Kitabı oku: «Durch die Erde ein Riß», sayfa 2

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Mittweida: Kein König nächtigte hier, keine Schlacht wurde ringsum geschlagen; was will es schon bedeuten, daß sich Karl Stülpner, erzgebirgischer Exfreischütz, als geschlagener alter Mann hier am erblindeten Auge operieren ließ, wer weiß schon, daß Karl May vom Amtsgericht Mittweida wegen Betrugs und Diebstahls im Rückfall zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er im benachbarten Waldheim absaß? Aus Jahrhunderte währendem Schlaf schreckte die Stadt im Dampfmaschinenzeitalter auf. Textil- und Maschinenfabriken entstanden, Unternehmer bauten Villen; das Technikum zog Studierende aus aller Welt an, bis zu zweitausend waren es bisweilen, Mittweida besaß an die hundert Gaststätten vom Hotel bis zur Stampe. Mit den Fabriken wuchs das Proletariat. Als einer der ersten Wahlkreise im Reich schickte Mittweida-Frankenberg oder Mittweida-Burgstädt einen sozialdemokratischen Abgeordneten in den Reichstag; Vahlteich (nach dem man in Mittweida keine Straße benannt hat) war mehrmals der siegreiche Kandidat. Bebel hat oft in Mittweida gesprochen, die Sozialdemokratie war hier jahrelang die stärkste Partei. Das rote Sachsen hatte seinen glutroten Kern um Chemnitz und Zwickau, Mittweida gehörte zu diesem Kraftzentrum. Als die faschistische Demagogie vordrang, sog sie die bürgerliche Mitte auf, gegen die Arbeiterparteien gewann sie keinen Stich. Am 14. September 1930 ergab die Reichstagswahl im Amtsbezirk Mittweida (Stadt und umliegende Dörfer): SPD 8 706 Stimmen, KPD 1 749 Stimmen, NSDAP 5 467 Stimmen.

Die Arbeitslosigkeit, die kein Land der Welt so schlug wie Sachsen, führte zur Radikalisierung und Polarisierung und bot den Nazis Anlässe zu immer zügelloserer Agitation. Noch nicht zwei Jahre später, am 31. Juli 1932, gab es dieses für die alte rote Hochburg erschreckende Bild: SPD 7 999 Stimmen, KPD 2 146 Stimmen, NSDAP 11 280 Stimmen.

Die Nazis waren stärker als die beiden Arbeiterparteien zusammen und bauten ihre Organisationen massiv aus. Am 6. November wurde noch einmal gewählt: SPD 7 643 Stimmen, KPD 2 746 Stimmen, NSDAP 10 134 Stimmen.

Die schlimmste Gefahr schien überwunden. Aber am 30. Januar 1933 übernahmen die Nazis die Macht, Tagebuchführer Dr. Sauer schwafelte aus brauner Sicht: »Die Hochburg der KPD, das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, wurde besetzt. Ein Labyrinth von unterirdischen Gängen wurde entdeckt. Viele hundert Zentner hochverräterischen Materials wurden gefunden. Man hatte zum bewaffneten Umsturz aufgefordert; dabei sollten angesehene Bürger festgenommen und erschossen werden. Im ganzen Reich fanden Polizeiaktionen gegen die KPD, Haussuchungen, Verhaftungen von KPD-Führern statt. In Sachsen wurde für die gesamte staatliche Polizei der Ausnahmezustand verhängt, streng national gesinnte Deutsche bildeten die Hilfspolizei, öffentliche Geldsammlungen der Kommunisten wurden verboten. Bei uns fanden die ersten Verhaftungen von Kommunistenführern am 3. März früh statt. Auch Gewerkschaftsführer kamen in Schutzhaft. Das Volkshaus (Rosengarten) wurde durchsucht. Waffen wurden gefunden. Elf Personen kamen in Schutzhaft. Das Straßenbild Mittweidas hatte sich geändert. Neben der alten Schupo zeigten sich Hilfspolizisten: Zehn Stahlhelmer und zehn SA-Leute steckten in der Hilfspolizei-Uniform. Bewaffnete Feuerwehrleute schützten Gas-, Wasser- und Eltwerk. Wir hatten jetzt eine national eingestellte Polizei!«

E. L. war sieben. Wenige unscharfe Bilder bewahrt das Gedächtnis: Mit seiner Mutter querte er eine Straße, da war ein Umzug, heute würde man sagen: eine Demonstration. Menschen und Menschen, die beiden mußten warten, bis eine Lücke entstand. Wahl, die Mutter nahm den Zettel und wollte in die Kabine gehen, jemand sagte, da dürfe niemand anderes mit hinein, jemand widersprach: nun ja, der Junge, warum denn nicht. Die Mutter machte ein Kreuz auf den Zettel und flüsterte, damit wähle sie Hitler, und Erich solle es niemandem verraten. Abend, Blick aus dem Fenster; gegenüber, unter einer Gaslaterne am Zaun des Gaswerks stand ein Uniformierter mit Stahlhelm und Gewehr. Die Kommunisten wollten das Gaswerk in die Luft jagen, erläuterte der Vater, aber dieser Mann da paßte auf. Opa war Gaswerksdirektor. Dieser Mann da wachte; Opa konnte ruhig schlafen und sein Enkel Erich auch.

