Kitabı oku: «Die Stimme des Atems», sayfa 6

Yazı tipi:

Kalligraphie

Herr Kuhn, unser Drittklasslehrer, ist Präsident der Eidgenössischen Schriftkommission; in der letzten Stunde des ersten Schultags sagt er: Passt mal auf, wie schön Schreiben sein kann.

Was wir zu sehen bekommen, übersteigt jede Vorstellung; ich bin beglückt, überwältigt, eingeschüchtert, sprachlos vor Bewunderung und Ehrfurcht. Herr Kuhn zaubert die Wandtafel voll mit Schriften: kaiserlich daherschreitende Antiqua, mager tanzende Grotesk, deutsche und französische Schreibschrift, gotische Schwabacher, gotische Kurrend, Sütterlinschrift, Fraktur, gotische Zierinitialen. Ich sehe das grosse A, das F, das O, das ebenso bauchige wie verschnörkelte G unter seiner Hand hervorblühen und weiss: Das ist der Buchstabenhimmel. Wie nur bewahrt Herr Kuhn all die Buchstabenblumen voller Blätter, Schleifen und Häkchen in seinem Gedächtnis? Und ich verehre und liebe ihn für das Wunder an der schwarzen Schiefertafel, daran er uns teilhaben lässt. Nicht ein einziges Mal, ob er sie mit der Spitze oder stumpf oder gar der Länge nach ansetzt, fiept und knirscht die Kreide in seinen Fingern oder kreischt, als müsse sie den Geist aufgeben; sie hat sich in seiner Hand in den weichen Pinsel eines Malers verwandelt.

Man staune: Lehrer Kuhn hat trotz seiner kalligraphischen Höhenflüge unsern in Tolggenpanik verkrampften Kinderhänden eine natürliche Schreibhaltung beigebracht. Das sei ganz einfach, meinte er, Angst brauchten wir keine zu haben, ein Tolggen sei kein Landesunglück, für den habe er einen Spezialradiergummi. Er gab uns den neuen Federhalter, bog unsre Finger zurecht, mahnte zur Lockerheit und führte uns einige Male die Hand.

Wenn nur der neue Federhalter nicht die sogenannte gute Form besessen hätte, glatt, walzenförmig, naturlackiert, auf halber Länge stumpf abgesägt! Ich habe mich nie an seine Missgestalt gewöhnt.

→Tinte

Zofinger Tagblatt, 26. Oktober 1946
Eine neue Schulschrift

Verschiedene am guten Schreibunterricht interessierte Fachverbände des praktischen Lebens waren gegen die jetzige Schulschrift Sturm gelaufen. Für die einen war sie zu schematisch, für die andern unleserlich, den meisten aber schien sie unpraktisch, da ihre vielen Ecken ein flüssiges Schreiben verunmöglichten. Und da das Tempo auch heute eine so grosse Rolle spielt, verzerrten sich die Schriftformen beim schnellen Schreiben oft. Wo lag der Fehler bei der jetzt noch gelehrten Schulschrift?

Diese Frage zu lösen, setzte sich eine Studienkommission zum Ziele. Diesmal ging man anders als früher vor. Mit den Vertretern des beruflichen und praktischen Lebens besprachen sich die Fachleute des Schreibunterrichtes. Und ein Kaufmann gar warʼs, der den Vorsitz der Arbeitsgruppe führte. Der Sekretär des Schweizerischen Kaufmännischen Vereins, ein Vertreter des eidgenössischen Import- und Grosshandels, des Schweizerischen Stenographenvereins und die kantonalen Erziehungsdirektionen setzten sich in gemeinsamer Arbeit mit dieser Frage auseinander. Nun liegt das Resultat der Besprechungen vor.

Das Hauptergebnis: Die Eckwende wird aufgegeben. Die eckigen Buchstaben werden also durch schreibflüssigere Formen ersetzt. Und da es nun die Praxis und das praktische Leben selbst ist, das die Forderungen stellte und das mit den Fachleuchten die neue Schrift ausarbeitete, ist zu hoffen, dass der Schriftenkrieg nun endgültig abgeblasen werden kann.

