Kitabı oku: «Die Stimme des Atems», sayfa 4
Ameisen – Todesspiel
Der Tod ist unanständig, man muss ihn verheimlichen, obwohl er von oben nach unten ausgeteilt wird und alle dies wissen. Zuoberst sitzt Gott, der stirbt nie, weil er Menschen, Tiere, Pflanzen tötet; die Grossen töten und fressen die Kleinen, diese die Winzlinge. Je kleiner die Lebewesen, desto zahlreicher, desto weniger zählend die Tode. Niemand fragt nach dem Lebensfünkchen der Blattlaus. Wenn die Menschen einander umbringen, explodieren Granaten und Bomben und brennen die Städte, im Frieden bimmeln die Glocken; stirbt eine Katze, stecken nur wir Kinder ein Astkreuz ins Gras. Müssen Ameisen dran glauben, schrillt kein Pieps von den offenen, glattgesäuberten Heerstrassen, die, von Erdbollwerk gesäumt, viele Meter weit durchs Rasengeviert der Gartenterrasse laufen.
Ich bin gross, und sie können sich gegen mich nicht wehren. Meine Eltern zertreten bei einem einzigen Rundgang im Garten mehr Ameisen, als ich, neben einer Ameisenstrasse kauernd, töte, aber meine Schuld ist grösser. Es muss verschiedene Tode geben. Der Tod, den ich austeile, schreit lautlos zum Himmel, schwärzt mich dort an, der Tod unterm Schuhabsatz der Mutter verklagt sie nicht. Sie weiss nichts davon. Und wer trägt die Schuld am Tod der Ameise im Krater des Ameisenbären? Fritzi und ich schubsen mit einem Strohhalm Ameisen hinunter. Der Ameisenbär trifft sie mit seinem Staubstrahl, saugt sie in seinen Trichter, und am nächsten Morgen liegen leere Chitinhüllen am Trichterrand. Warum sind wir schlecht, wenn doch Gott den Ameisenbären und die Ameise, den Tod und unsere Lust daran geschaffen hat?
In einer Schublade von Vaters mehrstöckigem Eichenholzpult liegt die Lupe. Wenn ich sie ins Sonnenlicht halte, bündeln sich im Brennpunkt die Strahlen zu einem Glutspund, der schmerzhaft in die Augen sticht und eigentlich die Sonne ist, die Stecknadelkopfsonne. Damit lässt sich alles Trockene entzünden, Blätter, Rindenstücke, die dürren Holzschwämme, mit denen ich mein Dampfdreirad beheize. Auf das braunschwarze oder rote Chitin der Ameisen wirkt der Brennpunkt augenblicklich und entsetzlich. Streicht er über ein Tier, krümmt es sich zusammen und versucht zu entfliehen. Doch bereits ist es am Verschmoren, knisternd in einem blauen, räss stinkenden Räuchlein. Ich richte mich auf und gehe weiter, in aller Öffentlichkeit Blumen bewundernd.
(Muss/will ein Kind den Tod kennenlernen? Ich vermute, ich habe dieses Spiel um Lust und Tod, Grausamkeit und Wehrlosigkeit in Stunden grössten Verlassenseins getrieben, die es in jeder Kindheit gibt. Auch springt darin ein Funke der Feuerstürme des Weltkriegs.)
