Kitabı oku: «Digitalisierung und Lernen (E-Book)», sayfa 5
Die klassische Methode der Wissenschaft und des kritischen Diskurses, Wissen zu generieren, beruht auf Distanz. Ich brauche eine gewisse Distanz zum Phänomen, um darüber reflektieren zu können. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein Phänomen aus der Distanz besser überschau- und sichtbar ist als aus der Nähe. Distanz schafft also eine gewisse Freiheit, sie schafft die Möglichkeit einer eigenständigen, kritischen Reflexion. Das funktioniert aber nur, wenn der Gegenstand, den man aus der Distanz betrachtet, bezüglich Größe und interner Komplexität gewisse Grenzen hat. Nun bekommen wir es aber zunehmend mit Phänomenen zu tun, die enorm gross und weitverzweigt, also sehr komplex und dynamisch sind. Da ist es kaum mehr möglich, die Distanz zu gewinnen, aus der man ein Phänomen unbeteiligt beurteilen kann.
Sehen Sie Ansätze dafür, wie man Wissen generieren und kritisch reflektieren kann, wenn der Blick aus der Distanz nicht mehr möglich ist?
Die Gegenbewegung dazu sind zunehmend partielle Sichten auf Phänomene, in die man selbst involviert ist. Diese Entwicklung wirft Fragen nach der eigenen Position auf: Von welchem Ort, von welcher Position aus spreche ich? Solange man sich auf die klassische Idee der wissenschaftlichen Distanz berufen konnte, gab es darauf eine einfache Antwort: Ich spreche von der Position aus, aus der man einen adäquaten Blick auf das Problem hat. Heute bleibt einem statt dieser klassischen, kritischen Distanz oft nur die Möglichkeit, eine von mehreren möglichen Positionen auf ein Phänomen zu artikulieren und sich dessen bewusst zu sein, dass die eigene Position nicht notwendigerweise adäquater ist als irgendeine andere. Die Erfahrung eines Phänomens speist sich aus dem Verhältnis der verschiedenen Positionen, die alle Teil des Netzwerks sind, das sie zu erfassen versuchen. Die Position der Nähe hat gewisse Vorteile. Aus der Nähe kann man mit Dynamik und Geschwindigkeit wesentlich besser umgehen als aus der Distanz, nicht zuletzt, weil wir Technologien haben, die uns dabei unterstützen.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die traditionellen Repräsentationsformen brüchig werden. Diese Entwicklung steht in unmittelbarem Bezug zur Frage, was es heißt, etwas über die Welt zu wissen und dieses Wissen zu vermitteln. Oder besser: was es heißt, Wissensfähigkeit zu vermitteln. Man sieht das beispielsweise in Diskussionen darüber, was Bildung leisten soll. Dabei gibt es grob gesagt zwei Vorstellungen. Die eine stellt die Persönlichkeitsbildung ins Zentrum und konzentriert sich auf kritisches, selbstbestimmtes Denken und Handeln. Die andere begreift Bildung im Sinn von Ausbildung und zielt darauf, nützliches Wissen zu vermitteln. Während das vorwiegend auf die Arbeitswelt ausgerichtete nützliche Wissen einen hohen Stellenwert hat, befindet sich die kritische Bildung in einer wesentlich schwierigeren Situation. Traditionellerweise war die kritische Bildung an einen Bildungskanon gebunden; mit dem Verschwinden dieses Kanons wird sie in ihrer Positionalität selber fragwürdig.
In der Bildung ist also ein weiterer klassischer Filter am Verschwinden?
Ja, das kann man so sagen. Auf der kulturellen Ebene oder auf der Ebene des Wissens erleben wir heute eine tiefe, fundamentale Krise der Repräsentation. Wie stellen wir etwas dar? Wie gelangen wir zu Wissen? Diese Krise ist allgegenwärtig. Man sieht sie auch im Journalismus, wo beispielsweise Erlebnisberichte eine enorme Aufwertung erfahren. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht hat man der Position des «Ich war dabei und habe es gesehen» immer misstraut. Was haben die Leute tatsächlich gesehen? Wie interpretieren sie das, was sie gesehen haben? In den Sozialwissenschaften ging es immer darum, über die Beschränktheit des individuellen Blicks hinauszugehen und Wissen in irgendeiner Weise intersubjektiv oder objektiv zu erfassen.