Kurt Schenk

Er war ein magerer mittelgrosser Junge mit dunklem Haar, oder vielleicht schien es mir nur so, da es ein bleiches Gesicht verschattete. In der 3. Klasse, es war Winter, Schnee lag, fehlte er eines Morgens. Keine Sorge, Kurt war von der zähen, herausfordernden Sorte, das Gegenteil von mir; wir pflegten kaum Umgang. Im Lauf des Vormittags traf die Nachricht ein, er sei beim Schlitteln verunfallt. Tot.

Er hatte im engen Mühletal gewohnt, in einem Kosthaus der Fabrik, wo sein Vater arbeitete. Er war am schulfreien Nachmittag des Vortags einen der abschüssigen Holzerwege, die in den Wald hinaufführen, mit dem Schlitten Kurve um Kurve hinuntergerast – und frontal in ein Automobil, das die Talstrasse herauffuhr. Schädelzertrümmerung. Zwei Jahre nach dem Krieg waren Motorfahrzeuge auf abgelegeneren Strassen noch ein Ereignis; der Automobilist hatte über den kleinen Pass der Linden nach Uerkheim fahren wollen. Die ganze Klasse nahm an der Beerdigung teil; es reichte für ein Holzkreuz mit Namen, Daten und einem wahren Spruch: «Zu früh für uns». Sein Grab dürfte seit fünfzehn, zwanzig Jahren aufgehoben und umgewälzt sein.

→Strohkappen →Eisweiher →Schlitteln →Tödlein

Züchtigung

Ich habe nie lernen müssen, mich zu ducken, meine Eltern haben nicht geschlagen. Ich erinnere mich an eine einzige Drohgebärde des Vaters, ein Ausholen mit dem Arm; sie hat mir unauslöschlichen Eindruck gemacht. In der Schule bin ich nur Zuschauer bei Tatzen, Ohrläppchenreissen, Den-Kopf-auf-die-Bank-Schlagen, Ohrfeigen, Tschuppen, Maulschellen und dergleichen gewesen. Das Rutenstreichen des nackten Hinterns war abgeschafft, das Knien auf einem scharfkantigen Scheit abgelöst vom Eckestehen oder Vor-die-Tür-gestellt-Werden. Zwar stand ein Stock in jedem Schulzimmer, doch er war vom Strafinstrument zum verlängerten Zeigefinger degeneriert. Nur einen Lehrer gab es, von dem ich sicher weiss, dass er ihn in alten Ehren hielt. Die Schüler dieses Dreinschlägers lebten in ständiger Angst, und die chronischen Magenkrämpfe meines Bruders, der sich zwei Jahre lang unter seiner Fuchtel krümmte, hat man aus der Welt zu schaffen versucht, indem man ihm den Bauch auf- und den Blinddarm herausschnitt. Dieser «Näppu» galt als herausragender Pädagoge. Als ich hörte, die Schüler hätten ihm frisch geschnittene Ruten geschenkt, stand mir der Verstand still. Wie konnte man der eigenen Züchtigung auf halbem Weg entgegenkommen?

Ich bin brav gewesen, mich hat die Angst im Zaum gehalten, weniger vor den Schmerzen – meine Krankheit hatte mich Schlimmeres ertragen gelehrt – als vor einer mir unerträglichen Verletzung: brutal angefasst und geschlagen zu werden. Wer schlägt, nimmt mit dem Körper die Würde des Geschlagenen in Besitz, ein Stück schreiendes Fleisch, das vom Mitleiden, das fremder Schmerz uns zumutet, ausgeschlossen und der Lust des Peinigers ausgeliefert ist. Das war meine Angst.