→Freiheit des Kindes →Erste Heimlichkeit →Kind und Öffentlichkeit →Tödlein
Langweil
Was soll ich spielen? Die Mutter ist im Obergeschoss am Aufräumen. Nach Vorschlägen, die ich vor dem Spielzeugschrank bereits verworfen habe, sagt sie: Willst du nicht unser Haus zeichnen, den Garten und dich selbst mittendrin? Ich bin unschlüssig, denn was beim Zeichnen herauskommt, entspricht nicht entfernt dem, was ich sehe. Nein, ich will nicht zeichnen. – Möchtest du das Buch vom Mond oder das Alpenblumenmärchen von Kreidolf anschauen? – Ich möchte lesen lernen, Mama, die Geschichten weiss ich auswendig. – Das lernst du in der Schule immer noch früh genug. – Aber ich will jetzt lesen lernen. Ich möchte alle Bücher lesen. Warum lehrst du mich nicht lesen? – Du musst in der Schule noch was zu lernen haben. Weisst du was? Du könntest mir im Garten die Karotten ausziehen, das ist eine wunderbare Arbeit, und die grösste gehört dann dir. Einen Moment sehe ich die riesige zweibeinige Karotte vor mir, die ich im vorigen Herbst ausgezogen habe; aber sie war hohl, und schon bricht die Empörung ob solcher Zumutung durch: Ich will keine Karotten ausziehen. Die Mutter seufzt: Warum gehst du nicht zum Sandhaufen und baust dir eine Stadt mit den schönen farbigen Förmchen? – Es kommt aber kein Wasser mehr aus der Röhre; ohne Wasser istʼs langweilig, auch sindʼs keine richtigen Häuser, nur Sandkuchen. – Dann mach einen Spaziergang zum Weiher hinauf; aber versprich mir, dass du nicht auf den Steg hinausläufst. Ich überlege: Mhm, ja. – Gut; doch ohne Kappe und Windjacke lass ich dich nicht weg, es nebelt, bald ist Winter. Ich trage einen wegwartenblauen Pullover aus Noppenwolle mit drei gehäkelten weissen Kugelknöpfen. Nein, ich will keine Windjacke. Die Mutter hat ein Federbett aufgeschüttelt; nun dreht sie sich um und schaut mir wortlos in die Augen: Dann gehst du ins Esszimmer und wartest, sagt sie leise, verlässt den Raum, ohne sich nach mir umzudrehen, und betritt das Schlafzimmer, wo mein Bruder und ich hausen und er sein kleines Arbeitspult stehen hat.
Ich laufe ihr nach; auf der Schwelle, als ob ein Verbot mich zurückhielte, bleibe ich stehen und lehne mich gegen den Türrahmen. Sie stellt die Stühle mitten ins Zimmer, legt erst die Kissen auf die Sitze, dann die Daunendecken über die Lehnen. Sie zieht die Wolldecken herunter, tritt an ein Fenster, schüttelt sie aus und wirft sie über die Federbetten. Nun greift sie nach den Laken. Ich möchte reklamieren und bringe kein Wort über die Lippen. Plötzlich ist mir, das Dach sei weggeblasen, wir schwebten beide draussen im grauen Herbstwind. Der Raum verkommt zur Fläche, die Hantierungen der Mutter zerfallen in wirre Bruchstücke, ich denke das Wort «Mutter», und die zwei Silben brechen auseinander, mu, ter, bedeuten nichts mehr, sind ein sinnloses Geräusch. Warum nicht termu, muret, trume, mertu? Was ist der Unterschied?
Ich drehe mich weg, gehe zur Treppe und lasse mich, eine Hand am geschwungenen Geländer, Stufe um Stufe hinabfallen. Mir schwindelt. Der Spielzeugschrank gähnt offen, ich stosse die verglaste Wohnzimmertür auf, klettere auf meinen Stuhl und das Rosshaarkissen, stütze die Ellenbogen auf und das Kinn in die Hände und starre durch die Fenster zum Wald hinauf, der sich dünn wie graues vor weissem Seidenpapier durch den Herbstnebel abzeichnet, und versuche mit dieser Niederlage vor mir selbst zurechtzukommen. Warum bin ich unzufrieden und traurig? Warum aufsässig? Warum bin ich, wie ich bin? Warum gibt es mich überhaupt? Kämpfend gegen die Tränen, zähle ich die Baumwipfel, denn zählen kann ich schon lange.
→Alter und Zeit →Patriarchat und innere Emigration →Ränder →Rationierung
Schneekönigin
Ein sulztrüber Winternachmittag, tiefer Schnee. Am Steilhang hinter dem Eisweiher verändern wir die Landschaft. Wir pressen Bälle, werfen sie in den Schnee und rollen sie voran. Lage um Lage wickelt sich um die Kugeln, kleine Walzen entstehen, werden mächtiger, schwerer, reissen im Bergabrollen die ganze Schneeschicht ab, spulen sie auf wie dickes Moltontuch. Endlich können wir sie nur noch mit vereinten Kräften und dank der Steilheit des Hangs ein paar Schritt weiter wälzen. Zuletzt sitzt jeder von uns atemlos und heissgearbeitet mit frostgeröteten Händen auf seiner Walze und blickt hangaufwärts auf eine grüne Grasbahn, die sich breit unter seinem Gefährt hervorschält und sich nach zehn, zwanzig Schritt im Schnee verliert. Peter ist Winnetou, Fritzi Manitus Grosser Büffel, Thomi der Adler des Zeus, und ich bin der Steinbock der Schneekönigin, denn unser Werk gehört ihr; auf Steinböcken reitet sie durch ihr eisiges Reich.