Was wir heute erleben, ist eine grundlegende Veränderung der Art, wie Wissen generiert und dargestellt wird. Die Digitalität – verstanden als von digitalen Technologien geprägte Bedingung, wie wir etwas über die Welt erfahren und wie wir mit der Welt verbunden sind – erlaubt uns, andere Beziehungen zu knüpfen, neue Muster der Darstellung zu suchen und den bisherigen Mustern zu misstrauen. Die Dinge kommen oft wesentlich direkter und weniger oder anders gefiltert auf uns zu als früher. Das ist eine nicht nur positive Entwicklung, wie ich auch bei meinen Studenten beobachten kann. Zurzeit entsteht eine neue Form der unkritischen Kritik, die sich beispielsweise in der Ansicht zeigt, die Medien würden alle mit irgendwelchen Agenten zusammenarbeiten.
Ein grundlegender Verdacht gegenüber etablierten Institutionen?
Ja, eine Form des pauschalisierten Verdachts. Die kritische Forschung zeigt, dass es immer schon Misstrauen gegenüber den Institutionen gab, aber diese Form des Pauschalverdachts geht darüber hinaus. Ähnlich gelagert wie das Misstrauen gegenüber den etablierten Medien ist die verbreitete Vorstellung, dass die repräsentative Demokratie die Bürger nicht mehr repräsentiere und die Politik von einer politischen Klasse oder von Lobbyisten gemacht werde. Diese Kritik ist ja nicht einfach falsch. Aber wenn sie sich zu einem pauschalen Konsens verdichtet, haben wir es, glaube ich, mit einer Krise der Repräsentationsformen zu tun. Entstehen konnte diese Krise, weil die Darstellungs-, Steuerungs- und Wissensformen, die uns zur Verfügung stehen, den komplexen Phänomenen, auf die sie sich richten, nicht mehr gerecht werden. Hinzu kommt, dass vierzig Jahre Dekonstruktion Begriffe wie Objektivität und Neutralität fast unmöglich gemacht haben.
Inwiefern erfasst diese Krise der Repräsentation auch die Bildungsinstitutionen?
Die Bildungsinstitutionen stehen mittendrin in dieser Krise und werden wie alle übrigen Institutionen von der ganzen Widersprüchlichkeit dieser Krise erfasst. Wir erleben heute einen unglaublichen Boom von Bildung, Weiterbildung und lebenslangem Lernen. Überall werden neue Studiengänge eingerichtet. Darin wird nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Begehren nach gesichertem Wissen und gesicherten Fähigkeiten sichtbar. Hier an der Kunsthochschule stehen wir im Spektrum dessen, was unterrichtet wird, auf der experimentellen Seite, aber auch hier spürt man die Erwartung der Studenten: Ich will mir brauchbares Wissen aneignen und ich will am Ende wissen, was ich weiß.
Geht es bei diesem Wissensdurst denn primär um ein Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit?
Es geht darum, sich ein Gebiet abzustecken und es so zu bearbeiten, dass sich das Gefühl einstellt: Ich weiß etwas, ich habe das Phänomen erfasst. Das ist die eine Seite des zunehmenden Verlangens nach Wissen und Bildung. Auf der anderen Seite steht eine starke Idealisierung des «Do-it-Yourself»: Bring es dir selber bei, wozu brauchen wir noch Bildungsinstitutionen, die ohnehin fünf Jahre hinterherhinken? Die wahren Helden sind in dieser Optik Schulabbrecher, die ihrer eigenen Passion gefolgt sind. Erzählungen dieser Art gibt es sehr viele. Und ich habe den Eindruck, dass sich diese Ambivalenz auch auf die Bildungsinstitutionen richtet. Einerseits kann Bildung nicht mehr im klassischen Sinn die Karrierewege vorgeben; eine akademische Ausbildung ist keine Garantie für einen guten Job. Andererseits kann man sich die Fähigkeit, mit komplexen Situationen umzugehen, auch nicht einfach mal schnell selber beibringen. Es gibt also sicher ein Bedürfnis nach neuen Angeboten und neuen Formen des Lernens, das an die Bildungsinstitutionen herangetragen wird.
