Kitabı oku: «Durch die Erde ein Riß», sayfa 4

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Deutschland, Deutschland, über alles! Die Fahne hoch! Die Hymnen wurden gesungen nach jedem Appell, nach Beförderungen, zu Beginn des Schuljahrs, an seinem Ende, zu Führers Geburtstag, vermutlich jede Woche. Deutschland, Deutschland, über alles! Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen! Dabei alberte keiner, flirtete keiner. L. sang die beiden Strophen tausendmal. Ein Drittel Jahrhundert später hört der Chronist manchmal um Mitternacht die Nachrichten des Deutschlandfunks und zuvor die Hymne der Bundesrepublik Deutschland, textlos. Danach Pause, Stille. Das Ohr des Chronisten wartet. Nach einer Pause von anderthalb Sekunden meint sein Ohr, es müßte weitergehen im Stampfrhythmus, wie es tausendmal weiterging mit dem Horst-Wessel-Lied, härter jetzt, kämpferischer, nicht mehr weihevoll: Tam tam tam tam! Die Dauer dieser Pause ist eingeschliffen wie die Fortsetzung. Vernunft und die Strecke eines halben Lebens kommen dagegen nicht an.

Schneckengrün lag zurück, er fuhr nach Hartmannsdorf, aus Minus wurde Plus, er war wieder oben! Jedes Jahr einmal testete die Jungvolkführung des Kreises Rochlitz die Elf-und Zwölfjährigen, wer von ihnen Fähigkeiten ahnen ließ, in die Führungsspitze aufzusteigen; die Gau- und Kreisleiter der Jahre 1970 und 1980, die Reichskommissare für Krim und Kaukasus, Burgund und Brabant, die Nachfolger für Mutschmann und Dr. Ley, der künftige Reichsjägermeister und der spätere Leiter der deutschen Gerichtsbarkeit im Protektorat Böhmen und Mähren wurden gesucht. Aus Städten und Dörfern des Kreises waren die fünfzig gewecktesten, sportlichsten, klügsten, eifrigsten Jungen in die Jugendherberge von Hartmannsdorf geschickt worden, auf daß aus ihnen zwei, drei ausgesiebt würden, damit sie auf der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt den Eliteschliff erführen. L. war Hilfsauswähler, Hilfsschleifer, er ließ singen und springen, notierte 60-Meter-Zeiten und Zielwurfergebnisse, verteilte Noten für Bettenbau und Schuhputz.

Härtetag: Nach dem Frühstück traten die Jungen an, jeder verstaute zwei Doppelstullen im Brotbeutel, der Chefauswähler befahl: Die Stullen durften nur auf Befehl gegessen werden! Mit der Bahn fuhr der Trupp nach Chemnitz und marschierte zum Hallenbad, dort sprangen die Hilfsschleifer ins Wasser und lauerten unter dem Dreimeterbrett, die künftige Elite plumpste herunter, wurde herausgefischt und zur Leiter bugsiert mit Rettungsschwimmergriffen, und L. staunte damals, und den Chronisten kommt Beklemmung an bei der Erinnerung, daß keiner der Jungen auch nur einen Augenblick zauderte, daß keiner heulte und sich sträubte, alle stiegen die Leiter hinauf und liefen auf dem Brett vor und ließen sich fallen, Nichtschwimmer zum Teil, und wurden gerettet und kletterten aus dem Becken, sie hatten die Mutprobe, die viel stärker eine Gehorsamsprobe war, bestanden. Wie viele von ihnen hätten später, wären sie nicht 1945 von sich selber befreit worden, auf Befehl Juden erschossen?

Wieder traten sie an und marschierten aus dem damals noch unzerbombten Chemnitz heraus, jeder der Jungen trug die feuchten Badesachen im Brotbeutel und daneben die Stullen. Nach drei Stunden rasteten sie in einem Wäldchen, ihnen wurde erlaubt, sich ein wenig zu zerstreuen. Listig erinnerte keiner der Verführer an das Eßverbot, die Jungen setzten sich ins Gras oder kletterten über Felsbrocken oder spielten Krieg im Unterholz, und alle, alle hatten Hunger, Mittag war vorbei, es wurde nachmittag, und seit dem Morgen hatte keiner etwas gegessen. Wieder wurde angetreten und weitermarschiert. Vor der Jugendherberge von Hartmannsdorf mußten die Jungen ihre Stullen vorzeigen, und nicht einer hatte auch nur die Wurst heruntergenascht. Der Chefauswähler nickte: Herrliches Menschenmaterial! Für den Rest des Tages war dienstfrei.