Erinnere dich, wie Schulkameraden ihre Hände zur Bestrafung hingestreckt haben. Die einen zitterten, und der Lehrer musste die Finger der krampfhaft geschlossenen kleinen Faust mit Gewalt aufbrechen, das Vierkantlineal sauste, die kleine Hand zuckte zurück; doch der Zuchtmeister war noch nicht satt, auch die andre Hand mussten sie hingeben, ohne Widerstand nun, da sie bereits gedemütigt und entwürdigt waren. Dann schlichen sie an ihren Platz, rot im Gesicht von den verbissenen Schmerzenstränen, denn als Brüelichindli verspottet zu werden hätte sie ganz entehrt. Andre traten herausfordernd erhobenen Kopfs vor und taten, der Lehrer mochte zuschlagen, wie er wollte, keinen Mucks. Wenn sie sich umdrehten und an ihren Platz schlacksten, hatten auch sie rote Gesichter, doch sie grinsten. Was sie dachten, sagte ihr steifer Rücken.

Lehrer Kuhn von der 3. und 4. Primar war ein kinderfreundlicher Mensch und hielt in körperlichen Züchtigungen zurück. Auch hatte er sie selten nötig, denn er unterrichtete lebendig und spannend. Statt Langweil stellte sich bei ihm eher ein das Mass sprengender Übermut ein. Er galt deswegen als mittelmässiger Lehrer; meine Eltern machten sich sogar Sorgen, als ich ihm und nicht «Näppu» zugelost wurde. De hölzig Himel in unsrem Klassenzimmer im Nordostrisalit des Schulpalasts musste von Zeit zu Zeit gezügelt werden. Dies taten Kopfnüsse, deren Härte Herr Kuhn genau definierte und dosierte. Da er ungern strafte, musste er zuvor sich selbst überzeugen; er hielt ein kurzes Plaidoyer. «Walo, jetzt reicht es; zehnmal hab ich dir gesagt, du sollest den Schnabel halten; du störst deine Kameraden. Du bist rücksichtslos; stell dir vor, wenn alle schwatzten und gigelten und gagelten wie du. Wir sind nicht in der Katzenschule. Wenn das am grünen Holz geschieht … Die Gerechtigkeit erfordert es, dass ich dich strafe. Das wirst du einsehen. Ich werde dir eine Kopfnuss schenken.» Gerechtigkeit und das grüne Holz der Bibel waren Lieblingsformeln von Herrn Kuhn.

Nun trat er hinter Walo, meinen Schulfreund: «Was ist dir lieber, eine Buchnuss oder eine Haselnuss oder eine Baumnuss?» Womit er Walo den Schein einer freien Wahl einräumte. Den Kopf zwischen den Schultern, entschied Walo sich für die Buchnuss. Die Sekunden vor der Bestrafung waren unerträglich. Der Schlag, geführt mit dem Knöchel am eingebogenen Mittelfinger der rechten Hand, fiel, das Echo des mit Gehirnmasse gefüllten Schädels war dumpf, der Gerechtigkeit war Genüge getan, die Stunde nahm ihren Fortgang.

→Gerechtigkeit →Kalligraphie →Raumer →Walo

Führer

Fritz Heimann, Metzgerssohn, de Heimi geheissen, ein kräftiger fleischiger Junge mit blonder Bürste, befehlendem Diskant und Kinnhakenfäusten, war geboren zum Anführer der Klasse von Lehrer Kuhn. Leider aber gabʼs noch Peter, den Sohn des Delikatessenhändlers Hürzeler, der keine hundert Meter von der Berner Metzgerei Heimann entfernt seinen scharf nach Fisch und Käse riechenden Basler Laden hatte. Der sehnig athletische, mit zähem Durchsetzungswillen ausgestattete, hart gehaltene und wohl geprügelte Hüürzi machte Heimi die Führung streitig. Er hatte Laufburschenerfahrung, sein Strahl stieg höher und reichte weiter als derjenige Heimis. Sieg und Niederlage der zwei wogen einander auf, Waffenstillstände folgten. Solche Neutralisationsperioden verschafften den Diadochen Spielraum, so dass weder Heimi noch Hüürzi je eine Terrorherrschaft errichten konnten.