Kann man daraus ableiten, dass Sie den Umgang mit Komplexität als Schlüsselproblem der Bildung in einer Kultur der Digitalität sehen?
Das würde ich so sehen, ja. Mit steigender Komplexität werden die Dinge so vielschichtig und vernetzt, dass der Charakter des einzelnen Dings sehr wandelbar wird. Je nachdem, in welchem Zusammenhang die Dinge stehen, kann es sein, dass sie kaum mehr als einzelne Phänomene erfassbar sind. Damit wird auch die Positionalität des Betrachters extrem wichtig, weil sie ja an der Herstellung der Zusammenhänge beteiligt ist. Die Dinge sehen aus verschiedenen Orten und Blickwinkeln unterschiedlich aus, was dem Ganzen eine zusätzliche Dynamisierung verleiht und die Komplexität weiter erhöht. Unter den Bedingungen der Digitalität kommt eine zeitliche Komponente hinzu, weil die auf digitalen Technologien beruhenden Infrastrukturen dazu geschaffen sind, die Abläufe zu dynamisieren. Die Geschwindigkeit, mit der Facebook seine Strukturen bauen kann, ist wesentlich höher als die Geschwindigkeit, mit der Fabrikabläufe bei BMW umgebaut werden, wobei auch Letztere bereits eine erhebliche Beschleunigung erfahren haben.
Natürlich sind diese Abläufe auch eine Frage der Ebene. Auch Facebook verfolgt mittel- und langfristige Investitionsprogramme, aber auf der Ebene der Datencenter ist die Flexibilität hoch, und die nächsttiefere Ebene, die User-Ebene, auf der ich Freunde hinzufügen und Inhalte lesen kann, ist nochmals flexibler. Wir haben Infrastrukturen, die diese Flexibilität und Dynamisierung sowie die Komplexität unterstützen, womit sie jene Akteure privilegieren, die damit umgehen können. Dabei geraten diejenigen, die mit der Komplexität nicht umgehen können, unter enormen Druck, diese Lernkurve ebenfalls zu nehmen. Die Komplexität wird weiter steigen, was ich trotz dieser Problematik als etwas grundsätzlich Positives sehe. Insofern: Ja, aus meiner Sicht spielt die Komplexität in der Kultur der Digitalität eine Schlüsselrolle.
Wenn die Komplexität weiter steigt, wächst auch die Macht jener, die damit umgehen können. Ist dieser Machtzuwachs nicht problematisch?
Der Machtzuwachs ist tatsächlich enorm und kann aus demokratischer Perspektive problematisch sein. Aber die Tatsache, dass wir als Kollektiv, als Gesellschaft die Möglichkeiten erhalten, komplexere Phänomene zu verstehen und in sie einzugreifen, halte ich für eine grundsätzlich positive Entwicklung. Nehmen Sie beispielsweise den Umgang mit Ressourcen: Wir können uns nicht länger auf den Standpunkt stellen, dass die Dinge aus dem Nichts kommen und nach Gebrauch wieder spurlos im Nichts verschwinden. Diese Haltung haben wir in den letzten zweihundert Jahren vertreten, heute brauchen wir wesentlich komplexere Vorstellungen von Kreisläufen und Zusammenhängen, um den Umgang mit Ressourcen zu verstehen und verändern zu können.
Für die Gesellschaft und die Institutionen ist es eine enorme Herausforderung, komplexere Vorstellungen zu entwickeln. Diese Herausforderung muss auf vielen Ebenen gleichzeitig angegangen werden, auch auf epistemologischer Ebene: Wie wissen wir überhaupt etwas über die Welt? Und wie vermitteln wir dieses Wissen? Wie generieren wir es so, dass es für andere Menschen zugänglich wird?