Am folgenden Morgen müssen die drei in der Schule die Köpfe ducken, nur ich lebe noch in Freiheit. In der Nacht hat sich ein schwerer Reif niedergeschlagen, der Nebel sich weggehoben, und wie ich gegen zehn Uhr vormittags in Windjacke, Wollmütze und Fäustlingen unser kleines Tal hinaufstapfe, um das Werk für die Schneekönigin zu besuchen, ergiessen sich die Buchenkronen des Waldrands als glitzernde Eisfälle aus der Tiefe des blauen Himmels. Mein Glück ist so mächtig, dass ich stehenbleibe und mich langsam und süss füllen lasse, um nicht zu zerspringen. Der Eisweiher liegt, grau eingedeckelt und mit der wirren Kurvenschrift der Schlittschuhläufer graviert, im Gebüsch. Funkenglitzernde Stille, Atemwölkchen. Vier Schneerugel stehen auf halber Höhe des Hangs. Vom eigenen Gewicht in den Boden gepresst, sind sie im Frost versteinert. Ich klettere und springe auf ihnen herum. Die krustig gefrorenen Oberflächen schneiden messerscharf wie Glassplitter. Ich bin allein, der Fröschenhof am gegenüberliegenden Hang verschwindet beinahe unter den Schneelasten. Ich besteige die grösste Walze und recke die Arme zu Hörnern hoch; ich bin der Steinbockkönig, stosse kurze scharfe Schreie aus, rufe, rufe die Schneekönigin herbei ins Glück der lichtsprühenden Welt. Januar 1945.
→Alter und Zeit →Eisweiher →Jahrhundertstimmungen →Schlitteln
Zofinger Tagblatt, 27. Januar 1945
Der Flüchtlingsstrom
Grosse Teile der deutschen Ostbevölkerung sind in Bewegung geraten, um vor den näher rückenden russischen Armeen sich im Innern Deutschlands in Sicherheit zu bringen. Tag und Nacht rollen Flüchtlingszüge aus dem Osten in westlicher Richtung, wobei die öffentlichen Wohlfahrts-Organisationen bemüht sind, den reibungslosen Ablauf der Transporte und ihre schnelle Unterbringung in rückwärtigen Gebieten zu gewährleisten. Obwohl dieser Flüchtlingsstrom in diesem Umfang wahrscheinlich überraschend gekommen ist, da noch vor wenigen Wochen mit einem solch bedrohlichen Ausmass des Vorrückens der Roten Armeen in das alte Reichsgebiet wohl kaum gerechnet wurde, wird augenscheinlich Ordnung gehalten, um Panik zu vermeiden und die militärischen Operationen nicht zu stören. Das Hauptkontingent der vor dem Kampfgeschehen geflohenen deutschen Bevölkerung fällt offenbar auf die Gebiete des Warthe-Gaues und die Provinz Westpreussen. Von den Flüchtlingen wird übereinstimmend berichtet, dass sich die polnische Bevölkerung beim Abzug der deutschen Bevölkerung durchwegs loyal verhalten habe und dass es nirgends zu irgendwelchen Konflikten und Zusammenstössen mit den Polen gekommen sei.
Erste Heimlichkeit
Tief, übermannshoch und dicht ist die Buchshecke, ein dunkelgrüner Fremdkörper; sie trennt uns vom Nachbarn im Westen; gegenseitig unsichtbar, leben wir nebeneinanderher. An ihrem Fuss, bei den Wurzeln, wo der Grus von Jahren als modriger federnder Teppich liegt, läuft hangabwärts ein Betonkännel. Meist liegt er trocken, und dürres Laub sammelt sich darin. Zuweilen fülle ich einen Kübel mit Wasser und spüle ihn rein; neben der raschelnden Wasserwoge her renne ich den Kiesweg hinab und erwarte sie, die unter ihrer Fracht allmählich träger wird und beinahe verschwindet, am schmiedeeisernen Tor zu unsrem Garten neben dem Dolendeckel. Dringe ich in die Hecke ein, zwänge mich durch die zähen Zweige und das sperrige Totholz, verstärkt sich der herbe Buchsgeruch und schlägt mich an heissen Sommertagen in seinen schwarzgrünen Brodem. Sitze ich innen und blicke nach aussen, verflicht und verfilzt sich dürres Geäst schwarz vor dem Himmel; die äussere Laubhülle verwehrt den im Licht Stehenden den Einblick, mir im Finstern dagegen stört sie kaum die Sicht.