Nach dem Ersten Weltkrieg fragte Erich Kästner in einem Gedicht, was geworden wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten; »zum Glück gewannen wir ihn nicht«, war sein Resümee. Wenn Hitlerdeutschland seinen Krieg gewonnen hätte, wären die meisten der Sieger Wächter geworden zwischen Sizilien und dem Nordkap, hätten immerfort Posten gestanden vor Kasernen und Gefängnissen und Lagern, um die Besiegten in Schach zu halten. Wirkliche Herren wären nur wenige geworden, darunter die Auserwählten von Hartmannsdorf. Zum Glück wurden sie es nicht.

Wieder Alltag. Altpapiersammeln, Schule, Mädchen, Fliegeralarm. In Mittweida hatte sich ein Teil der Berliner Lorenzwerke vor den Bomben verborgen, in rasch errichteten Werkstätten in einem Tal zwischen Stadt und Wald produzierten Berliner Ingenieure mit britischen und kanadischen Gefangenen elektrisches und feinmechanisches Rüstungszubehör. In den Gebäuden eines ehemaligen Erziehungsheims genas frontversehrte Waffen-SS, das Technikum bildete Luftwaffeningenieure aus. Alle Fabriken produzierten für den Krieg oder produzierten nicht; längst hatten sich die Schraubenregale in Alfred Loests Lager geleert. An klaren Abenden hörte L. wieder und wieder verbotene Sender; was er für sich entnahm war Angst vor einem ungeheuren Strafgericht, das nach einer Niederlage auch über ihn hereinbrechen würde. Nach dem Krieg ist weidlich gerätselt worden, ob es klug von den Alliierten war, von Deutschland bedingungslose Kapitulation zu fordern, ob nicht die angedrohten Strafen und die geplante Zerstückelung verzweifelten Widerstand begünstigt haben. Für L. ergab sich aus der Summe der Sendungen, die er hörte, die Gewißheit: Es bleibt uns ja gar nichts übrig, als immer weiter zu kämpfen. Nie hatte er das Gefühl: Da ist jemand, der will dich, Erich Loest, befreien.

Widerstand in Mittweida? Konspiration mit Kriegsgefangenen? Flugblätter? Sabotage? Er hat nie etwas davon gemerkt, er hörte auch im nachhinein nichts von Aufdeckungen, Verhaftungen. Vielleicht meldete die Gestapo durch Jahre hindurch: Keine besonderen Vorkommnisse. Gestapochef war, wie es nach dem Krieg hieß, der Bankdirektor, der L.s Sparbuch verwaltete; seine hübsche Tochter geigte im Schulorchester Mozarts »Kleine Nachtmusik«. Der Kommunist Vogelsang wartete auf seine Befreiung, der HJ-Führer L. nicht.

Dieses Kapitel wurde schon einmal gedruckt, 1977 in der DDR-Literaturzeitschrift ›Sinn und Form‹. Vorher hatte es zwei Jahre lang in einem Schubfach des Herausgebers Wilhelm Girnus geschmort. Damals war der gewöhnliche Hitlerjugendalltag noch kein literarisches Thema, Christa Wolfs »Kindheitsmuster« war noch nicht erschienen. Hartnäckig legte ein Lektor das Manuskript immer wieder Girnus auf den Schreibtisch, denn er selbst, wenige Jahre älter als L., stammte aus Hainichen, 15 km von Mittweida entfernt, und an jenem Tag, als L. an der Autobahn dem Führer hatte zujubeln sollen, schrie und winkte er auf der anderen Seite. Schließlich bestellte Girnus den Autor zu sich und hielt ihm einen ausschweifenden Vortrag über die eigenen Umtriebe vor der Nazizeit, er war Vorsitzender des Kommunistischen Hochschulbundes gewesen. Girnus hatte zehn Jahre lang im KZ gesessen, L. wußte es. Am Ende brachte Girnus einige beherzigenswerte Einwände zum Text und die große Verwunderung: Eine Stadt wie Mittweida ohne antifaschistischen Widerstandskampf, das könne er sich gar nicht vorstellen! Der Held der Geschichte, dieses sanfte Fleisch, er verstünde ihn nicht. So ohne jede Auflehnung … L. sagte: So wie ich waren neunzig Prozent. Girnus mochte es nicht glauben. Schließlich willigte L. in nützliche Vorschläge ein und versprach, darüber nachzudenken, ob es in Mittweida nicht doch aktiven Widerstand gegen den Faschismus gegeben hätte. Dabei blieb es. Girnus druckte.