Mich würde interessieren, was in diesem Prozess mit den Inhalten geschieht. In Ihrem Buch gibt es Hinweise auf eine Entwertung der Inhalte, beispielsweise im Zusammenhang mit Social Media. Besteht diese Gefahr auch in der Bildung? – In der Weiterbildung wird beispielsweise darüber diskutiert, ob man überhaupt noch Wissen vermitteln oder den Teilnehmenden nur noch den Umgang mit Wissen beibringen sollte.
Die Entwertung von Inhalten sehe ich durchaus als Gefahr, und zwar aus mehreren Gründen. Der eine liegt in der Halbwertszeit gewisser Inhalte. So gibt es beispielsweise die Haltung: Weil dieses Wissen so schnell veraltet, können wir es gar nicht mehr vermitteln, also beschränken wir uns besser darauf, den Umgang damit zu lehren. Der andere Grund liegt im enormen Quantifizierungsschub, den wir zurzeit im Zusammenhang mit der Digitalisierung erleben. Dazu gehört beispielsweise die Quantifizierung der eigenen Freunde – eine Vorstellung, die vor der Erfindung von Facebook undenkbar gewesen wäre, außer für Teenager, die immer schon wussten, wie viele Freunde sie hatten. Für Erwachsene besass Freundschaft viele Graustufen, aber keine quantitative Dimension. Wenn sie nun beginnen, auf Facebook Freunde und Likes zu sammeln und zu zählen, besteht die Gefahr, dass der Inhalt der Mitteilungen an Bedeutung verliert. So können die neuen Systeme bei sehr heterogenen Phänomenen eine gewisse Übersichtlichkeit schaffen und zugleich die Inhalte entwerten, wenn die Quantität so ins Zentrum rückt, dass die Inhalte zweitrangig werden.
In Bezug auf die Bildung stehen wir vor der Frage: Was braucht man, um mit Wissen umgehen zu können? Dazu benötigen wir sehr viel mehr als die Fähigkeit zu googeln und die Qualität eines «How-to»-YouTube-Videos einzuschätzen. Ich bin überzeugt, dass wir vor allem Denkstrukturen brauchen, die uns erlauben, Zusammenhänge zu generieren und einzuschätzen. Dazu ist die Auseinandersetzung mit konkreten Ideen und Denkgebäuden erforderlich, das geht nicht ohne Inhalte. Die Tendenz zur Entwertung der Inhalte sehe ich daher als sehr problematisch. Diese Entwertung geht einher mit einer ökonomischen Entwertung und mit einer Entwertung der Geschwindigkeit. Zehn Bücher kann ich lesen, tausend Bücher nicht. Bei größeren Mengen an Wissen brauchen wir andere Zugänge als die klassische «Close-Reading»-Inhaltsanalyse. Die Voraussetzung, mit diesem Wissen umgehen zu können, hat mit einer Denkfähigkeit und mit der Strukturiertheit des Denkens zu tun. Diese Fähigkeit kann man nicht unabhängig von Inhalten, als blosse praktische Methode vermitteln.
Wie muss man sich diese Denkfähigkeit vorstellen? Und wie kann man sie fördern?
Das ist eine schwierige Frage. Darauf kann ich im Moment nur eine vorläufige, spekulative Antwort geben. Als Reaktion auf die steigende Komplexität beobachte ich oft einen Rückzug in die Subjektivität. Oft werden Aussagen und Informationen ohne weitere Differenzierung als Meinungen eingestuft und verschiedene Meinungen als gleichwertig nebeneinander gestellt. Die Herausforderung im Umgang mit dieser Problematik besteht darin, die Positionalität – dieses «Wir reden über das Gleiche, aber von verschiedenen Orten oder Positionen aus» – ernst zu nehmen und ihr ein Gewicht zu geben, ohne in die absolute Subjektivierung zu verfallen. Die Frage ist: Wie verbindet man die Vorstellung, dass unterschiedliche Personen Dinge unterschiedlich sehen können, mit der Tatsache, dass manche Elemente dieser Positionen nicht subjektiv sind? Die Dinge, über die wir reden, existieren ja unabhängig davon, ob ich etwas darüber sage oder nicht.