Eines Nachmittags kauere ich dort drin und verrichte meine Notdurft. Das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, ist so mächtig, dass sich das Herzklopfen erst legt, als ich heraustrete; es verbindet sich mit dem Buchsgeruch. Einen Sommer lang mache ich Gebrauch von dieser genussvollen Erleichterung ausser Haus; immer habe ich Glück, und ich komme mir vor wie auf einer Bergwanderung, wo der Vater das Toilettenpapier verwaltet, das in handgrosse Blätter zerrissene «Zofinger Tagblatt». Dennoch bleibt das Gefühl des Unerlaubten.
Die Mutter erwischt mich und und stellt mich zur Rede. Eine Bestrafung erfolgt nicht; um so röter ist meine Scham darüber, dass der Mensch, den ich am liebsten habe, mein Vergehen aufdeckt und ich auf die Frage, warum?, schweigen muss, denn das Argument, es reiche immer für die zwanzig Schritt bis zum nächsten Abort, sticht.
Zum ersten Mal finde ich mich allein im öden Land ausserhalb des überwachten elterlichen Bezirks, das die Mutter mir am liebsten verbieten würde. Ich verspreche ihr, dies eine – ausser auf Alpenwanderungen – tatsächlich Verbotene nie mehr zu tun. Doch das graue Land nie zu betreten, das die lichte Welt unsrer Familie umschliesst und durch das Abendgebet Ängeli chumm, mach mi frumm, dasi zuder iHimel chumm gebannt wird, das kann ich ihr nicht versprechen. Seine Macht ist stärker als ich.
Ich habe mit ihr darüber nie gesprochen.
→Aas →Eltern-Tabu →Kind und Öffentlichkeit →Patriarchat und innere Emigration
Vorlesen
Bis ich selbst ein Buch bewältigen kann, liest uns der Vater, hat er Zeit, abends vor. Wir setzen uns auf dem abgeriebenen dunkelbraunen Ledersofa in der Bibliotheksecke des Studierzimmers nebeneinander. Ich sitze meist rechts von ihm, über mir staffeln sich die vollen Bücherregale, brennt die Stehlampe. Zwischen dem Vater und der Ofenkunst nehmen die Geschwister Platz. Die Kacheln wärmen die Szene, denn es ist Krieg, und die mit deutscher Kohle befeuerte Zentralheizung wird auf Sparflamme gefahren. Hinter uns hängt in schwarzem Rahmen Piranesis Stich des Sibyllentempels von Tivoli. Ich werde die Angst davor nie ganz los; sie verhindert, dass ich das Blatt genau betrachte. Mein Eindruck von schreckenerregenden ausfahrenden Bewegungen, tintigen Dunkelheiten, von Kellergeruch und Kerkergewalt bleibt.
Der Vater schlägt das Buch auf. Wo sind wir stehengeblieben? Eins von uns weiss die Stelle, wo er das Häkchen gesetzt hat, fast immer. Das Buch ist eine Sagensammlung. Die Geschichten erklären, warum etwas ist, wie es ist: warum die Katze grüne Augen und die Erde einen Mond hat, warum die Espe ununterbrochen bebt. Meist hat der Teufel dreingepfuscht – und mein Interesse für ihn ist das grösste. Die Espe allerdings wird, typisch für den lieben Gott, unschuldig bestraft. Was kann sie dafür, dass sich Judas Ischarioth an ihr erhängt hat? Heute erfahren wir, warum die Eiche buchtige Blätter hat. Weil der Teufel während der Schöpfung wieder einmal betrogen worden ist, vom lieben Gott selbst. In ohnmächtiger Wut hat er mit seinen Krallenpranken auf die Eiche eingedroschen, bis alle schön ovalen Blätter buchtig zerfetzt herabhingen. Was wir heute noch sehen können.