Während dergestalter Koexistenz kamen subtilere Qualitäten als Faust, Stimme, Dauerlauf und Pinkeln zum Tragen. Urs Meier, der Sohn des Chefchirurgen vom Bezirksspital, glänzte mit seinem Imitations­talent und der komischen Laune. Auch er fand das Führerduo vermutlich borniert; unterstützt wurde er von Dieter Hauri, seinem Freund, dem Sohn des Bezirksstaatsanwalts. Beider soziales Prestige drückte zuweilen selbst die grossen zwei an die Wand, doch fehlte Urs wie Dieter der Wille zur Macht; sie alberten lieber.

Urs war längere Zeit krank gewesen, und ich hatte ihn vermisst, denn ich liebte ihn, seiner mitreissenden Lachlust wegen, heimlich und innig. Als er eines Morgens wieder unter uns vor dem Klassenzimmer wartete, fiel ich ihm um den Hals. Er stiess mich nicht zurück, er strich die Liebeshuldigung ein wie ein Trinkgeld.

→Fip-Fop-Club →Offside

Aufsätze verbessern

Fünftklasslehrer Raumer hat eine milde Gewohnheit: Er legt die Aufsatzstunden so, dass eine Pause sie unterbricht. Dies ist vertretbar; allenfalls mag erstaunen, dass selbst er auf den Genuss verzichtet, seine Schüler zwei Stunden lang ohne Pause über ihren Arbeiten schwitzen zu sehen. Mir gibt er Gelegenheit, sozusagen mit inoffizieller Duldung rasch die Texte einiger Kameraden zu überfliegen und ins Auge springende Fehler zu verbessern. Ich tue dies, um sie vor Raumers Hohn zu bewahren, denn schwere Fehler – schwer in seinen grünlichblässlichen Augen – locken ihn aufs Schlachtfeld, und dann Gnad Gott.

«Doo schriibt drMarazzi ‹flüüge› mit V und ‹Vogel› mit F. Wäisch, Marazzi, daas längt nidemou idSchpeziauklass. Jemee Brilantiine ufem Chopf, deschtweniger Hirni drininn. Chaufder emoou es Büchsli vom Bessere. – Natüürlech, sBarrelet hetno immer nid bigriffe, das ‹ich› käis Dingwoort isch. Chunnschder eso wichtig voor, wiut inere Villa hocksch? Aber zGäut ungGschiidhäit händ gottlob sHöi nid ufdr gliiche Büni. – Moserli, no jedem Uufsatz wuurd ii am liebschte diis Heft verschränze. Hesch dRingmuursöili druff lo tanze? Dasch guepfür dGüselabfuer.»

→Aargauer Schulwand- und Schülerkarte →Gerechtigkeit →Raumer

Schweizerdeutsch und Deutsch

Ich kann mich nicht erinnern, Deutsch gelernt zu haben; die Eltern lesen oft vor; in der Schule steige ich mühelos um und zurück, wenn auch in ländlich schweizerdeutscher Aussprache. Meine Hemmungen vor dem abfallenden Schluss-E überwinde ich erst in der 3. Klasse. Dass man nicht wie ein buchstabierender ABC-Schütze Tagé, Mühé, Schulé, sondern Tagö, Mühö, Schulö sprechen sollte, geniert mich entsetzlich. Als mir dämmert, dass man dies nicht zu betonen braucht, sind die Hemmungen überwunden. Tag : nichts natürlicher.

Als wir in der 5. Klasse der Sprache grammatikalisch zu Leibe rücken, halte ichʼs für unnötig, Konjugation von Deklination zu unterscheiden, überhaupt Grammatik zu lernen. Als Raumer mich auffordert, die vier Fälle des Wortes «der Mann» herzusagen, bleibe ich stumm. Um so prompter schnarrt meine Nachbarin über dem Mittelgang, Rosmarie mit den roten Haarmaschen, «der Mann, des Mannes, dem Manne, den Mann» herunter. Raumer ist beglückt: Das kommt ja wie aus der Kanone geschossen! Und er macht Rosmarie schwache Hoffnung, vielleicht, wenn sie sich von nun an ins Zeug lege wie ein Ackergaul und ihr Schwatzwerk ausschliesslich für Antworten auf die Fragen des Lehrers in Gang setze, doch noch mit knapper Not in die Bezirksschule zu rutschen. Es gibt also eine Grammatik, welche die lebendige Rede in ihren Netzen fängt und sie darin zappeln lässt wie den Fisch im Netz und Richtig von Falsch scheidet. Absurd.