Ich vermute, dass die Denkfähigkeit, die wir in einer Kultur der Digitalität brauchen, etwas mit der Verbindung zwischen Positionalität, Subjektivität und Intersubjektivität zu tun hat. Wie können wir erfassen, dass etwas vielgestaltig, aber nicht beliebig ist? Die Lösung liegt weder in der klassischen, kritischen Distanz noch im Rückzug auf die Unvergleichbarkeiten des extremen Relativismus.
In Ihrem Buch thematisieren Sie in Bezug auf den Umgang mit immer komplexerem Wissen auch die Möglichkeit einer permanenten Überforderung: Der Einzelne muss ständig sortieren, einordnen und bewerten, verfügt aber oft nicht über die Kompetenzen, die er dafür benötigen würde.
Es gibt tatsächlich Anzeichen von Überforderung, aber die Überforderung ist etwas Relatives. Es ist ja nicht so, dass die Überforderung bei tausend Textzeilen oder fünfhundert Bildern und siebzig Nachrichten pro Tag beginnt. Wäre es so, wäre man vielleicht vor hundert Jahren auch schon überfordert gewesen. Überforderung ist eine Frage des Verhältnisses zwischen der Menge und Komplexität der Informationen und den Mitteln, die man zur Verfügung hat, um damit umzugehen.
Man kann dies auch in der historischen Entwicklung der Wissenschaften sehen: Die biologischen Klassifizierungssysteme entstanden beispielsweise zu einem Zeitpunkt, als plötzlich enorm viele neue Pflanzen zu erfassen waren und dieses Wissen über das Universum des Lokalen hinaus verfügbar sein musste; dass der Bauer oder die dörfliche Bevölkerung die Pflanzen kannten, reichte nicht mehr aus. So begann man, Ordnungssysteme und Stammbäume zu schaffen, die jedem Ding einen eindeutigen, genau definierten Platz zuwiesen. Damit wurde eine enorme Menge an Dingen, die ein traditionelles, vorwissenschaftliches, intimes und direktes Wissen ermöglicht hatten, in abstraktes Wissen überführt. Man schuf eine Vorstellung des Waldes, verwies aber den einzelnen, konkreten Baum in die Anonymität. Beim lokalen Wissen verhält es sich genau umgekehrt. Dort fehlt es an Wissen über das Ganze, dafür hat man ein sehr intimes, direktes Verhältnis zu den einzelnen Dingen.
Heute stehen wir wieder an einem ähnlichen Punkt. Die Menge und Komplexität des zu Erfassenden ist enorm gestiegen, uns fehlen aber teilweise die Werkzeuge und die mentalen, subjektiven Haltungen, um damit umzugehen. Für unsere gewohnte Art, Dinge zu ordnen, ist die Menge an Dingen einfach zu gross geworden. Daraus entsteht ein Gefühl der Überforderung, das aber wie gesagt relativ und nicht bloss eine Frage der Quantität ist.
Als Kulturwissenschaftler analysieren Sie diese komplexe Entwicklung aus der Distanz. Sie unterrichten aber auch an einer Bildungsinstitution und sind folglich selbst mit den Auswirkungen der Digitalisierung in der Bildungspraxis konfrontiert. Wo begegnet Ihnen die Digitalität in Ihrem Alltag als Dozent?
Digitalität begegnet mir vor allem dort, wo ich es mit Gebieten zu tun habe, auf denen meine Studenten weit mehr wissen als ich. Die Komplexität der Gegenstände und Felder ist so stark gestiegen, dass es illusorisch wäre zu meinen, ich könnte über das ganze Fachwissen verfügen. Tatsächlich wissen die Studenten vieles, was ich nicht weiß. Sie können sich wesentlich tiefer in ein spezifisches Thema einarbeiten als ich, der damit beschäftigt bin, einen Überblick zu erstellen und den Studenten die Mittel an die Hand zu geben, mit ihrem spezifischen Wissen sinnvoll umzugehen.