Die Nazipropaganda trommelte auf Mittweida. Oberschuldirektor Schönfelder dichtete im ›Mittweidaer Tageblatt‹:

»O ewig Frühlingswunder, sei gepriesen!

Hell strahlt die Welt im goldnen Sonnenschein;

In Halm und Zweigen gärt’s wie junger Wein.

Bald, bald wird wieder frisches Grün uns sprießen!

Nie durfte eines Lenzes ich genießen

Wie dieses, den Millionen benedei’n.

O deutsches Frühlingswunder – denk’ ich sein,

muß ich ergriffen meine Augen schließen:

Der Winterbann Alldeutschlands ist zu Ende.

Horch, wie es jauchzend ringt, wie’s birst und kracht!

Das Dritte Reich stand auf: Heil Schicksalswende!

Der du uns Führer sandtest in der Nacht,

O Herr, nun segne gnädig ihre Hände!

Hilf Deutschlands Volk, das endlich aufgewacht!«

Mittweida erlebte bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 eine Rekordbeteiligung von 97 Prozent. Der Stadtchronist berichtet, daß sich Kranke auf der Trage nach dem Wahllokal bringen ließen. Für diese Wahl liegen die Ergebnisse der Stadt vor: SPD 4 599 Stimmen, KPD 1 482 Stimmen, NSDAP 5 317 Stimmen. Die beiden Arbeiterparteien waren zusammen noch immer stärker als die Nazis, Mittweidas Proletarier waren durch den Terror nicht zu erschüttern gewesen und stellten sich selbst das glänzendste Zeugnis aus. In den umliegenden Dörfern allerdings drangen die Nazis weiter vor, der Amtsbezirk meldete: Für die SPD stimmten 7 457, für die KPD 2 547 Wähler. Hier wie fast überall im Reich siegten die Nazis, sie erhielten 11 741 Stimmen. Die Parlamentsgewalt wurde außer Kraft gesetzt, dieser März brachte auch Mittweida die Diktatur. Noch einmal Dr. Sauer:

»Schon früh um ein Uhr wurde die SA und SS aus den Betten geholt. Im Technikum befanden sich viele Nationalsozialisten. In ›Stadt Chemnitz‹ waren ca. 46 Mann Motorsturm mit Stahlhelmen. Vom Volkshaus (›Rosengarten‹) wurde die Rote Fahne entfernt, und an ihre Stelle trat die Hakenkreuzfahne. Neben den schwarzweiß-roten Fahnen wehten auch auf dem Amtsgericht, dem Ortskrankenkassengebäude, dem Technikum, der Post die Hitlerfahnen. In den Straßen bewegte sich sehr viel Uniform: Schupo, Hilfspolizei, SA- und SS-Männer. Die SS trug Stahlhelme, einzelne Gummiknüppel, Gewehre, Revolver. Dem Amtshauptmann von Rochlitz und dem ersten Bürgermeister von Mittweida wurde auf einige Zeit die Befehlsgewalt über Polizei und Gendarmerie entzogen. Der zweite Bürgermeister unserer Stadt wurde beurlaubt. Rote Fahnen wurden verbrannt. Kommunistische und Abzeichen der ›Eisernen Front‹ (drei Pfeile) waren von den Straßen verschwunden. Die Plakattafeln der SPD und KPD waren von den Wänden der Häuser, von den Zäunen usw. verschwunden. Stahlhelm und SA beherrschten die Straße!«