→Elternsprache →Vorlesen

Liedgut

Unser Gesangsunterricht begann mit «Alle Vögel sind schon da» und dem Kanon «Bruder Jakob», bei dem ich vor Angst, aus dem Takt zu fallen, den Anschluss verpasste. Er setzte sich etwas später fort mit «Lustig ist das Zigeunerleben, trarira», gewann Erhabenheit mit «Der Du die Himmel hältst in Deinen Händen», einem der zahlreichen Versuche, den allzu anspruchsvollen «Schweizerpsalm» resp. «Rufst du, mein Vaterland» als Nationalhymne abzulösen; offenbar sollte dessen Gesangs­tauglichkeit fürs Volk an uns Schülern getestet werden, auch wollte man uns wohl das Schicksal ersparen, «Froh noch im Todesstreich» zu enden. Nun steigerte die Musikpädagogik sich zum Sempacherlied «Lasst hören aus alter Zeit/von kühner Ahnen Heldenstreit,/von Speerwucht und wildem Schwertkampf,/von Schlachtstaub und heissem Blutdampf». Das Nazilied «Wir sind die jungen Schweizer,/gar heiss ist unser Blut», hatte die Tugend, mir endlich und für immer den Mund zuzusperren – aus Scham und Ekel.

Wenn schon eine Nationalhymne sein musste, warum konnte diese nicht das «Beresinalied» sein? Was sind wir im besten Falle? Brüder (und Schwestern). Was ist unser Leben andres als eine Reise in der Nacht?