→Lesen →Orangen →Der arme Teufel
Vorausschule
Die Mutter hat den Vater während dessen Aktivdienstzeit zuweilen am Pult vertreten. Nun mochte es vorkommen, dass das Hausmädchen in der Fortbildungsschule war, die Geschwister ohnehin die Bank drückten, ich also allein zu Hause geblieben wäre. Dann nahm sie mich an der Hand, wir stiegen zum Schulpalast hinunter, die ausgetretenen Sandsteintreppen hoch, sie setzte mich in die leere hinterste Bank ans dritte Fenster, legte ein Bilderbuch sowie Zeichenblock und Farbstifte vor mich hin, strich mir über den Kopf und sprach: Bis lieb u braav. Der Unterricht begann.
Ich liebte diese Ausflüge, weil ich nicht zur Schule musste. Ich war der einzige im Klassenzimmer, der aus freien Stücken hier sass und tun und lassen konnte, was ihm behagte. Ich konnte aufmerksam zuhören, etwa in Schweizer Geschichte, oder zum Fenster hinaus oder in ein Buch schauen oder unser Haus und die Sonne darüber zeichnen; verboten war nur, was den Unterricht gestört hätte. Ich fühlte mich frei und leicht und bedauerte die armen Schüler, die in den Bänken vor mir herumrutschten, hie und da nach hinten schielten und ihr Gehirn zermarterten, ratlos schwiegen, die Hand aufstreckten und richtige oder falsche Antworten gaben. Dann kam ich mir vor wie der heimliche Fürst dieser Versammlung. Der Freie ist immer ein Fürst.
Einzig die Stimme der Mutter bereitete mir Unbehagen. Sie klang anders als noch auf dem Schulweg, nicht drohend oder unwillig; doch wenn sie so mit mir geredet hätte – energisch, gepresst, neutral-umsichtig –, hätte ich sie gefragt, warum sie mir böse sei. Mich verstörte, dass sie eine andre als ihre richtige Stimme brauchen musste; und was mich besonders quälte: Plötzlich tat sie mir leid. Ich hatte das Gefühl, ich müsse mich vor sie stellen und sie beschützen. Zuweilen fiel mich Angst an, sie könne nicht mehr und müsse abbrechen. Die Schule war offenbar nichts Gutes. Der Himmel vor dem grossen Fenster lag grau und bedrückend über der Sicht zum Wald hinauf, wo sich unser Haus hinter die riesige Scheinzypresse duckte.
→Freiheit des Kindes →Der Jüngste →Schulhaus →Schulschock →Schulzimmer des Vaters
Intermezzo: Waschtag
Der ersehnteste Wochenbeginn fällt auf jeden vierten Montag, wenn Frau Ess aus Wikon im Lozäärner um sieben Uhr ihr Rad das Strässchen heraufschiebt. Eine schwere Person, auf allen Seiten gleichmässig rund und kräftig, ohne Taille. Die grosse Wäsche wird angerichtet.
Unter dem Wasserschaff und dem Siedekessel mit dem mächtigen Deckel saust das Feuer. Frau Ess, Mama und Vroni arbeiten einander in die Hände. Zerknüllte Bettlaken füllen als erste Ladung den Vorwaschtrog aus galvanisiertem Weissblech, der rechts vom Spültrog an einer Wand der Waschküche verankert ist. Er erhält aus einem festen Hahn kaltes und aus einem Schwenkarm jetzt zischend heisses Wasser aus dem Schaff. Frau Ess ergreift den Stössel oder Stungger, eine Blechglocke mit Löcherkranz, am armlangen Holzstiel, taucht ihn ein, drückt ihn mit ihrem ganzen Gewicht in die eingeweichte Wäsche und zieht ihn wieder heraus. Er schmatzt und gurgelt, denn im Innern der mit einem Sieb verschlossenen Glocke wird ein in Längsrichtung verschieblicher Blechkolben mit jedem Stoss in die Tiefe gepresst und mit jedem Zug nach aussen gesogen. Drum schlürft und speit der Stössel, sein Durst scheint nicht zu stillen. Frau Ess hat die schwarze Gummischürze vorgebunden, ihre mächtigen Arme arbeiten wie Pleuelstangen. Sie ist das Herz der Einrichtung aus Kessel, Trögen, Zentrifuge und der Badewanne, welche die Waschküche ausfüllt.