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Kaum etwas von alledem wußte dieser Zehnjährige, als er drei Jahre später das Koppelschloß mit der Sig-Rune zum erstenmal zuhakte. Er sah sein Volk als einen monolithischen Block, umstellt von neidischen Engländern, Franzosen und Russen, später kamen Tschechen und Polen hinzu. Längst nicht alle in seinem Jungzug taten so pflichtbewußt Dienst wie er. Am häufigsten fehlten Arbeiterjungen. Manchmal gaben sie Gründe an: Sie müßten zu Hause helfen, auf kleine Geschwister aufpassen, sie besäßen keine festen Schuhe fürs Marschieren und das Geländespiel. Manchmal blieben sie einfach weg, gingen baden oder spielten Fußball. Es ist undenkbar, daß alle sechstausend linken Wähler vom März 1933 ihre Ideale und Hoffnungen innerhalb von drei Jahren vergessen hätten, daß nicht in Küchen und Stuben debattiert worden wäre, was vor 1933 versäumt worden war, daß nicht Jungen mit heißen Ohren dabeigesessen hätten, wenn Mütter und Väter sich die Köpfe nach einem Ausweg zermarterten. Wenn diese Jungen nur hörten, daß es in absehbarer Zeit unmöglich schien, das Geringste an der verdammten Naziherrschaft zu ändern, wenn sie nur die Hoffnungslosigkeit gegen die alles erdrückende braune Gewalt gespürt hätten, es wäre schon etwas gewesen. Aber von all dem drang nicht ein Hauch in L.s Erlebniswelt hinüber, und es ist dem Chronisten unmöglich, auch nur grob zu schätzen, was die Proletarierjungen aus dieser Sphäre heraus wissend oder instinktiv in ihr Verhältnis zur HJ einbrachten.

Drei Jahre lang war L. ein pünktlicher Pimpf. Aber er war kein begeisterter Hitlerjunge, und heute ist der Chronist geneigt zu sagen, daß es begeisterte Hitlerjungen, daß es ein Glück im dritten Glied überhaupt nicht gab. Es gab nur begeisterte Hitlerjugendführer.

Diese Entwicklung scheint denkbar: Seine Klassenkameraden trugen Führerschnuren, er nicht. Da hätte sich womöglich in ihm eine Abwehrhaltung herausbilden können: Marschieren war doof; viel besser war, Schlager zu hören, Zigarettenbilder zu sammeln, den Mädchen nachzulaufen, zu lesen. Er wollte ja gar keine rot-weiße Schnur von der linken Brusttasche über das Halstuch hinweg, er wollte ja gar nicht in der ersten Reihe marschieren und melden dürfen, der Jungzug wäre angetreten, er wollte ja gar nicht, daß andere vor ihm die Hacken zusammenknallten.

Kein Erfolgserlebnis war ihm in den ersten drei Jahren im Jungvolk beschieden, er brachte beim jährlichen Sportwettbewerb im Sechzigmeterlauf, Weitsprung und Ballwurf nicht einmal die nötige Punktzahl zusammen, um ein kleines Blechabzeichen, gestanzt bei Wächtler & Lange, am Braunhemd tragen zu dürfen, viel weniger noch tat er sich bei den Raufereien der Geländespiele hervor. Er war Pimpf im dritten Glied.

Aber er war zuverlässig. Schweigsamkeit wurde in der Praxis nicht verlangt, sicherlich war er ein leidlich zu leidender Kamerad, doch Zuverlässigkeit ist wohl ein Teil von Treue. Also fragte ihn, als er dreizehn geworden war, sein Jungzugführer, ob er eine Jungenschaft befehligen wolle, zehn Zehnjährige, die an Hitlers fünfzigstem Geburtstag ins Deutsche Jungvolk aufgenommen werden sollten. Er sagte sofort ja, und in diesem Augenblick war sein Verhältnis zur HJ gewandelt, jetzt war er nicht mehr Masse, sondern ein Führerchen, trug Verantwortung und Schnur, hatte den Fuß auf die unterste Sprosse der Himmelsleiter gesetzt, an deren Spitze der Führer stand.

