterungsfähigkeit, »das letzte Unternehmen der Immobilienbank war ja wirklich erstaunlich! Sie glauben nicht, wie glücklich und stolz ich bin, Ihnen die Hand drücken zu dürfen.«
»Zu liebenswürdig, Herr Mouret, zu liebenswürdig«, wiederholte der Baron lächelnd.
Henriette betrachtete die beiden und schien entzückt, als sie sie in so gutem Einvernehmen sah.
»Meine Herren«, sagte sie schließlich, »ich darf Sie jetzt Ihrem Gespräch überlassen?«
Dann wandte sie sich zu Paul, der sich erhoben hatte, und fragte:
»Eine Tasse Tee gefällig, Herr von Vallagnosc?«