Ich laufe durch die offenstehende Tür auf die mit Granitplatten belegte Terrasse und zur Regenwassertonne an der Hausecke, die von einer Kreisscheibe aus Drahtgeflecht überdeckt und gesichert wird. Im Wasser spiegeln sich körperlos die Maschen und meine eingekrallten Finger; unter ihnen erscheint mein Gesicht, fern und luftig, die Haare fallen in die Stirn. Und in unendlicher Tiefe von traurigem Indigoblau, taucht ein Föhnfisch auf, treibt durch die gespiegelten Maschen, tritt in meinen Kopf ein, fährt aus der rechten Schläfe hervor, mir sind zwei Flügel gewachsen. Um das Bild zu bewahren, folge ich mit dem Kopf der Wolke nach, die linke Hand greift über die rechte. Auf einmal ist unter mir der Rand des Betonrohrs; ich richte mich auf, von weither kommend, mir ist angenehm schwindlig.
Dampf und Dunkel füllen die Waschküche, ein warmer dichter Körper. Es brodelt, glunscht und gutscht, zischt aus Ritzen und schäumt die Hände der Wäscherinnen ein. Damit ihre Schuhe nicht aufquellen, stehen sie auf Holzpritschen, die vom Genässt- und Gescheuertwerden weiss sind. Die erste Vorwäsche wird aus dem Trog gefischt und triefend in den Siedekessel geschletzt, mit dem Stössel einige Male tief in die Seifenlauge hinuntergetunkt und zugedeckelt. Die Wäsche ist «unterwegs».
Frau Ess ist eine harte Arbeiterin, die einsilbig und nur zur Sache redet, zur Wäsche also. Ihre Zufriedenheit nährt sich aus deren Sauberkeit. Je fleckenloser, vom Vorwaschen über den Hauptwaschgang bis zum Nachspülen und Zentrifugieren, die Wäsche wird, desto besserer Dinge ist Frau Ess. Doch im Hinblick auf den brachialen Reinigungsvorgang liebt sie die schmutzige Wäsche. Frau Ess zeigt mir, wie beglückend eine Arbeit sein kann, wenn das Produkt nach zwei Stunden an der Leine in der Sonne blendet. Am Abend weiss und spürt Frau Ess, was sie gearbeitet hat. Sie blickt zurück auf Laken, Kissenbezüge, Unterhosen, Hemden und Socken, sieht sie im Frühlingswindchen leicht und kühl flattern, dreht sich auf die Seite und schläft mit einem schnarchenden Seufzer ein. Denn schnarchen tut sie, sonst hätte sie keinen Schnurrbart. Auch einen Mann hat sie, einen kleinen schwitzenden Wicht, den sie irgendwo in ihrem mächtigen Busen mit sich trägt.
Ich versuche nun, mich in der Waschküche nützlich zu machen, reiche den Stössel hierhin und das Waschbrett, weil Frau Ess die Taschentücher vornehmen will, dorthin. Das gewellte Blech schlurrt unter den auf- und abfahrenden Händen von Frau Ess. Ich stehe da und sehe zu; eine der Frauen nimmt mich sanft am Hinterkopf und führt mich einige Schritt beiseite. Ich ziehe mich zwischen die Badewanne und die Wäschezentrifuge zurück. Eine unheimliche Maschine, innen ausgekleidet mit einem Lochzylinder aus Chromstahl, der bis an den Grund gnadenlos sauber blitzt. Wer die Hand hineinhält, sagt die Mutter, dem wird sie abgerissen. Doch noch steht die Zentrifuge still und leer. So halte ich eine Weile den Arm hinein und trotze der Angst, die Maschine könnte sich, meinen Vorwitz zu bestrafen, von selbst zu drehen beginnen. Dann trete ich unter die offene Tür in den abziehenden Dampf.