Meine Aufgabe als Dozent besteht unter anderem darin, das dekontextualisierte Wissen, das die Studenten aus Suchmaschinen beziehen, in einen reflektierten, größeren Zusammenhang einzubetten. Woher kommt das Wissen? Wohin geht es? Warum taucht es in diesem oder jenem Kontext auf? Das ist eine meiner zentralen Aufgaben und eigentlich das, was mich am Unterrichten am meisten interessiert. Es geht nicht primär darum, meine Fähigkeiten oder mein Wissen jemandem zu vermitteln, der dieses Wissen nicht hat. Natürlich gehört auch das zu meinen Aufgaben als Dozent, es steht für mich aber nicht im Vordergrund.
Zur Digitalität gehören auch die digitalen Medien. Welche Rolle spielen diese für Sie als Dozent?
Die digitalen Technologien sind für mich zweitrangig, dazu habe ich ein eher instrumentelles Verhältnis. Die wichtigste Folge der Digitalität ist für mich die Veränderung des Verhältnisses zwischen mir und den Studenten sowie zwischen den Studenten untereinander. Die digitalen Technologien spielen dabei eine Rolle, weil sie die Formen der Zusammenarbeit beeinflussen. Konkret ist das in meinem Alltag als Dozent zum Beispiel der Fall, wenn die Studenten das, was ich erzähle, auf Wikipedia nachprüfen und mir sagen: Moment mal, du hast da ein falsches Datum genannt.
Das muss man als Dozent aushalten können.
Ja, aber damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich bin froh, wenn sie meine Aussagen überprüfen, statt ihre E-Mails zu checken. Die technologische Komponente ist überall dort interessant, wo sie die sozialen Verhältnisse verändert.
Die Erwachsenenbildung hat sich seit ihren Anfängen immer auch für die Veränderung sozialer Verhältnisse interessiert. Zu ihrem Selbstverständnis gehört der Anspruch, die Selbstbestimmung und die Mitbestimmung der Einzelnen in der Gesellschaft zu fördern. Wie gut stehen die Chancen, die Selbstbestimmung unter den Bedingungen der Digitalität zu fördern?
Diese Frage spielt auch hier an der Kunsthochschule eine wichtige Rolle, weil Autonomie und Kunst eng miteinander verknüpft sind. Künstler werden auch als Figuren gesehen, die sich ihre Welt selber schaffen. Den individualisierten Autonomiebegriff halte ich aber nicht mehr für adäquat. Autonomie bedeutet heute, über die eigene Verortetheit bestimmen zu können. Es geht nicht darum, unabhängig zu sein. Es geht darum, die eigenen Abhängigkeiten, die eigene Involviertheit selbst bestimmen und verändern zu können. Diese Fähigkeit kann man erlernen. Insofern stehen die Chancen, unter den Bedingungen der Digitalität die Selbstbestimmung zu fördern, aus meiner Sicht nicht schlecht, ich bin durchaus optimistisch oder zumindest positiv gestimmt.
Wenn Sie Selbstbestimmung in einer Kultur der Digitalität als Fähigkeit definieren, über die eigenen Abhängigkeiten zu bestimmen, drängt sich mit Foucault die Frage auf: Gibt es ein Außerhalb der Digitalität?
Diese Frage würde ich mit Nein beantworten. Ein Außen gibt es nicht, aber es gibt verschiedene Innen. Wenn man von Autonomie spricht, geht es auch um die Frage: Welches Innen will ich? Die Antworten können sehr unterschiedlich ausfallen, denn die Breite der Innenpositionen hat zugenommen. Gesellschaftlich gesehen, aber auch in Bezug auf die Bildung, ist es wichtig, die Freiheit zu fördern, diese Positionen und die Art, wie sie sich miteinander verbinden, zu verändern. Diese Freiheit nicht nur zu bewahren, sondern auszubauen, sehe ich als zentrale demokratische Notwendigkeit.
Und wie steht es mit der Mitbestimmungsfähigkeit, mit den Partizipationsmöglichkeiten?
Heute entwickeln sich viele Partizipationsmöglichkeiten, die den Kern der Strukturen nicht mehr erreichen. Ich stelle das auch hier an der Hochschule fest, wo gewisse strukturelle Entscheidungen merkwürdigerweise an den Partizipationsmöglichkeiten, die hier zahlreich vorhanden sind, vorbei getroffen werden. Gegenüber der Forderung nach mehr Partizipation bin ich deshalb kritisch eingestellt. Was wir brauchen, ist eine Partizipation, die ihre eigenen Bedingungen des Partizipierens bestimmen kann.