Der Kriegsalltag schleppte sich hin mit zermürbender Arbeit, der Sorge um das tägliche Brot, dem Einteilen der Rationen. Als bedrückend wurden nicht so sehr die Rückzüge an immer noch weit entfernten Fronten empfunden wie die Zerstörung deutscher Städte. Diese Namen klangen wie Abteilungen der Hölle: Köln, Kassel, Dortmund, Aachen. Aus dem zerbombten Hamburg und dem sirenendurchheulten Rheinland kamen Jungen in die Klasse und ins Fähnlein, einer lebte in der Familie, für ein Jahr besaß L. einen jüngeren Bruder. In der Schule waren zwei Klassen aus Krefeld mit ihren Lehrern untergebracht für ein halbes Jahr, danach wurden sie gegen andere Klassen ausgewechselt, und er bekam den Auftrag, sie unbeschadet nach Hause zu bringen in überfüllten Zügen, beim Umsteigen in Leipzig, Kassel und Düsseldorf keinen abhanden kommen zu lassen, und er bewältigte diesen Transport mit Schläue und Findigkeit. Diese Jungen brachte er unversehrt nach Krefeld und übergab sie ihren Müttern, die ihm aus Dankbarkeit Geld zusteckten. Von diesem Geld fuhr er nach Köln und stand vor dem Dom und fuhr weiter nach Bad Godesberg, wo er zum Siebengebirge hinaufschaute, er aß Stammgerichte und sah Ruinen und Bunker und Flak an den Rheinbrücken, mißachtete die Losung, die da befahl, erst zu siegen, dann zu reisen, aber in Düsseldorf hatte er nichts anderes zu tun, als an Schlageters Grab in der Golsheimer Heide den Arm zu recken.

Die Freunde des Jahrgangs 1925 rückten ein. Für den Zurückbleibenden folgten Monate voller Unrast, Nervosität. Während der Chronist schreibt, grassiert unter der Jugend das Schlagwort »sinnlos«. In diesem Sommer und Herbst 1943 fand L. alles sinnlos. Mutterseelenallein trat er sein Fahrrad über sächsische und brandenburgische Straßen nach Pommern zum Bauernhof seiner Verwandten. Drei Tage lang aß er sich satt, fuhr weiter an die Küste nach Dievenow, wurde von Berliner Jungen in einer Laube aufgenommen, schwamm ein einziges Mal und streunte wieder landeinwärts. In Kamin umringten ihn in einer Jugendherberge Berliner Mädchen, die hierher verschickt waren und sich tödlich langweilten. Sie flehten ihn an zu bleiben und versicherten, ihm die halben Rationen abzutreten, und ihre Rädelsführerin, die ohne Zögern daranging, sich ihn unter den Nagel zu reißen, gelobte, sich von ihrem Vater, einem Bäckermeister, Aschkuchen sonder Zahl schicken zu lassen. Wie die Made im Speck hätte er leben können, Hahn mit dreißig Hennlein, aber am nächsten Morgen, noch ehe die Schönen erwacht waren, schnallte er sein Bündel aufs Rad, durchquerte Berlin und sah ausgebrannte Stadtviertel und verzweifelte auf heißer Straße über Jüterbog nach Riesa, von dort mogelte er sich mit der Eisenbahn bis Erlau, die letzte Station vor Mittweida, denn niemand sollte ihn mit dem Zug ankommen sehen, und mit bemühtem Schwung bog er hoch zu Stahlroß wieder in seine Stadt ein. Am nächsten Tag fragte er sich: Was sollte er hier?

Manche seiner Klassenkameraden schrieben die ersten Feldpostbriefe von der Front. Einer wurde auf die schon abgeschnittene Krim eingeflogen, gefangengenommen und starb später in einem Lager, einer verscholl im Mittelabschnitt der Ostfront. Die Klasse war auf acht Jungen und ein Mädchen zusammengeschrumpft. Zensuren wurden unwichtig. Integral und Differential, Anglizismen, die Erdzeitalter, Lessing: Leider hatte er sich von den Irrlehren der Französischen Revolution zeitweise anstecken lassen und ein fehlerhaftes Stück namens »Nathan« geschrieben. Dennoch war er groß.

Noch einmal brach der Kriegsalltag auf: Leipzig brannte, Mittweida schickte einen Omnibus voll Jungen zu Hilfe, Schaufel und Eßbesteck waren mitzubringen. Zwanzig Jungen organisierte L. und führte sie durch Tage und Nächte, sie kampierten in einem Keller in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs auf Fenchelstroh, das sie aus einem Waggon bargen oder stahlen, sie halfen, Fensterrahmen zum Glaser zu bringen und schippten Haustüren frei, sie wurden in einer Schule mit Makkaroni versorgt, die sie von Papptellern aßen und die nach Pappe schmeckten, Soldaten saßen neben ihnen, die stumm löffelten und wieder hinausgingen und Keller freiwühlten, aus denen Klopfzeichen drangen. Manchmal fiel ein Satz: Drei Tage verschüttet, sieben Tote, drei Lebende. Er organisierte Verpflegung für seine Truppe: Die Jacke war mit Jagdwürsten vollgestopft, einmal karrte er zehn Eimer Marmelade heran, wie ein Weihnachtsmann verschenkte er süße Gaben in dem Haus, in dem sie wohnten. Zeitweilig besaß er einen halben Zentner Butter, den größten Teil jagte ihm ein Ortsgruppenfunktionär ab. Sie waren gute Kameraden untereinander, und ehe sie sich abends auf Fenchelstroh betteten, schifften sie zischend in die Glut, die nebenan Ruinenreste verzehrte. Auf dem Stroh unterhielt er sein Völkchen mit Geschichten, die er »Schwänke aus seiner Jugend« nannte.

Nach vier Tagen fuhren die meisten nach Hause, ein harter Kern blieb. Mit einem Malerkarren betrieb ihr Anführer ein privates Fuhrunternehmen zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bayrischen Bahnhof, denn Straßenbahnen fuhren nicht. Einmal stand eine weinende Frau mit Koffern und zwei kleinen Kindern vor dem Hauptbahnhof, er fragte, wohin sie wollten, lud die Koffer auf und versicherte, nun ginge alles in Ordnung, und als die Frau noch immer weinte, fügte er hinzu, sie könne ruhig damit aufhören, denn er hätte ja alles in die Hand genommen. Gern entsinnt sich der Chronist seiner guten Tat und täte es reineren Herzens, hätte der edle L. die fünf Mark Trinkgeld verschmäht.

Tags darauf war er krank, Erkältung, Fieber, Grippe. Seine Kameraden organisierten einen Arzt, der stieg in den Keller hinunter und untersuchte ihn auf dem Fenchelstroh, verabreichte landläufige Medizin und empfahl schleunigste Heimfahrt. Aber einer fand, es ginge nicht an, aus bestandener Schlacht mit profaner Erkältung heimzukehren, eine Rauchvergiftung wurde konstruiert: L. hätte in einem brennenden Keller heldisch gewerkt, seine Kameraden hätten ihn mutvoll gerettet. Die Mär mit der Rauchvergiftung brachte ihnen im vollgestopften Zug ein Sonderabteil ein. Mutter L. war froh, ihren Jungen wieder daheim zu haben. »Jaja«, sagte sie nebenher, als sie von Heroentum hörte, und steckte ihren Erich mit einer Wärmflasche ins Bett.

Warten auf die Einberufung, nichts machte Freude. Zu seinem Mädchen verhielt er sich so eklig, daß es sich nach einem anderen umsah. Als er nach dem Krieg in seine Stadt zurückkehrte, war es verheiratet und schob den Kinderwagen.

Im März 1944 gab die Postfrau einen Einschreiber ab: Einberufung nach Leipzig zu einem Grenadier-Ersatzbataillon. Also doch Infanterie. In dieser Kaserne hatte schon Großvater Albert gedient. Ehe L. Soldat wurde, verstaute er die grünweiße Schnur, das Braunhemd mit den Schulterklappen, Fahrtenmesser und Koppelschloß in einer Schublade und wies seine Mutter an, nichts davon unter keinen Umständen wegzuschenken. Als im April 1945 Shermanpanzer auf den Feldern vor Mittweida auftauchten, steckte die Mutter das Brennbare in den Ofen und das Nichtbrennbare in die Aschengrube. Die Pistole warf der Vater Teil für Teil in einen Teich.

Hin und wieder sieht der Chronist in einem Museum ein Fahrtenmesser. Blut und Ehre. Die grünweißen Schnuren sind damals wohl alle verbrannt.

III. Kleiner Krieg

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L. hatte zwischen 1947 und 1949 an Feierabenden und Sonntagen gelbgraues Papier, Rückseiten von Briefen und nicht genutzte Schulhefte mit Buchstaben bedeckt, hatte zaudernd vor sich, der Schwester, dem Vater und Freunden tapfer laut werden lassen, einen Roman schreiben zu wollen, hatte Erlebtes mit Gehörtem gemischt und so gut wie nichts erfunden, vielmehr seine Figuren Wege gehen lassen, die von ihm bekannten Menschen gegangen worden waren, und bei einem Drittel hatte er noch nicht einmal die Namen geändert. Rekruten, Unteroffiziere und Leutnants agierten in diesem Buch unter Namen aus der Wirklichkeit, bestenfalls änderte er Schlosser in Klempner, und es ist schwer begreiflich, daß diese Methode, einen Schlüsselroman zu schreiben und den Schlüssel steckenzulassen, kein Dutzend Beleidigungsklagen eingebracht hat.

Der Name der Hauptperson ist erfunden: Walther Uhlig. Ein Oberschüler ist das mit Eigenschaften, die L. gern nachträglich an sich gesehen hätte: Schlau, zäh, seinen Ausbildern geistig überlegen, ein trefflicher Schütze, gerissen in den Winkelzügen des feldgrauen Alltags, eifrig im Gefechtsdienst, sonst undiszipliniert, mehr Raufbold als Paradestück. Uhlig ist ein schnellerer Hundertmeterläufer, als sein Autor es je war, Uhligs Hauptkonflikt aber ist L.s Dilemma in diesem Ausbildungsjahr, und so gesehen, kann Uhlig für seinen Erfinder stehen.

Er rückte im März 1944 in Leipzig-Gohlis ein. Eine Ausbildungsformation von Reserve-Offiziersbewerbern wurde zusammengestellt, fast alle waren Oberschüler, alle HJ- oder Jungvolkführer gewesen. Was in diesem fünften Kriegsjahr von der Rüstungswirtschaft produziert wurde, ging an die Front, das Ersatzheer fuhr Reste und Abfall auf Verschleiß. Uniform- und Ausrüstungsstücke waren erbärmlich, die Kasernen heruntergewirtschaftet von immer neuen Schüben, die notdürftig ausgebildet und in Marsch gesetzt worden waren, seit vier Jahren unablässig nach Osten; wer ein weiteres Mal hier auftauchte, tat es auf dem Umweg übers Lazarett.

Nach einer Woche zog eine scheckige Schar zum Hauptbahnhof, in den Abteilen eines Personenzuges fuhren hundert junge Landser von einer Garnison zur anderen. Tornister oder Rucksäcke besaßen sie nicht, so klemmten sie Kartons unter den Arm, mancher hatte sich ein Kommißbrot mit Bindfaden ans Koppel geschnürt. Wie die Zigeuner rückten sie in Weißenfels ein. Vom nächsten Tag an waren sie Rekruten, die um fünf aus den Betten sprangen und abends um zehn todmüde hineinfielen, die nur eine Bewegungsart kannten, den Laufschritt, die das Gebrüll der Ausbilder und das Schrillen ihrer Pfeifen von früh bis spät hörten und die eine Gewißheit aufrechterhielt: In vier Wochen war die Grundausbildung vorbei. Sie waren ganz unten und wollten hinauf; wenn’s gutging, konnte jeder von ihnen in anderthalb Jahren Leutnant sein. Jetzt solidarisierten sie sich gegen den Hilfsausbilder, den Gruppenführer, den Leutnant. Wieder war diese Spaltung im Spiel, die L. in seinen Pimpfjahren und im Führerlager Schneckengrün durchlitten hatte, doch abermals begriff er sie nicht als Kehrseite einer Medaille, deren blanke Hälfte sein Ziel war.

L. wurde vereidigt auf den Führer. Jede zweite, dritte Nacht wurde von Fliegeralarm zerhackt. Auf anderen Kasernenhöfen sah er Soldaten in neuen Uniformen und ungefärbten Schuhen, sie wurden formiert für die Front. Wenn er gefragt worden wäre, ob er mit ihnen hätte ausrücken wollen, er hätte keine Sekunde gezögert. Die Front, sogar die Ostfront, erschien ihm als die Freiheit.

Und er wurde krank. Scharlach. Ein Sanka brachte ihn nach Zeitz ins Lazarett, dort schlief er tagelang fast ohne Pause, da war das Fieber vorbei. Heller Frühling war inzwischen. L. half in der Lazarettgärtnerei und übte sich in der Kunst des Skatspiels. Bomben fielen auf das nahe Hydrierwerk, Brandschwaden schwärzten den Himmel, verletzte Kriegsgefangene starben in der Baracke nebenan. Manchmal sah er einen Pfleger einen Eimer zum Kesselhaus tragen, darin lag ein halbes Soldatenbein, Erfrierungsopfer aus dem Rußlandwinter.

Als er sich endlich in Zeithain meldete, hatten seine Kameraden so mannigfache Tötungsarten erlernt, daß für ihn ein Aufholen unmöglich war. Noch einmal alles von vorn – seine Stimmung sank auf Null. Das aber wußte zu diesem Zeitpunkt keiner: Die Jungen, die mit ihm eingerückt waren, kamen gerade zurecht, um in Königsberg eingekesselt zu werden. Aus ihnen wurde eine Stoßformation gebildet, die Einbrüche abzuriegeln hatte, von ihnen sah kein Viertel die Heimat wieder. Scharlachbazillen zur rechten Zeit haben seine Lebenserwartung wesentlich verlängert.

Einige Tage saß er herum, bis Nachwuchs einrückte. Er hatte den Frischlingen einige Ausbildung voraus, der Zorn der Ausbilder richtete sich auf Langsamere, Ungeschicktere; ein Stückchen hatte er sich nach oben geschoben. Das eigentliche Waffenhandwerk fand er spannend und männlich. Aber die Disziplin. Da erklärte ein Feldwebel im Ballistikunterricht, das Geschoß würde nach dem Verlassen des Laufs eine Weile geradeausfliegen, bis Erdanziehung und Luftwiderstand die Flugbahn krümmten. Da behauptete L., dies stimme nicht, sofort wirkten diese Faktoren, schon im ersten Millimeterbruchteil. Der Feldwebel erläuterte seine Auffassung noch einmal, L. blieb hartnäckig, der Feldwebel jagte den Aufsässigen um den Block. Die Unteroffiziere waren rußlanderfahren, mehrfach verwundet, die meisten trugen Nahkampfspange und Eisernes Kreuz, sie sahen in L. einen Schnösel von der Oberschule, der sich über sie lustig machte. Diese Männer, meist Facharbeiter, waren zuverlässig und tüchtig auch, nachdem man sie als Soldaten verkleidet hatte, sie waren das Rückgrat der deutschen Wirtschaft gewesen und bildeten jetzt das Rückgrat der Armee, sie witterten versteckten Hohn eines Burschen, der sich womöglich sagte: In einem halben Jahr bin ich Unteroffizier wie ihr, in anderthalb Jahren Leutnant, und wer steht dann vor wem stramm? In »Jungen die übrigblieben« stellte der Autor Uhligs Haltung als inneren Widerstand eines Aufrechten dar, der sich gegen Ungerechtigkeiten aufbäumte und den die Kommißmaschine zu zerbrechen suchte. Da Antifaschismus nicht im Spiele war, da L. mit dem braunen und feldgrauen System so lange konform ging, wie er nicht auf der Schattenseite fror, muß der Chronist ergänzen, daß die Arroganz eines Burschen eingemischt war, der ein paar physikalische Gesetze begriffen und ein paar Fremdwörter gelernt hatte und sich einen Witz auch dann höchst ungern verkniff, wenn die Wirkung auf ihn zurückfiel. Im Roman:

»Und du? Und du selbst?«

Walther verstand, daß der Vater jetzt nichts von Schießleistungen, von seinem Stand beim Oberfeldwebel, von Märschen und Siruprationen hören wollte. »Ich selbst«, sagte er, zog den Rauch tief ein und ließ ihn aus der Nase hervorquellen. »Ich selbst, ja.« Dann plötzlich schnell, als wäre ein Damm gebrochen und eine schon lange gestaute und gepreßte Flut bräche sich Bahn: »Weißt du, Vater, mir fällt es manchmal schwer. Nicht das Marschieren, der Dienst, das Körperliche oder das bißchen Geistige, das verlangt wird. Sondern einfach das Jawohlsagen, das Gehorchen, das Strammstehen vor irgendeinem blöden Unteroffizier. Wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet, so einem bloß die Schuhe putzen zu müssen! Ich putze meine eigenen nicht gern, und dann soll ich sie noch für einen solchen Trottel putzen! Und wenn der sagt: ›Hinlegen‹, dann muß ich mich in den Dreck schmeißen, und wenn der sagt, ›hier riecht’s so komisch‹, dann muß ich unter der Gasmaske japsen. Dabei können die Leute kaum ihren Namen schreiben. Das beste Beispiel ist mein Unteroffizier. Dauernd andere Weiber, dumm wie ein Hund! Und der hat das Recht, mich zehnmal vor der ganzen Abteilung schreien zu lassen: ›Ich bin das größte Rindvieh der 5. Kompanie!‹ Du kannst dir vorstellen, wie mich das rasend macht! Es gibt auch Leute, Vater, bei denen es mir nichts ausmacht, ihre Befehle auszuführen. Wir haben einen Oberfeldwebel, bei dem habe ich nie das Gefühl, mich zu erniedrigen. Dem würde ich vielleicht sogar mal freiwillig die Schuhe putzen. Aber die anderen …«