→Friede →Klavierspiel →Krieg →Kriegsschuld →Schlagen

Raumer

«Hört, was das Moser zusammengeschludert hat. ‹Gestern liefen wir› – gemeint ist die Familie Moser, die Eltern, das Moserli und zwei Brüder –, ‹weil es schön war, von der Ringmauer ins Kunzenbad. Beim Kunzenbad angekommen, bellte der Hund, und Vater sagte, jetzt laufen wir auf den Heiternplatz, dort hatten wir Durst und tranken, und vom Heiternplatz liefen wir wieder in die Ringmauer. Fritzli musste hatschielen und schnuderte in den Nasenlumpen. Der Spaziergang hat mir fest gefallen.›» Raumer, das Gesicht abgewendet, schüttelt mit zwei spitzen Fingern das Aufsatzheft von Ruthli Moser aus, als ob es von Läusen wimmelte, und das Löschblatt trudelt übers Pult weg zu Boden. «Stellt euch die Mosers vor! Es ist Sonntag, und weilʼs schön Wetter ist, brechen sie, Vater voran, im Sturmschritt aus ihrem Loch in der Ringmauer ins Freie, rennen durchs Pomernquartier ins Kunzenbad, immer voran Papa Moser, dann das Moser und seine Brüder, zuhinterst keuchend Mutter Moser. Doch Moser père hat den Sonntag und das schöne Wetter im Nacken und rennt, die Familie auf den Fersen, auf den Heiternplatz. Dort langt man schweisstriefend an und lappt Wasser aus dem Brunnen. Nun könnten die Mosers verschnaufen und die Aussicht auf unsre schöne Stadt mit Mauern, Türmen, der Kirche und den behäbig in die Obsthänge gelagerten Villen geniessen. Sie aber sind nicht zu bremsen und rennen im Garacho durch die Pünten und über den Hirzenberg hinunter, um ja früh genug wieder in ihr Loch an der Ringmauer zu schlüpfen. Doch da bekommt Bruder Fritz den Schnupfen. Undsoweiter. Moser, du bist die stockdümmste Gans, die ich je habe mitschleppen müssen! Laufen, hochdeutsch, meint rennen, louffe heisst gehen, hatschiele niesen, iNaselumpe schnudere sich ins Taschentuch schneuzen! Oder entleert ihr Mosers eure Rotznasen in alte Scheuerlappen? Würd mich nicht wundern. Und du willst in die Sek? In der Oberschule werd ich dich anmelden, denn irgendwo muss man dich reif werden lassen, bis du von selbst aus der Schule faulst, und Herr Keller wird Gott danken, sobald er dich durchgeseucht hat. Wenn du so lang wie dumm wärst, du könntest über den Mond weg aus dem Dachkännel Wasser lappen, und wärst du so klein wie deine Intelligenz, Moserli, du könntest in jedes Mausloch schlüpfen und dort den Hochsprung üben! Huschhusch!» Raumer verscheucht einen bis zur Unsichtbarkeit verächtlichen Floh mit der linken Hand. «Nimm endlich dein Löschblatt vom Boden! Ja, die Mosers in ihrem Ringmauerloch: Du wohnst, wo du hingehörst. Das nächste Mal liegt ein sauberes Löschblatt im Heft, und du hast den Aufsatz fehlerlos abgeschrieben, sonst schreibst du ihn im Arrest noch ein drittes Mal. Da hast du dein Meisterwerk!» Raumer wirft das Heft vor Ruthli Moser, die unter ihm in der ersten Reihe sitzt, auf die Bank, dass es klatscht wie eine Ohrfeige. «Und heul nicht schon wieder! Heulen können sie, gescheiter werden nicht! Dumm, dümmer, am dümmsten – jetzt werden wir das Eigenschaftswort weiter steigern, schaut euch das Moser an: saudumm – dreckdumm – stinkdumm. Heb endlich deinen Schnuderlappen auf, dem ihr Mosers Löschblatt sagt!»

Klein, unterernährt, bleich und braunschopfig, rappelt Ruthli Moser sich aus der Bank hoch, schleicht geduckt zum Mittelgang, den linken Unterarm im roten Pulloverchen vor Mund und Nase pressend, und grapscht halbblind vor Tränen, am dreckgrauen Schulzimmerparkettboden herum nach dem Löschbatt.

Er galt als der Star. Keiner hievte und mostete so viele Fünftklässler in die Bez wie Raumer. Daran wurde er gemessen, darob war er hochgeachtet. Er leitete die Sektion Zofingen des Schweizer Jugendhilfswerks Pro Juventute. Er hat unsre Kindheit im 11. Lebensjahr ins Grab geschaufelt. Er trug eine randlose Brille, hatte graues, nach hinten gekämmtes Haar und züchtigte seine Strafkompanie vokal. Er war das lebende Lehrersyndrom. Kinder, ihre ängstlichen Seelen, ihr fragiles Selbstbewusstsein, waren sein Morgarten und Sempach. Er hätte ein guter Lehrer sein können, doch sein Auftrag: «Rein in die Bezirksschule!» hat ihn geschlissen. Dafür hielt er sich schadlos.

Ich sehe ihn am ersten Schultag. Er thront friedlich hinterm Katheder, und der Reihe nach muss jedes von uns aufstehen und seinen Namen nennen. Er zieht die Karteikarte und wirft einen prüfenden Blick auf die Personalien. Ein dickliches rothaariges Mädchen ist an der Reihe: Erna Leu. – «Löi?» Raumer studiert die Karte. Der Abglanz innern Triumphs erhellt sein Gesicht: «Aha, soso, auso duu bisch sLöi ungchunnsch eerschno usem Rohrbachgrabe, natüürlech, has tängkt, alli Zigüüner chömed usem Rohrbachgrabe, döört hepmese siinerziit versoorget. Aber scho chrüüchets wider atSunne, säb wämmer dänn no luege, und rooti Hoor hesch au no, diir isch sZigüünerbluet iChopf gschtige. Daas wiirpmer au öppis Guets sii! Hockap umpmach äntlech de Chlaffe zue.» Damit ist Erna Leu abgeschrieben.