Und es begab sich, daß Alfred Loest sich und seiner Frau und den Kindern ein Erlebnis besonderer Art bieten wollte: Am Morgen des 20. April 1939 stieg die Familie in den D-Zug nach Berlin, und was dort auf den frischgebackenen Jungenschaftsführer einstürmte, war, um mit einem Lieblingswort dieser Zeit zu sprechen, gigantisch. Historiker vermuten, daß sich Hitler an diesem Tag auf dem Höhepunkt seiner Selbstverwirklichung fühlte, andere ziehen dafür die Stunde in Betracht, da er im Wald von Compiègne dem geschlagenen Frankreich den Waffenstillstand diktierte. Berlin gab sich als eine vor Glück taumelnde Stadt. Fahnen an jedem Haus, Girlanden, Transparente, Menschenmassen auf den Beinen, und zwischendrin ein kleiner Sachse mit seiner rot-weißen Schnur. Damals führte die Reichsjugendführung eine neue Regelung ein: Die Schnur war nicht mehr Kennzeichen des Dienstgrades, sondern der Dienststellung, in Sachsen galt diese Regelung schon, in Berlin noch nicht, in Berlin bedeutete eine rot-weiße Schnur noch viel mehr, und wo das Führerchen ging und stand, grüßten Jungvolk- und Hitlerjungen mit erhobenem Arm und Blickwendung, und der Geehrte dankte in gleicher Weise. Größere Jungen waren das, fünfzehnjährige, siebzehnjährige, sie werden sich gewundert haben, daß dieser Knopp schon zum Jungenschaftsführer befördert war, aber er war ja nur ernannt, und er ging an der Seite seiner Eltern und seiner Schwester, und wurde immerfort gegrüßt. Hitler stand stundenlang auf der Tribüne und nahm den Vorbeimarsch seiner Regimenter ab, einen Kilometer davon entfernt war E. L. mit Berliner Jungen auf einen Sims geklettert, von dort sahen sie auf immer neue Kolonnen hinunter, Panzerspähwagen und Flak, motorisierte Artillerie und Kradschützen, und sie riefen sich gegenseitig die Bezeichnungen des vorrüberrollenden Kriegsgeräts zu. Heinkelbomber dröhnten – das alles, so muß es Hitler empfunden haben, war sein Werk, Berlin, so sah es aus, lag ihm zu Füßen. Die Straßen waren überschwemmt von Volksgenossen, die sich zuriefen, dort habe man eben Göring, dort Dr. Ley gesehen, und L. war dabei, als ein offener Mercedes in der Menge eingekeilt war, in ihm saß Außenminister Ribbentropp, schüttelte Hände und rief fröhlich, man solle ihn doch passieren lassen. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Und wieder wurde ein Dreizehnjähriger gegrüßt und dankte, er selbst grüßte Jungen mit der grünen oder grünweißen Schnur und war dabei, als sich Massen auf dem Platz vor der Reichskanzlei drängten und im Chor schrien: »Wir wollen unsern Führer sehn!« Hitler zeigte sich auf dem Balkon, gerahmt von Himmler und Goebbels, und L. reckte mit Tausenden den Arm und brüllte Heil, Heil, Heil! Da hatte Hitler die Abenteuer Aufrüstung, Rheinland, Österreich und Sudetenland schon hinter sich gebracht, hatte gar auf der Prager Burg gestanden, und alles war gelungen mit Lüge, Wortbruch und Mord, aber ohne einen Kanonenschuß, über ihm donnerte die modernste Luftwaffe der Welt, und die Tausende, die da jauchzten, fühlten sich als Teilhaber dieser Erfolge, auch das dünne Loestchen mit seiner rot-weißen Schnur. Als L. sich am Abend im D-Zug nach Chemnitz auf seinen Sitz fallen ließ, ratterten in seinen Gedanken noch Kradschützen und dröhnten Stukas und ballten sich Menschen und reckten Hände und Hälse und schrien Heil, und ein paar Hundert oder vielleicht auch nur zwei Dutzend Jungen hatten ihn gegrüßt. Er war Teil der Macht.

Es gibt keinen Roman über die Hitlerjugend, und auch der Chronist wird keinen schreiben, es sei denn, er stieße auf eine packende Fabel. Eine Fabel – er müßte über sie stolpern, denn eigentlich sucht er sie nicht –, und wenn er dann schriebe, würde er diesem Phänomen beizukommen suchen, daß sich Menschen, die keine Macht besaßen und vielleicht auch keine wollten, mit einem Schlag änderten, wenn ihnen Macht in den Schoß fiel, und wäre sie noch so gering. Dieser Gedanke ist nicht für alle Zeiten gleich und stellt sich in jeder Ordnung neu, weil die Formen der Macht immer anders sind. Wie’s 1939 war, wie’s dem kleinen E. L. erging, hat der Chronist nicht vergessen.

Es scheint obenhin betrachtet denkbar, der Schriftsteller L. hätte sich um das Jahr 1955 herum einem Roman über die HJ zugewendet. Da lag das Ende des Zweiten Weltkriegs zehn Jahre zurück, keinen Zweifel gab es landauf, landab an der Zutreiberrolle der HJ, schon gar nicht beim Genossen L.; Emotionen hatten reichlich Bodensatz hinterlassen, auf dem innere Anteilnahme sprießen konnte – warum suchte er keine Fabel? Freilich wäre es besser gewesen, er wäre auf eine harte Geschichte geprallt, hätte sich an ihr den Schädel wund- und wachgeschlagen und an ihr alle schriftstellerischen Theoreme zertrümmert, die er in sich aufgebaut hatte. Denn nie ging er selbstsicherer an das Montieren von Fabeln heran als Mitte der fünfziger Jahre, nie war er überzeugter, genau zu wissen, wie ein Roman beschaffen sein mußte und was er im Leser bewirken, wie er in dessen Bewußtsein diese und jene Reaktion hervorrufen sollte; flink war er mit dem Urteilen und Verurteilen bei der Hand, er fühlte einen glattgeschliffenen Stein in der Tasche, den Stein der Weisen, denn er wußte alles über den Sozialistischen Realismus und sein Kern- und Glanzstück, den positiven Helden. Er hatte gelernt, was das Typische war, zitierte Engels und Shdanow, und als das Typische galt ihm das Vorwärtsdrängende, Herausragende im Sinne des historischen Fortschritts. Also konnte, meinte er, niemals ein HJ-Führer der Held eines Romans sein, sondern in der Hitler-Ära immer und immer nur ein Widerständler, ein kommunistischer am besten. Ein jugendlicher Kämpfer gegen die HJ hätte im Zentrum eines solchen Werkes stehen müssen, so hätte er argumentiert, aber nicht isoliert hätte er kämpfen dürfen (wie Falladas Otto Quangel in »Jeder stirbt für sich allein«, was die zeitgenössische Kritik als untypisch schalt), sondern Schulter an Schulter mit Gleichgesinnten, die er mitriß. Solches aber war ihm nicht begegnet, da stieß sich die Theorie mit eigenem Erleben, und ein so arger Theoretiker war er nun doch nicht, daß er alle Erfahrung in den Wind geschlagen hätte. Ein HJ-Führer als tragisch scheiternde Hauptfigur? Oh, da war er gewarnt, es erging Arnold Zweig schlecht mit seinem Roman »Das Beil von Wandsbek« und vor allem der DEFA mit dem danach gedrehten Film, in dem ein Fleischermeister, der zum Scharfrichter der Faschisten wird, im Mittelpunkt steht. Nein, es gab nichts in der Theorie und der Praxis der fünfziger Jahre, das ermuntert hätte, sich am HJ-Stoff zu versuchen. Einmal, 1952 vermutlich, gab Kurt Bartel, der sich Kuba nannte und Sekretär des Schriftstellerverbandes war, in L.s Beisein einen Katalog von Schwerpunktthemen bekannt: Umgestaltung der Landwirtschaft, Kasernierte Volkspolizei, Einheit Deutschlands, Bau der Stalinallee, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, deutsch-sowjetische Freundschaft, antifaschistischer Widerstandskampf. Dafür verhieß Kuba anspornende Stipendien. Die HJ war nie Schwerpunkt.

An jedem 9. November marschierte eine Delegation des Deutschen Jungvolks zum Friedhof und legte einen Kranz am Grabe des SA-Mannes Max Beulich nieder. Beulich war von den Kommunisten zu den Nazis übergelaufen, das vergaßen ihm seine verratenen Genossen nie. An einem düsteren Abend des Jahres 1932 kehrten Mittweidas Faschisten aus Chemnitz zurück, dort hatte Hitler gesprochen. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurden sie von Kommunisten empfangen, deren Losung hieß: Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft! Den Worten folgten die Fäuste, bis in den Stadtkern zogen sich die Prügeleien hin; in einer Gasse zum Schützenplatz hinauf wurde Beulich schließlich erstochen. Am nächsten Tag waren drei junge Kommunisten, alle unter zwanzig, aus Mittweida verschwunden; es hieß, sie hätten sich in die Sowjetunion davongemacht. Ein Prozeß fand nie statt. Einer von denen, die nach dieser Nacht geflohen waren, wurde nach dem Krieg Polizeigeneral in Thüringen.

Nach dem Sieg über den Faschismus wurde die Max-Beulich-Straße sofort umbenannt. In den Jahren danach bestand nie die Chance, daß der Name dieses Mannes genannt wurde. Nur noch die ganz Alten kennen ihn, mit ihrem Tod wird er gelöscht werden. Eines Tages könnten wache Kinder fragen: Ist es denn möglich, daß nur Kommunisten in den Saal- und Straßenschlachten mit den Nazis ihr Leben ließen, wehrten sich die Kommunisten denn nicht? Die Antworten sind dann verschollen.

Meist troff Regen, wenn L., die Toten der Feldherrnhalle und Max Beulich zu ehren, zum Friedhof marschierte. Auch er trug einen Dolch am Koppel.

II. Pistole mit sechzehn

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Doch das Wichtigste für ihn war zwischen 1936 und 1939 nicht die Hitlerjugend, sondern die Schule. Ein halbwegs neues Gebäude am Stadtrand mit Blick auf den Park, ein praktisches freundliches Haus, Raum bietend für je eine Klasse von der Sexta bis zur Oberprima – der Sextaner L. trug neue Schulbücher in neuer Tasche nach Ostern 1936 zum erstenmal dorthin. Durch den Großvater mütterlicherseits, den Oberlehrer i. R., flackerte noch einmal die Überlegung auf, die ein Jahr ältere Schwester Käthe doch noch mitzuschicken, aber der Gaswerks-Opa siegte mit diesem Argument: Da kriegt sie bloß ’ne Brille und folglich nie einen Mann. Vor allem aber war Käthe als kaufmännischer Nachwuchs für das elterliche Geschäft ausersehen. Schluß der Debatte.

Für das Gerangel um die Führungsspitze in der Klasse fehlte es ihm an Körperkraft und Lautstärke. Er lernte. Diese drei Jahre bis zum Kriegsbeginn boten ihm fordernde Schule, angefüllt, ausgefüllt mit Lehrstoff, dargeboten von Lehrern, die mit geringer Ausnahme ihr Fach verstanden und ernst nahmen. Der Chronist zweifelt fast an seiner Erinnerungsfähigkeit, so stark ist er verwundert, daß noch an jedem Montag eine christliche Andacht abgehalten wurde. Der Physiklehrer bediente das Harmonium, Pflicht war es, das Gesangbuch mitzubringen. Rektor Schönfelder, schon vor- und bloßgestellt als Gelegenheitsbarde des ›Mittweidaer Tageblatts‹, wachte an der Aulatür über die Einhaltung dieses Gebots. Ein Jahr darauf wurde er pensioniert – er kehrte nach Kriegsbeginn zu seiner und der Schüler Qual als Lateinlehrer für untere Klassen zurück –, ein junger Rektor trat ein, Lehnert, Alter Kämpfer der NSDAP, ein Politischer Leiter. Andacht wurde durch Fahnenappell ersetzt, zwei Studienräte aus dem demokratischen Lager trugen alsbald das Hakenkreuz am Jackett. In der Wolle gefärbte Nazis waren der Sport- und der Chemielehrer, der Sportlehrer war Reserveoffizier und rückte gelegentlich zu einer Übung ein; wenn er wiederkam, hatte er seine Kommandos so verkürzt, daß sie nur noch wie Bellen klangen. Knallend verkündete er, er sei von der Truppe zurück, nun pfeife es aus einem anderen Loch, und ordnete Körperschule an, ein Intensivtraining mit dreitägigem Muskelkater als Folge. Der Zweitkleinste und beinahe Schwächste der Klasse war flink und zäh, eine Niete im Kugelstoßen, doch behende die Kletterstange hinauf, und was er je gelernt hat im ungeliebten Geräteturnen, das bei diesem Mann. Geschwommen wurde und geboxt, und Spezialität war ein Spiel namens Bückeball, Handball auf eine Turnhalle zugeschnitten, bei dem der Ball nur bis Hüfthöhe gespielt werden durfte und sonst fast alles erlaubt war. Das war seine Welt, da wühlte er verbissen, und wenn es eine Strafbank gegeben hätte, er hätte immerzu auf ihr gesessen. So gerieten seine Sportzensuren nie so schlecht, daß sie ihm die Freude an diesem Unterrichtsfach verdorben hätten. Er glänzte in Geschichte; Griechen und Perser schlugen ihre Schlachten, Armin trieb die Römer zu Paaren, das Mittelalter ließ ihn relativ kalt, aber dem preußischen Friedrich gehörte seine kundige Sympathie, er betete die Namen preußischer und österreichischer Generäle und aller Schlachten her und wunderte sich nicht, daß ihm als Sachsen die Liebe zum Preußenkönig anerzogen wurde, der doch mit Sachsen rüde genug umgesprungen war. Sächsische Geschichte wurde nicht gelehrt, die Richtung hieß »Preußen als Keimzelle des Deutschen Reiches«, und dieses Preußentum, so wollten es Geschichtsbücher und Lehrer, war der Vorläufer von Hitlers Ideen, und Blücher ein früher SA-Mann. Friedrichs lange Gardesoldaten waren die Ahnen der SS. Die Sachsen galten als verdächtiges Gemisch von Hofschranzen, Verrätern und Schwachköpfen, die Lustschlösser anstelle von Festungen gebaut hatten; es lohnte nicht, sich mit ihnen zu befassen.

Allmählich schied sich die Spreu vom Weizen. Mit achtundzwanzig Jungen und acht Mädchen hatte diese Klasse begonnen, Ostern 1940 überstanden noch vierzehn Jungen und zwei Mädchen. Die anderen hatten die jeweiligen Ziele nicht erreicht, genauer gesagt: Die Schulleitung hatte den Eltern nahegelegt, ihre Kinder herunterzunehmen. Denn kein Lehrer gefährdete ohne Not den Ruf einer Familie, mit deren Mitgliedern er etwa der »Liedertafel« angehörte oder dem »Verein ehemaliger Realschüler«, mit denen er vielleicht selbst die Schule oder die Tanzstunde besucht hatte oder ihnen zumindest jeden Tag auf der Straße begegnen konnte. Etliche, die die Oberschule verließen, wechselten zur Handelsschule über; die Eltern argumentierten im Bekanntenkreis, ihre Sprößlinge seien nun einmal mehr fürs Praktische. Ein Kern hielt sich bis zum Abbröckeln lange vor dem Abitur.

Denn der Sommer 1939 brachte den Krieg, sein brüllendes Näherrücken bestimmte die Gespräche der Älteren. Alle Väter waren Frontsoldaten gewesen, kannten Hunger und Inflation – niemand sehnte sich nach Krieg. Zwei Tage lang schien es, als beschränke sich das Schlachten auf Polen. L. spazierte mit seinen Eltern an der Zschopau entlang, sie trafen Bekannte, die ihnen sagten, England und Frankreich hätten den Krieg erklärt. Da wurden die Gesichter seiner Eltern maskenhaft starr.

Wenige Tage später rückte der Vater ein. Er war zweiundvierzig und laborierte an der Galle. Es war klar: Die Mutter konnte das Geschäft nur eine kurze Zeit allein führen, es hätte ohne den Chef geschlossen werden müssen, die Familie wäre ohne Existenz gewesen. Aber nach zwei Wochen war der Vater wieder da, noch einmal wurde er im Herbst eingezogen und bewachte polnische Gefangene, die bei Wittenberg Rüben rodeten, dann gab er abermals sein Feldgrau auf Kammer ab und wurde nicht wieder behelligt.

In diesem heißen September, in dem Polen zusammenbrach, radelten Mittweidas Oberschüler täglich an die Talsperre, sie spielten Wasserhasche und Fußball bis zur Erschöpfung, manchmal lagen sie im Gras und schauten zu den Flugzeugen hinauf. Alle kannten alle Typen, Ju 52 und He III und die berühmte Me 109. Traurig waren sie, daß sie diesen Krieg nicht mitschlagen durften, sie waren ja erst dreizehn, vierzehn, und bis sie Soldat sein konnten, war zweifelsfrei alles längst vorbei. Vielleicht kamen sie zum nächsten zurecht? Aber der jetzige Krieg, so stand in allen Zeitungen, würde ja jedes Problem in Europa auf tausend Jahre lösen.

In diesem Herbst und Winter lagen die Straßen dunkel. Für einen Jungen, der vierzehn wurde und sich für Mädchen zu interessieren begann, waren die abendlichen Schattenspiele von romantischem Reiz. Unmassen von schwarzem Papier, Reißzwecken und Initiativen wurden für die Verdunklung verbraucht. Leuchtabzeichen tauchten auf, Buchstaben waren am beliebtesten; der erste Fliegeralarm war eine erschöpfend beredete Sensation. Jüngere Lehrer rückten ein, Pensionäre kehrten in die Schule zurück, die Disziplin lockerte sich. Immerzu war Anlaß, zu flaggen oder zu einem Gemeinschaftsempfang in der Aula zusammenzuströmen. Die Einschränkungen blieben erträglich, der Krieg war siegreich; nun, da er einmal da war, verlor er auch für die erfahrene Generation von seinem Schrecken. Man mußte mit dem Krieg leben und tat es. Deutschstämmige Umsiedler aus Bessarabien füllten eine Schule, sie zogen weiter auf geraubte Höfe nach Polen. Eine Lazarettbaracke wurde eingerichtet, manchmal brachten Mittweidas Hitlerjungen und BdM-Mädchen den Verwundeten Blumen und sangen und musizierten. Alle älteren Führer waren eingerückt, manche kamen auf Urlaub und berichteten, sie trugen Litzen und Orden, wurden Fähnrich und Leutnant. Im ›Mittweidaer Tageblatt‹ standen die ersten Anzeigen: Gefallen für Führer und Volk. Jüngere Führer rückten nach, in den Straßen dröhnten nach wie vor die Landsknechtstrommeln, durch die Wälder hallte das Kriegsgeschrei der Geländespiele. Sie waren ein Mischmasch von Germanenstrategie, Pfadfinderromantik und radebeulischer Indianerei, auf Cheruskergerangel aufgepfropfter blaublumiger Winnetou, und als tot galt, wem ein Wollfädlein vom Oberarm gerissen wurde. Manchmal entschied die größere Haltbarkeit der roten gegenüber der blauen Wollsorte ein Gemetzel; die Sieger trugen die Beutefäden, Lebensfäden triumphierend wie Skalpe am Hemdknopf heim in die Stadt, wo auf dem Marktplatz die Fahnen in den Torbogen eines Gasthofs hineingetragen wurden, denn darin lag das Jungvolkbüro, genannt Dienststelle, und dreimal grüßte ein Heil der lebenden und der toten Geländespieler den fernen Führer.