Das ist Uhligs Problem, bei L. war es nicht anders. Ein Unteroffizier, der »amare« konjugieren könnte, ein Feldwebel mit abiturreifem Ballistikwissen, ein Psychologieprofessor als Leutnant, dazu noch eine saubere Kaserne, schmucke Uniform, reichliches Essen – Naziherz, was willst du mehr?

Er eckte an, brachte seinen Leutnant zur Weißglut, sollte an die Front verbannt werden und wurde dann doch nur innerhalb Zeithains strafversetzt. Er war so auf Knallerei versessen, daß er Munition und Sprengmittel klaute; die Kompanie stand Kopf, als der U. v. D. eine niedliche 2-cm-Flakgranate unter seinem Kopfkissen und fünf Kilo Sprengmittel im Spind fand. Das brachte Strafdienst und dennoch heimliche Sympathie ein. Und siehe da, als die ersten sechs von sechsunddreißig Gefreite wurden, war er dabei. Einer seiner Kameraden hieß Rudolf Agsten. Stimmgewaltig schrie er bei Feierstunden vor dem angetretenen Bataillon zeitgemäße Verse, seine Spezialität war »Deutschland, erwache!« Viel später wurde er Generalsekretär der LDPD und Mitglied der DDR-Volkskammer.

Am Schwarzen Brett las L. von der Invasion in der Normandie. Einmal wurde die 24. Grenadierdivision im Mittelabschnitt der Ostfront lobend erwähnt; da gingen die Ausbilder mit zugesperrten Gesichtern umher, denn sie wußten: Nun lebte die Hälfte ihrer Kameraden nicht mehr. Das Attentat des 20. Juli, ein heißer Sommer, ein trockener Herbst, schließlich Weihnachten – kein General kam auf die Idee, nun sei genug geübt worden, und wo fast nichts mehr Friedensware wäre, bräuchte es auch keine friedensmäßige Ausbildung.

Zeithains Offiziersnachwuchs kannte nur einen Feind, den im Osten. Die Übungsanlage für den Häuserkampf hieß »Russendorf« und war gebaut mit Ziehbrunnen und eingegrabenen T-34-Kuppeln am Rand. Der Winter, auf den sich Zeithains Soldaten vorbereiteten, war der russische Winter, die Beutewaffen, mit denen sie hantierten, stammten aus Beständen der Sowjetarmee. Wer als »Feind« eingeteilt wurde, zog die Jacke verkehrt herum an und schrie: »Urräh!« Bei der Zielansprache hieß es: »Daumensprung links von Hausecke kriechender Iwan.« Ein sowjetischer Film über Scharfschützenausbildung lehrte Zeithains Jungkrieger das Fürchten. Kein Wort fiel, mit dem versucht worden wäre, den künftigen Gegner lächerlich zu machen. Der hatte seine Zähne längst gezeigt.

Die Fronten rückten näher, an Sonntagen belehrte L. nun schon Volkssturmmänner über die Panzerfaust. Im Februar noch hob er mit den Fremdarbeitern eines Dorfes ostwärts von Zeithain ein paar hundert Meter Schützengräben aus, denn die Sowjetarmee war bis zur Oder durchgebrochen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend treckten Flüchtlinge über die Chaussee; nach Tagen schaute er schon nicht mehr hin. Glaubte er, eine Armee, die von der Wolga bis zur Oder vorgestoßen war, könnte an seinem Graben gestoppt werden?

Am ersten März wurden er und zwei Dutzend seiner Kameraden nach Plauen versetzt. Jetzt war er Gruppenführer von zehn Jungen, von denen einige noch nicht sechzehn waren. Sie stammten vom linken Rheinufer, waren in Pommern beim Arbeitsdienst gewesen und zurückgespült worden. Sie waren schwächlich, immer müde; bei den Waffen der Großdeutschen Wehrmacht wurden Kindergrößen nicht geführt. Diese Jungen bekamen keine Post, bei ihnen zu Hause war schon der Ami.