Einer der ersten schönen Frühlingsmontage; die Wäscheleinen sind bereits quer über das Rasenparterre gespannt. Ich laufe die paar Treppenstufen hinunter und rüttle an einer der Tragstangen aus Leichtmetall. Vroni hat sie fest und sicher ins versenkte Eisenrohr gesteckt; der kleine Deckel, der verhindert, dass das Rohr sich mit Schlamm füllt, ist am Scharnier hochgeklappt. Über mir hängt die Wäscheleinenhaspel schief und unzufrieden und streckt die hölzernen, gegeneinander versetzten und drehbaren Aussengriffe in die Luft. Ich gehe über den Plattenweg, der um den Rasen herumführt, auf jede der bläulichgrauen Granitplatten einen Fuss setzend, was mich zu verschieden grossen Schritten und einigen Sprüngen zwingt. Ich habe die Blumenrabatten zu meiner Linken – kein gutes Gefühl. So bleibe ich auf dem Sitzplatz hinter der Scheinzypresse stehen, schliesse die Augen und drehe mich mit einem Schwung auf einem Absatz zweimal um mich selbst. Augen auf! Nun liegen die Rabatten auf der guten Seite. Die Primeln blühen; kostbar sind mir die weinroten, violetten, sonnenblumengelben, und die eine dunkelblaue. Ich erinnere mich, dass sie am Fuss der Trockenmauer vor der Hausterrasse blüht, und hüpfe zurück.
Durch die Waschküchentür über mir die Stimmen der Frauen, ruhig, sachlich, hie und da, um ein Zischen oder Klatschen zu übertönen, leicht angehoben, verständlich fast nur die alltäglichen Wendungen: Die Socken dort drüben. – Nochmals. – So, die sind sauber. Die Wäschezentrifuge wummert. Klatsch liegt weder meiner Mutter noch der Wäscherin. Wenn über andrer Leute Wäsche gesprochen wird, dann objektiv. Auch so hatʼs Löcher drin. Ein deutlich hörbares Müdewerden der Stimme meiner Mutter, ein Erlöschen ihres Interesses nähme jedermann die Lust, sich hinter vorgehaltener Hand im übertragenen Sinn weiterzuverbreiten. Sie ist der Meinung, man müsse zu dem, was man gesagt hat, auch vor denen stehen können, die es betrifft.
Meine Nase steckt tief im dunkelrostbraunen Kelch einer «General de Wet»; den seifigen Mief der hellgelben Tulpen mag ich nicht, dagegen lockt mich der bittere Schokoladenduft der dunklen Arten. Vronis helle Stimme ruft mich, in einer Viertelstunde sei das Znüüni auf dem Tisch; ich richte mich auf, das Mädchen winkt aus der Waschküchentür. Als ich eintrete, ist Vroni mit der Wäscherin allein; die Mutter bereitet oben den Imbiss zu. Frau Ess, die Ärmel ihres Überkleids aus ausgebleichtem blauem Leinen hinter die Ellenbogen gerollt, steht in der schwarzen Gummischürze vor dem Siedekessel. Mit einem letzten Schnorcheln zieht sie den Stössel heraus und versenkt ihn linker Hand im Vorwaschtrog, wo die zweite, längst eingeweichte Portion bis obenauf schwimmt. Sie ergreift einen fasrigen schneeweissen Holzstab, sticht damit in die dampfende Tiefe des Kessels und hebt mit einem Stöhnen der Anstrengung die erste Wäscheladung, alles Bettlaken, aus dem Sutt. Sie dreht, lässt abtriefen, dreht; die Leintücher winden sich zu einem dicken Wulst um das Stangenende. Nun flutscht sie den dampfenden Knäuel in weitem Bogen in den Spültrog. Vroni dreht bis zum Anschlag an den Flügeln des Kaltwasserhahns, das Wasser spritzt. Genug! Mit dem Stössel vertreibt Frau Ess die Laugereste aus der gesottenen Wäsche. Inzwischen schöpft Vroni mit dem Goon, einer langstieligen, etliche Liter fassenden Blechkelle, das verbrauchte Wasser aus dem Siedekessel und giesst es in den kleinen Betonkännel am Fuss der Waschküchenwand; milchig trüb rinnt es dahin. Zuletzt ergreift Frau Ess den Siedekessel an beiden Messinghenkeln, hebt ihn heraus und schüttet den Rest der Lauge durch die Dole hinter der Türschwelle. Vroni wartet am Schwenkhahn; der Kessel wird wieder eingesetzt, Heisswasser für den zweiten Sud läuft ein. Mit beiden Händen hebt Frau Ess die Ladung – Frottierzeug, Kissenbezüge, Servietten – aus dem Vorwaschtrog, lässt sie abtriefen und klatscht sie in den Siedekessel, dann zerrt sie an einem Bändel und zieht sich die schwarze Gummischürze wie eine enge Haut vom massigen Leib. Wieder steht sie in verwaschen blauem Leinen da. Vroni hat Holz nachgelegt; Frau Ess dreht den Heisswasserhahn am Schwenkarm zu und stülpt den Deckel über den zweiten Sutt. Wir treten erst in den Kellervorraum, dann in den gefliesten Korridor hinter der Haustür, steigen die Kunststeintreppe hoch in den Flur und lassen dort die trotz der Holzpritschen durchnässten Schuhe neben der Schwelle der verglasten Esszimmertür stehen.