Raumer in der Primarschule und Vogel in der Bez. Vogel war abscheulich, weil er den Sadismus genoss und nach jeder Bestrafung laut sich selbst belobigte. Klatschten Ohrfeigen, prasselten Arreststunden, musste man ihm mit lauter Stimme danken. Tat man es zu leise, verdoppelte sich die Strafe, und Vogel rühmte sich seiner Gerechtigkeit wie Gott im Buch Hiob. Raumer schlug nie, er genoss subtiler. Er demütigte ohne Ansehen der Person, um der Leistung aufzuhelfen – zu unsrem «Besten». Raumer wusste intuitiv, wie man schulschwache Kinder am tiefsten verletzt, am nachhaltigsten kaputtmacht: mit unablässig über sie herabtröpfelndem, beissendem Hohn. Ruthli wurde nicht nur als das Moser, sondern in seiner Familie und deren Grundschichtzugehörigkeit vernichtet. Raumer besprühte, gut sichtbar, wenn die Morgensonne ins Zimmer fiel, die stumme Hilflosigkeit und die Tränen der Unbegabten, die er in der vordersten Bankreihe zusammengezogen hatte, mit seiner nassen Aussprache. Raumers Hatz war sanktioniert von der Gesellschaft, welcher die Schulleistung alleingültiges Kriterium für die Beurteilung eines Kindes war.

Verleumde den armen Schulmeister nicht, der schon längst das Gras von unten betrachtet! Obige direkten Reden sind weitgehend Zitat aus der Erinnerung, Beweis, wie unauslöschlich Raumer die Gemüter zu tätowieren wusste. Mir ist er nie zu nahe getreten. Einmal, weil mein Vater in der Schulhierarchie ein entscheidendes Stockwerk über ihm logierte, zum andern, weil ich vermutlich einer der paar Lichtstrahlen unter so viel vermeintlicher Intelligenzverdunkelung gewesen bin. Denn die beiden Fächer, welche Raumer am liebsten, ja, meine ich, hervorragend unterrichtete, Heimatkunde und Geschichte des Kantons Aargau, waren für mich Stunden halb mystischen Glücks. Raumer erzählte spannend; ich habe ihn weder gehasst noch gefürchtet. Er stand in der Glorie dieser beiden Fächer. Der Arme war wie seine Schüler ein Opfer.

Einen Erfolg über mich hat er verbucht: Ich habe ein Jahr lang an Magen- und Darmkrämpfen gelitten. Dann bettete mich der ausgebildete Samariter eigenhändig in die leere hinterste Bankreihe, träufelte Kirsch auf einen Würfelzucker und steckte mir diese Widrigkeit in den Mund. Der Unterricht nahm seinen Fortgang; zusammengekrümmt starrte ich an die weissgraue Zimmerdecke. Meine Eltern waren ratlos, brachten mich ins Spital; Darmeinlauf, Röntgenaufnahme: nichts. Der Vorschlag wurde erörtert, mir wie meinem Bruder prophylaktisch den Bauch aufzuschneiden und bei diesem Augenschein gleich den Blinddarm wegzumachen. Die Diskussion zog Fäden, bis ich Raumers Strafkolonie entronnen war und die Krämpfe verschwanden.

Zur selben Zeit hat mir das tutti, das Kindersanatorium der Pro Juventute in Davos, gedroht. Asthmaanfälle und Absenzen häuften sich, die Eltern bekamen es mit der Angst zu tun, ich könnte den Anschluss an die Bezirksschule verpassen. Ich habe mich hartnäckig gewehrt – und mich durchgesetzt. Die Verbannung unterblieb.

→Aargauer Schulwand- und Schülerkarte →Ersticken →Aufsätze verbessern →Gerechtigkeit

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺656,90

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
390 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783038550839
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre