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4.2Lernen im Arbeitsprozess
Grundlegend für den Erwerb der Fähigkeiten für ein subjektivierendes Handeln ist – wie schon erwähnt – ein erfahrungsgeleitetes Lernen, das mit den Merkmalen subjektivierenden Handelns korrespondiert (vgl. Bauer, Munz 2004). Auf das Lernen im Arbeitsprozess bezogen heißt dies vereinfacht ausgedrückt: Das subjektivierende Handeln und dessen jeweils besondere, auf konkrete Arbeitszusammenhänge bezogene Ausprägung wird gelernt, indem man es praktiziert. Auf den ersten Blick erscheint diese Feststellung ebenso banal wie die Aussage: Man lernt Fahrradfahren, indem man Fahrrad fährt. Doch bei genauerer Betrachtung ergeben sich hieraus für die Gestaltung von Weiterbildung (zumindest) zwei Konsequenzen: Zum einen ist subjektivierendes Handeln nicht in gleicher Weise wie objektivierbares Wissen und objektivierendes Handeln lehrbar, es ist aber durchaus lernbar. Zum anderen kann dieses Lernen dadurch gefördert werden, dass das subjektivierende Handeln durch Organisation, Arbeitsumgebungen und -gegenstände und Führung ermöglicht und unterstützt wird. In den Blick gerät damit die lernförderliche Gestaltung von Arbeit.
Um die Fähigkeit zu subjektivierendem Handeln zu erwerben, müssen Arbeitsprozesse so gestaltet sein, dass Spiel- und Experimentierräume für ein solches Handeln bestehen. Dinge auszuprobieren und aus Fehlern zu lernen gehört ebenso dazu wie die Akzeptanz und das Vertrauen von Vorgesetzten, dass auch Entscheidungen und Vorgehensweisen, die nicht vollständig rational begründbar und explizierbar sind, «richtig» sind (vgl. Böhle et al. 2014). Was dies in der Praxis bedeutet und in welche Richtung hier weitere Entwicklungen speziell im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu gehen hätten, soll abschließend am Beispiel wissensintensiver Tätigkeiten im technischen Bereich illustriert werden.
Durch die Digitalisierung verstärkt sich u. a. die Vernetzung der eigenen Tätigkeit mit anderen Bereichen. So besteht bspw. bei Ingenieurinnen und Ingenieuren in der technischen Konstruktion eine direkte und indirekte Kooperation und Korrelation mit vorgelagerten Prozessen, technischen Entwicklungen und übergreifenden Planungen sowie nachgelagerten Bereichen der Realisierung technischer Konstruktionen bis hin zu ihrem praktischen Einsatz und ihrer praktischen Nutzung. Durch die Digitalisierung wird es möglich, zunehmend Informationen aus anderen Bereichen zeitnah zu erhalten und auszutauschen. Zugleich erweisen sich aber in der Praxis unmittelbare Erfahrungen «vor Ort» und direkte persönliche Kontakte als unverzichtbar, um die digitalisierten Informationen vollständig zu verstehen und effektiv nutzen zu können. Ingenieurinnen und Ingenieure benötigen «erfahrungsbasiertes Kontextwissen», also ein «Wissen über vor- und nachgelagerte Arbeitsprozesse und -bedingungen sowie das Wissen über hierfür notwendige Kooperationen» (Sauer, Bolte 2018, S. 10), um Informationen mit konkreten Gegebenheiten und Arbeitsbedingungen «vor Ort» zu unterfüttern und um (damit) einschätzen zu können, an welchen Stellen der Produktionskette beziehungsweise des Produktlebenszyklus Unwägbarkeiten auftreten könnten. Erfahrungsbasiertes Kontextwissen bezieht sich auf die Dimensionen Produkt, Prozess, Kultur und Soziales und ist sowohl hinsichtlich des konkreten Arbeitsgegenstands als auch der Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg erfolgskritisch.
Abbildung 2: Erfahrungsbasiertes Kontextwissen; Quelle: Sauer/Bolte 2018
Bei zunehmender digitaler Vernetzung von Arbeit wird dieses erfahrungsbasierte Kontextwissen nicht etwa durch den digitalen Informationsfluss überflüssig, im Gegenteil: Bedeutung und Umfang steigen, da die eigene Arbeit verstärkt in weiterreichende direkte und indirekte Wirkungszusammenhänge eingebunden ist, für die ein Verständnis entwickelt werden muss, um ein sinnvolles Arbeitsergebnis erzeugen zu können. Der Erwerb dieses Wissens erfordert erfahrungsgeleitetes Lernen im Arbeitsprozess, bei dem nicht nur auf vorhandenen Erfahrungen aufgebaut wird, sondern immer wieder neue Erfahrungen gemacht werden können. Dafür müssen Arbeitsaufgaben als Lernaufgaben begriffen werden können (vgl. Buschmeyer et al. 2017), was wiederum eine lernförderliche Gestaltung des Arbeitsprozesses selbst und entsprechende organisationale Rahmenbedingungen (vgl. Sauer et al. 2018) erfordert. Dazu gehört es auch, Lernhemmnisse bei qualifizierten Tätigkeiten abzubauen. In verschiedenen empirischen Studien ließen sich derartige lernhemmende Aspekte identifizieren wie etwa Leistungsverausgabung unter permanentem Zeit- und Leistungsdruck, extensive und belastende Meetingkulturen, wechselseitige Schuldzuweisungen bei Null-Fehler-Toleranz oder auch Mangel an informellem Austausch (vgl. Sauer et al. 2018, S. 22).
Es ist in diesem Sinne nötig, das Nebeneinander von Arbeiten und Lernen, wie es in Ansätzen des arbeitsnahen und arbeitsintegrierten Lernens vorherrscht, durch Ansätze einer unmittelbaren Verbindung zumindest zu ergänzen. Dabei gilt es im Besonderen, die von den Beschäftigten selbst wahrgenommenen Lernbedarfe und Problemstellungen aufzugreifen. Hierfür eignen sich v. a. tendenziell selbstorganisierte Arbeitsweisen wie etwa in agiler Projektarbeit und ergebnisoffenen Innovationsprozessen. Auch diese sind jedoch keine Selbstläufer für den Erwerb erfahrungsbasierten Kontextwissens, sondern müssen hierfür im oben beschriebenen Sinn lernförderlich gestaltet sein, also direkte Kooperation, informellen Austausch und erfahrungsgeleitetes Vorgehen ermöglichen.
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Felix Stalder
«Den Schritt zurück gibt es nicht»
Wie die Kultur der Digitalität das Wissen verändert und was das für die Bildung bedeutet
Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK und Autor des Buchs «Kultur der Digitalität» im Interview mit Irena Sgier.
Abstract
Neben dem omnipräsenten Begriff der Digitalisierung taucht in Fachpublikationen und öffentlichen Debatten zunehmend ein neuer Begriff auf: die Digitalität. Felix Stalder hat den Begriff mit seinem Buch «Kultur der Digitalität» maßgeblich geprägt. Mit seiner kulturwissenschaftlichen Perspektive verschiebt er den Fokus von der Technik zum größeren gesellschaftlichen Kontext und zeigt, dass die grossen Fragen und Herausforderungen der Digitalisierung gar nicht so viel mit Technik, aber sehr viel mit sozialer Bedeutung zu tun haben. Im folgenden Gespräch gehen wir der Frage nach, wie sich das Denken und die Bildung unter den Bedingungen der Digitalität verändern.
Mit dem Begriff der Digitalität setzen Sie der technologielastigen Sicht auf die Digitalisierung eine neue, kulturwissenschaftliche Perspektive entgegen. Was bedeutet «Digitalität» und in welchem Verhältnis steht sie zur Digitalisierung?
Digitalisierung ist ein Prozess, der analoge Medien und darauf basierende Prozesse in digitale Medien überführt. Bei der Digitalisierung handelt es sich also um einen Prozess des Übergangs von einer Bedingung in eine andere. Die Digitalität ist eine solche Bedingung. Sie ist die Bedingung des Lebens und Arbeitens, des Sichorientierens unter der Voraussetzung, dass digitale Medien flächendeckend implementiert sind. Digitale Medien bilden die Infrastruktur einer Kultur der Digitalität, sie prägen die sozialen, kulturellen und politischen Prozesse.
Den Gipfelpunkt der Digitalisierung haben wir vermutlich bereits überschritten. Die digitalen Technologien sind allgegenwärtig und haben die Voraussetzungen, unter denen wir leben und arbeiten, grundlegend verändert. Diese neuen Voraussetzungen würde ich als Digitalität bezeichnen. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Was geschieht unter diesen veränderten Bedingungen?
Bevor wir auf diese veränderten Bedingungen eingehen, möchte ich kurz den zweiten Schlüsselbegriff Ihres Buches aufgreifen: die Kultur. Sie definieren Kultur als Prozesse, in denen soziale Bedeutung verhandelt und realisiert wird. Das ist ein breites Feld. Was untersuchen Sie konkret?
Mich interessiert die Frage: Wie kommen wir zu Wissen über die Welt? Und zwar nicht zu faktischem Wissen, sondern zu normativem Wissen. Woher wissen wir, was richtig und was falsch, gut und schlecht, erstrebenswert oder zu vermeiden ist? Solche Fragen kann das Individuum nicht für sich allein beantworten, da geht es um Aushandlungsprozesse und um geteilte soziale Bedeutung. Ich untersuche die Bedingungen, unter denen solche Aushandlungsprozesse stattfinden. Dabei wird deutlich, dass die soziale Verständigung unter den Bedingungen der Digitalität ganz andere Formen annimmt als wir sie aus klassischen, massenmedial organisierten Strukturen kennen.
Zurück zur Digitalität: In Ihrem Buch betonen Sie, dass im Verlauf der Digitalisierung Neues entsteht. Sie bezeichnen auch die Pluralisierung der Möglichkeiten als Kennzeichen der Digitalität. Wo entstehen denn aus Ihrer Sicht zurzeit die interessantesten neuen Möglichkeiten?
Spannend finde ich unter anderem die Frage: Wer sind die zentralen neuen, wirtschaftlich mächtigen Akteure, die eine grosse Zahl von Nutzern ansprechen? Sie versprechen ihnen Orientierung in einem riesigen, chaotischen Informationsuniversum. Diese Akteure geben den Nutzern die Möglichkeit, grosse Informationsmengen zu verarbeiten und den Umgang mit diesen Informationsmengen produktiv zu gestalten. Produktiv in dem Sinn, dass die Nutzer Informationen nicht nur aufnehmen, sondern auch eigene Meinungen, Haltungen oder Werturteile in einer für andere wahrnehmbaren Weise zum Ausdruck bringen können. Das ist für mich einer der interessantesten neuen Spielräume.
Gab es das nicht immer schon?
Die Möglichkeit, eigene Haltungen gegenüber Informationen und Wissen auszudrücken, gab es natürlich schon immer. Die «Cultural Studies» der 1980er- und 1990er-Jahre haben die Interpretationsleistung des Publikums auch bereits ins Zentrum gestellt. Was wir jetzt erleben, ist aber, dass diese Interpretationsleistung durch die Verbreitung in Netzwerken in einem Ausmaß produktiv gemacht wird, das alles Bisherige übersteigt. Dabei entsteht die Möglichkeit, ungeheuer viele verschiedene Informationsfilter dafür zu generieren, was verschiedene Menschen als interessant erachten und mit ihrem Umfeld teilen wollen. Was wir hier erleben, ist eine starke kulturelle Diversifizierung. Erstmals entsteht auch für marginale oder sehr spezialisierte Interessen eine kritische Masse an Personen, die diese Themenfelder bearbeiten können. Wenn ich das sage, benenne ich strukturelle Möglichkeiten, ich fälle kein Werturteil darüber, wie sinnvoll es ist, allen diesen Interessen eine Bühne zu geben.
Die Möglichkeit der Nutzer, sich im Informationschaos zu orientieren und ihre eigene Meinung zu verbreiten, ist die eine Seite der neuen Spielräume. Die andere Seite ist, dass technologisierte Plattformen entstehen, die über ihre Gestaltung selbst sehr mächtig sind. Zwischen diesen beiden Seiten ist ein zentraler Konflikt entstanden, der ein hohes Potenzial hat, sich in verschiedenste Richtungen zu verschärfen.
Ein Konflikt zwischen Mensch und Technik?
Es ist ein Konflikt zwischen der Ermöglichung der Nutzer, aktiv und selbstbestimmt an der sozialen Verhandlung von Bedeutung teilzunehmen, und den Plattformen, die diese Tätigkeit in schwierig nachvollziehbarer Weise algorithmisch steuern und beeinflussen. Da geht es also um das Verhältnis zwischen denen, die die Infrastruktur durchaus selbstbestimmt nutzen, und denen, die die Bedingungen herstellen, unter denen diese Nutzung stattfindet. Das ist eigentlich ein klassischer politischer Konflikt. Wie er gehandhabt wird, hat entscheidenden Einfluss darauf, unter welchen medialen Bedingungen wir künftig leben werden. Klar ist einzig: Den Schritt zurück gibt es nicht.
Die Zeiten der klassischen Filter, in denen zum Beispiel Zeitungsredaktionen ein Monopol über die Darstellung der Welt besassen, sind vorbei. Dafür ist die Welt zu komplex, zu vielschichtig, sind die Interessenlagen und Weltwahrnehmungen zu unterschiedlich geworden. Wenn eine Redaktion heute entscheiden wollte, was für alle relevant ist, würde eine steigende Zahl von Leuten sagen: «Hey, Moment mal, da kommt meine Welt aber nicht vor!» So entstehen das Bedürfnis und die Möglichkeit, andere Weltzugänge zu schaffen. Das sehe ich grundsätzlich als etwas Positives.
Die klassischen Institutionen und Filter mögen an Definitionsmacht verlieren, aber sie sind immer noch da.
Ja, sie sind noch da, und ich würde sie auch nicht unterschätzen, aber sie sind nur noch einer von vielen Filtern. Die Frage ist, in welchen Fällen die Nutzer welche Filter als die besseren ansehen. Klassische Massenmedien nehmen Themen aus anderen Medien auf, sie holen sie aus ihren Nischen und geben ihnen eine breitere Sichtbarkeit. Oft reagieren sie auch nur auf Informationen aus anderen Quellen. Zu beobachten ist das beispielsweise, wenn Trump die Nachrichtenlandschaft über Twitter steuert. Insofern sind die klassischen Massenmedien nach wie vor ein wichtiger Filter, aber es liegt nicht mehr in ihrer Macht zu definieren, wo die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verläuft. Früher bestimmten die Massenmedien darüber, was im medialen Raum öffentlichkeitsrelevant war, das funktioniert heute nicht mehr.
Sie haben vorhin skizziert, dass die Kultur der Digitalität neue Spielräume eröffnet, indem sie die Möglichkeiten erweitert, individuellen Meinungen und Werturteilen Gehör zu verschaffen. Gehen in dieser Kultur auch bisherige Spielräume verloren?
Eine grosse Herausforderung liegt darin, dass die Kontextualisierung von Handlungen und Äußerungen brüchig wird. Vor der Digitalisierung war klar, dass in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Regeln herrschten und unterschiedliche Äußerungsformen möglich waren. Worüber ich mit meinem Arzt sprach, was ich meinen Freunden erzählte oder in einem beruflichen Meeting sagte, blieb auf den jeweiligen Kontext beschränkt. Innerhalb des einzelnen Kontextes konnte man sich äußern, experimentieren und Rollen ausprobieren, ohne damit rechnen zu müssen, dass dies in anderen Kontexten bekannt wird.
Jetzt erleben wir, dass es sehr einfach geworden ist, Dinge von einem Kontext zum anderen zu transferieren. Was im halbprivaten Raum gesagt wurde, kann plötzlich eine gesamtpolitische Bedeutung erhalten. Ich glaube, da geht sehr viel an Spielraum und Experimentiermöglichkeiten verloren.
Die Möglichkeit, an unterschiedlichen Orten aufzutreten, ist ein Phänomen der Moderne. In den früheren traditionellen, dörflichen Gesellschaften gab es das nicht, dort war immer alles gleichzeitig präsent. Diese Errungenschaft der Moderne, verschiedene Kontexte zu schaffen, die unterschiedlich funktionieren und unterschiedliche Formen von Freiräumen bieten, geht heute teilweise verloren, wenn die verschiedenen Kontexte wieder stärker zusammengeführt werden. Medien wie Facebook fördern diese Entwicklung. Sie befördern beispielsweise die Vorstellung, dass es pathologisch wäre, nicht immer dieselbe Person zu sein. Die gesellschaftliche Erwartung, immer die gleiche, authentische, wahre Person sein zu müssen, halte ich aber für sehr problematisch. Wenn die Möglichkeiten schwinden, in einem klar begrenzten Rahmen mit neuen Denk- und Verhaltensweisen zu experimentieren, gehen wichtige Spielräume verloren.
Wenn gleichzeitig eine Pluralisierung und eine Entgrenzung der verschiedenen Kontexte stattfindet, hat die Freiheit, sich in vielen Kontexten zu bewegen, eigentlich ein doppeltes Gesicht.
Diese Freiheit hat auf jeden Fall ein doppeltes Gesicht. Wenn wir den Prozess der Pluralisierung genauer betrachten, sehen wir, dass zwar neue Nischen entstehen, aber die Forderung besteht, in diesen immer als ganze Person zu erscheinen. Natürlich gibt es voneinander abgegrenzte Nischen und Communitys, aber die Grenze zwischen den Communitys ist instabil und unvorhersehbar geworden. Das ist ein neues Phänomen.
Wie kommt es, dass die unterschiedlichen Räume und Kontexte wieder stärker zusammenwachsen?