Drei Frauen und ein Bub versammeln sich am Tisch mit den gerundeten Schmalseiten; ich bin stolz, als ob auch ich schwer gearbeitet und die Zwischenmahlzeit verdient hätte. Sie sitzen auf den Stühlen mit blaugrünen Samtpolstern, mir haben sie mein Rosshaarkissen an den Platz des Vaters auf der Eckbank gelegt, wo die östliche und die südliche Fensterfront zusammentreffen. Frau Ess, welcher dieser Ehrenplatz gebührte, hätte Mühe, sich zwischen Tisch und Bank durchzuzwängen. Schwarzbrot, Butter, Käse, dazu Schwarztee in preussischblauen Steinguttassen. Frau Ess behandelt sie mit Ehrfurcht, obwohl sie wie Spielzeug in ihren fleischrosigen Wäscherinnenhänden liegen.
Draussen blinken die jungen Blätter in der Sonne. Wieder mal Glück gehabt, sagt Frau Ess. Gestern, als es nicht aufhören wollte zu regnen, bin ich mir nicht sicher gewesen, ob wir heut die Wäsche draussen würden trocknen können. – Ja, der Föhn, antwortet meine Mutter. Wir werden nach dem Zvieri die Leintücher abnehmen, nicht wahr, Vroni? Vroni nickt. Um diese Zeit allerdings wird Frau Ess sich verabschiedet haben. Noch eine Tasse, Frau Ess? – Wenn ich so frei sein darf. – Und bedienen Sie sich mit Butter und Käse. – Sehr gerne, ein herrlicher Greyerzer. – Vroni, sei so lieb und hol den Kuchen. Vroni geht hinaus, kommt zurück. Die Frauen reden halblaut, eigentlich nur über das, was vor den Augen oder unter den Händen ist. Ihr Gespräch entfernt sich allmählich, wird zum murmelnden Hintergrund, und die Vormittagssonne hüllt mich und meine halb wachträumenden Gedanken in einen warmgoldenen Kokon.
Geborgen im Schutz der drei Frauen, blicke ich von der einen zur andern. Vronis andächtiges Gesicht scheint darauf zu warten, dass man ihm etwas vorschwindelt. Ich wandere mit den Augen weiter, sehe durch die Ostfenster zu den Kirschbäumen hinüber, die bereits abgeblüht haben, mache einen Sprung in die Tiefe des Bilds, wo die hellgrünen Buchenmassive des Waldrands den Osthorizont schliessen. Ich schwimme jetzt in einem körperwarmen, leicht zu atmenden Element, mir kann nichts geschehen, ich bin zu Hause, dies sind drei Frauen, die eine Pause in der grossen Wäsche eingelegt haben, sie gehören ein bisschen mir, wie auch ich ein bisschen ihnen gehöre, im Flur hinter der verglasten Tür ist der Spielzeugschrank, und ich sitze am Platz des Vaters. Alles ist am richtigen Ort und leicht erreichbar, die Sonne macht die Worte der Frauen hell und wärmt mich; wenn ich die Augen schliesse und sie mir durch die Lider scheinen lasse, tauche ich durchs Rote Meer und weiss: Nie kann es anders werden.
→Apfelstrudel →Dampfdreirad →Langweil →Das Teeservice →Vroni B.