Es war ein bildschöner März. Jeden Montag wurde Plauen gebombt, Flugzeuggeschwader paradierten über einen blanken Himmel und klinkten schulmäßig aus, dabei wurden sie von keinem Geschütz und keinem Jäger behelligt. Nach dem Angriff zogen Soldaten in die Stadt und versuchten zu retten und zu bergen. In die Kaserne floß weder Strom noch Wasser, die Klos wurden abgeschlossen, und einige hundert Landser entleerten sich in Latrinen jenseits des Zauns. Die Rationen wurden abermals gekürzt, nie mehr wurde jemand satt. Ein Gerüchtgespenst ging um: Plauens Soldaten sollten im Fußmarsch die Ostfront bei Görlitz erreichen, denn Transportmittel für ein paar hundert Soldaten gab es nicht mehr.

Da tauchte eines Tages ein Heldenwerber auf, ein Hauptmann mit dem Deutschen Kreuz in Gold und der Goldenen Nahkampfspange, und hielt eine Rede, die in der These gipfelte, noch seien die wundervoll kriegsentscheidenden Waffen nicht ganz fertig, eine winzige Spanne müsse der Feind noch hingehalten werden, diese Galgenfrist müßten die Jungen erkämpfen, die Unerbittlichen, Besten, Härtesten. Werwolf! Hagen von Tronje, Schlageter, Horst Wessel! Eine Woche, einen Monat noch, wir werden weitermarschieren, werden siegen, weil wir den Führer haben.

Da meldete L. sich, unter anderem weil er den Fußmarsch, Hungermarsch nach Görlitz fürchtete und weil er wußte, daß es keine Lebenschance für ihn gab, wenn gerade an seinem Abschnitt der russische Sturm losbrach. Noch einmal würde er ausgebildet werden und schließlich im Rücken des Feindes kämpfen, verschworen mit wenigen, die schlau und zäh waren wie er, auf deren Findigkeit es ankam, die die Initiative auf ihrer Seite hatten, hervorragend trainiert, bewaffnet und ernährt waren. Von Einmanntorpedofahrern hatte er gehört und von Kamikazefliegern, Old Shatterhand und Tarzan lockten, jetzt war die Stunde da, in der er sich bewähren konnte wie die Helden eines Lettow-Vorbeck, wie Graf Luckner, Max Schmeling, wie jener Pionier Klinke, der die Schanzen von Düppel gesprengt hatte. Der Heldenwerber fragte: Wer stammte aus dem Elsaß, aus Oberschlesien, der Zips, dem Banat? Wer sprach polnisch, flämisch, eine baltische Sprache? Die meisten waren Sachsen und Egerländer, da suchte er die heraus, die ihm am sportlichsten erschienen.

Für die Ausgewählten war der Dienstalltag vorbei. Sie wurden neu gekleidet, einen Tag lang liefen sie eitel in hellbraunen Schuhen umher, dann schmierten sie sie schwarz. Montags grollten wieder die Bomber. Der Wehrmachtsbericht meldete schwerste Kämpfe um Danzig, in Pommern, Kurland und an der mährischschlesischen Grenze. Berlin brannte. Eine Zuteilungsperiode wurde von vier auf fünf Wochen gedehnt. Auf das Feld vor der Kaserne sank ein Flugblatt, in ihm stand, die Hungerrationen von 1918 wären höher gewesen als die vom März 1945. In einigen Tagen also war er Werwolf. In Gedanken öffnete er seinen Spind, der konnte die Konserven kaum fassen.

2

Für sein Leben gern war er Moralist. Bei abendlichen Wegen mit einem Freund hatte er es als Höhepunkt an Offenheit und Klarheit empfunden, wenn er aussprach, was er von diesem Freund hielt, und hörte, was er selbst galt. Seine größte Angst war, er könne für feig gehalten werden. Immerzu wünschte er, jemandem das Leben zu retten; sein Alptraum: Ein Kind war von Flammen eingeschlossen, er wußte, daß er selbst kaum eine Chance besaß, aber er mußte es herausholen, um sich nicht ins Gesicht spucken zu müssen. Dabei kam er um. Das Begräbnis hatte er sich bildstark ausgemalt. Der Grabstein: Granit. Nichts auf ihm als sein Name.

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