Das hat mehrere Gründe. Einerseits hat es etwas mit der medialen Verfasstheit zu tun, damit, dass alles im selben Medium, im Internet stattfindet. Die unterschiedlichsten Tätigkeiten sind immer nur eine Suchanfrage voneinander entfernt. Diese Medien sind dafür gebaut, Dinge von einem Kontext in den anderen zu überführen, was ja durchaus positive Seiten hat. Ein einfaches Beispiel: Sie teilen auf Facebook ein Bild mit fünf Ihrer Freunde, und einer davon teilt das Bild mit seinen 500 Freunden, die es ihrerseits mit ein paar Hundert Freunden teilen. So etwas ist nicht möglich, wenn man zu fünft an einem Tisch sitzt und ein Bild betrachtet.
Ein zweiter Grund hat mit der Veränderung der Arbeitswelt zu tun. Es gibt immer mehr Tätigkeiten, die ein Involviertsein der ganzen Person verlangen, die man also nicht in der Haltung ausüben kann: Ich mache hier nur meinen Job, aber das interessiert mich gar nicht und eigentlich bin ich das gar nicht. Tätigkeiten, die ein Involviertsein der ganzen Person verlangen und versprechen, fordern uns auf, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kontexten aktiv zu durchlöchern.
Hier klingt die Diskussion um die Subjektivierung der Arbeit an, die man auch aus der Arbeitssoziologie kennt. Die Unternehmen erwarten von den Mitarbeitenden zunehmend, dass sie sich mit Haut und Haaren in die Arbeit einbringen. Würden Sie das auch als Ausdruck einer Kultur der Digitalität sehen?
Ich würde sagen, das ist Teil einer größeren historischen Transformation, die durch die Digitalisierung verstärkt wird. Die Rolle von Technologie im sozialen Prozess ist eine alte, ungelöste Frage. Verbreitet ist die Optik, wonach die Technologie in einen bestehenden Prozess einfällt und den Prozess verändert. So verläuft die Entwicklung aber nicht. In meinem Buch «Kultur der Digitalität» versuche ich aufzuzeigen, dass soziale Prozesse aus ganz unterschiedlichen Gründen und an vielen verschiedenen Stellen in Bewegung geraten und neue Möglichkeiten oder Zwänge schaffen. Ein solcher Prozess war eine Veränderung der Arbeitswelt, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und zunächst nichts mit Computern, aber sehr viel mit der steigenden Komplexität der Arbeitsabläufe zu tun hatte.
Damals wurde beispielsweise die Fabrik zum Forschungsstandort und die kommunikativen Tätigkeiten nahmen zu. Sie fanden zwar analog statt, stellten aber andere Anforderungen an die Arbeitssubjekte und schufen damit die Voraussetzungen für die Suche nach neuen Infrastrukturen. Diese Infrastrukturen wurden dann so entwickelt, dass sie jene veränderten Anforderungen und Prozesse unterstützen konnten. Sobald sie eingeführt werden, fördern die Infrastrukturen also die Ausbreitung von Prozessen nach verändertem Muster und erhöhen damit den Veränderungsdruck weiter.
Technologien können diese Transformationen beschleunigen, sind aber nicht deren Auslöser. Zunächst muss es eine Vorstellung davon geben, etwas verändern zu wollen. Außerdem braucht es einen gewissen Druck, die Mühe der Veränderung auf sich zu nehmen. In diesem Prozess verändert sich das Spielfeld nicht nur für Akteure, die eine Veränderung anstreben, sondern auch für alle anderen. Sobald irgendwo ein neues Organisations- und Arbeitsparadigma erfolgreich eingeführt ist, steigt der Veränderungsdruck auf alle Akteure.
Dass überhaupt ein Raum für Veränderungen und eine gesellschaftliche Notwendigkeit für Investitionen geschaffen wird, hat also mit der vorhergehenden Dynamik in der Gesellschaft zu tun. Dieser Prozess wird nicht durch die Technik ausgelöst.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Bildung? Wo entstehen in der Kultur der Digitalität Aufgaben und Herausforderungen für das Lernen von Erwachsenen?
Um diese Frage zu beantworten, muss man einen Schritt zurücktreten. Die Digitalisierung als Übergang und die Digitalität als Bedingung zeichnen sich durch eine enorm hohe Komplexität aus, was damit zusammenhängt, dass die einfacheren, linearen, monokausalen Erklärungsmuster nicht mehr greifen. Was das bedeutet, sehen wir beispielsweise im ökologischen Bereich. Wir leben heute in einer hochkomplexen Welt und bemühen uns, unsere gesellschaftlichen Institutionen dieser Komplexität anzupassen. Das hat sehr direkte Folgen für die Bildung. Eine der für die Struktur des Wissens zentralen Folgen betrifft die Art und Weise, wie wir etwas über die Welt erfahren und dieses Wissen zugänglich machen.