Zum Schluss würde ich gern einen Blick in die Zukunft werfen. Wenn Sie die Aufgabe hätten, die Bildung der Zukunft zu gestalten: Wo würden Sie ansetzen?
Das ist eine sehr generelle Frage.
Wie würden Sie mit den Bildungsinstitutionen umgehen? Würden Sie sie umgestalten – oder vielleicht ganz abschaffen?
Abschaffen würde ich die Institutionen auf keinen Fall. Ich bin überzeugt, dass Bildung nach wie vor die Aufgabe hat, soziale Mobilität zu ermöglichen. Eine gute öffentliche Bildung trägt entscheidend dazu bei, eine harte Stratifizierung der Gesellschaft abzumildern. Dazu müssen wir in der Bildung einerseits die Fähigkeit vermitteln, mit standardisierten Situationen umzugehen, und andererseits die Fähigkeit, das individuell Spezifische zu artikulieren. Es reicht nicht, einen Partizipations-Grundkurs anzubieten und zu meinen, damit hätten alle das Rüstzeug, um an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen.
Um die Komplexität bewältigen zu können, braucht es beides, eine gewisse Standardisierung – in dem Sinn, dass wir uns mit Situationen befassen, die auch von anderen geteilt werden – und die Auseinandersetzung mit dem Individuellen, Spezifischen. Die Individualisierung sollte allerdings auch ihre Grenzen haben. Wie man zurzeit in Bezug auf die digitalen Medien sieht, kann Individualisierung so weit gehen, dass sich Leute in ihrer eigenen Welt einsperren und kaum mehr eine Vorstellung davon haben, in welchen Welten sich andere bewegen.
Um nochmals auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Warum ist die Digitalität plötzlich so viel populärer als die Digitalisierung?
Vielleicht liegt es daran, dass inzwischen viele Bereiche digitalisiert sind und man sich fragt: Was jetzt? Mit der Digitalisierung sind die Probleme nicht gelöst, sie fangen damit erst an. Außerdem gilt hier, was wir aus der Geschichte anderer Technologien kennen: Technologien werden sozial interessant, wenn sie technologisch langweilig werden.
Das ist vielleicht das Stadium, in dem sich die Weiterbildung gerade befindet. Wir haben Weiterbildungsorganisationen zur Digitalisierung befragt und festgestellt, dass viele Organisationen die Digitalisierung als strategische Priorität einstufen, obwohl 90 % primär auf Präsenzunterricht setzen und die Hälfte davon sich noch kaum mit dem Einsatz und dem pädagogischen Nutzen digitaler Technologien befasst hat.
Im Hochschulbereich sieht es ähnlich aus. Den Einsatz digitaler Technologien sollte man aber nicht aus einer Investitionslogik heraus denken – nach dem Motto «Wir haben Hunderttausende in die Infrastruktur investiert, also nutzt sie!» –, sondern aus der Logik heraus, welche neuen Formen des gemeinsamen Lernens sie ermöglichen.
Entscheidend ist für mich nicht, ob man Distanz- oder Präsenzunterricht durchführt und ob die Studenten ein Skript zuhause bearbeiten, meine Vorlesung auf der Plattform hören oder im Hörsaal sitzen. Interessanter ist die Frage, wie man andere Arten des gemeinsamen Lernens mobilisiert. Je höher die Bildungsstufe, desto leichter geht das, aber im Grunde kann man schon in der Volksschule fragen: Wie kann man das Wissen, das die Schüler mitbringen, in einer produktiven Form mobilisieren, zum Beispiel das Wissen um einen anderen Kulturkreis? Wo dieser Unterricht stattfindet, ist zweitranging. An der Kunsthochschule haben wir nicht übermäßig viel Präsenzzeit, und diese wird weiter abnehmen. Ich finde Präsenzunterricht aber durchaus wichtig, um einen gemeinsamen sozialen Raum zu schaffen.
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