Die Konfirmation im Frühjahr 1940 verlief wie im Frieden, Geschenke türmten sich, nichts fehlte auf der Tafel. Er war in einem läßlichen evangelischen Christentum aufgewachsen, mit fünf betete er abendlich, mit sieben quälte ihn schlechtes Gewissen, wenn er es eine Woche lang vergessen hatte. Die Großeltern besuchten jeden zweiten Sonntag die Kirche, die Mutter folgte ihnen zweimal im Jahr, der Vater einmal in fünf Jahren. Das Verhältnis zur Kirche in dieser Familie war überständig und bröckelte ab; der Einfluß auf E. L. war immerhin so stark, daß er sich von der Konfirmation ein machtvolles inneres Erlebnis versprach, etwas Unerhörtes, nie Gefühltes. Nichts trat ein, die Konfirmation war eine tiefe Enttäuschung, und vom nächsten Tag an war er Atheist. Besser: Er war Untheist. Gott existierte für ihn nicht mehr, kein Glaube gab ihm Kraft; Religion oder Nichtreligion wurden ihm nie wieder zum Problem. Eine Zeitlang allerdings beneidete er die, die einen Gott besaßen, das war viel später, als er im Zuchthaus Bautzen ganz allein war, da hätte er Gott brauchen können. Aber kurzfristig läßt Gott sich nicht aufbauen, und er versuchte es auch nicht erst.

In diesem Frühjahr 1940 starb Gott für ihn. Der Führer lebte und war Gott genug, Erzengel Göring schickte seine himmlischen Heerscharen gegen britische Schiffe und Städte, und der Teufel war Churchill. Gottes Propheten hießen Prien und Galland, L. wußte alles über die Funktion eines Sturzkampfflugzeugs und die Bestückung der »Scharnhorst« und die Feigheit der Franzosen, die sich hinter der Maginotlinie verkrochen. In den Sommerwochen, da Frankreich stürzte, hörte er jeden Mittag heißen Herzens den Wehrmachtsbericht und steckte Fähnchen auf einer Karte, und wenn das Jungvolk durch die Stadt marschierte, gellten die Lieder der Saison: Bomben auf Engeland! Ein Winkel schmückte jetzt seinen Ärmel, denn er war nicht nur zum Jungenschaftsführer ernannt, sondern auch zum Hordenführer befördert. Kein Tropfen Ernüchterung fiel in diesen Rausch, den totale Propaganda schäumen ließ, nicht einmal die Sorge um einen Bruder, der jetzt etwa durch Frankreich keuchte oder auf einem U-Boot von Atlantikwogen gebeutelt wurde. Krieg aus der Wochenschau und über Radiowellen, siegreicher Krieg, der weit entfernt geschlagen wird, kann wundervoll sein.

Sommer und Mädchen, Filme und Schlager hatten ihren normalen Platz. Ein Leben lang kehrt die Erinnerung zum ersten Kuß zurück – haben da nicht Kirschbäume geblüht? Aber er küßte nicht in lauer Nacht, sondern unter Ausnutzung der Verdunklungsvorschriften. Er brachte sein jeweiliges Mädchen nicht nach Hause, nachdem sie in einer Milchbar die Händchen gehalten hatten, sondern zu der Heldenfeier am 9. November oder dem gemeinsamen Üben, wie man einen Verschütteten aus einem Keller befreit, oder zu einem Lichtbilderabend über die Trachten deutscher Volksgruppen in Siebenbürgen. Emsig genutzte Gelegenheit zum Flirt bot sich, wenn Jungvolkführer und Jungmädelführerin Schulter an Schulter fürs Winterhilfswerk mit der Sammelbüchse klapperten. Wenn heute im Radio ein Schlager aus dieser Zeit gespielt wird, bei den Namen Rosita Serano oder Zarah Leander schmettert und stampft in des Chronisten innerem Ohr das Engelandlied. Der Jungenschaftsführer Erich aus dem Fähnlein 6/​214 küßte das Jungmädel Christa aus der Jungmädelgruppe 6/​214. Nie wieder konnte er über den Schauspieler Lingen reinen Herzens lachen, denn er lachte über ihn im »Theaterhaus«-Kino, bis Fliegeralarm ihn in den Keller trieb.

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