Kitabı oku: «Die lange Nacht», sayfa 2
Das Leben im Getto
Am 1. September 1939 wurden wir frühmorgens durch laute Donnerschläge geweckt. Wir konnten nicht unterscheiden, ob es sich um Bombenabwürfe handelte oder ob das Gedonner von Flakgeschützen herrührte. Zugleich forderte der Rundfunk unablässig zur Landesverteidigung auf: zum Luftschutz, zum Dienst beim Roten Kreuz, zum Grabenausheben. Der Krieg des nationalsozialistischen Deutschland gegen Polen hatte unwiderruflich begonnen. Ununterbrochen brausten Flugzeuge über uns hinweg, wir konnten jedoch nicht unterscheiden, ob es sich um eigene oder feindliche handelte. Gegen Mittag verbreitete sich die Nachricht, dass die deutsche Wehrmacht die Grenze überschritten habe und schon etwa 30 km tief in polnisches Gebiet einmarschiert sei. Diese Nachricht löste in mir seltsamerweise kein Angstgefühl aus. Ich dachte zunächst auch nicht daran, einen der Luftschutzräume aufzusuchen. Voller Spannung, aber nicht unruhig beobachtete ich das Manövrieren der Flugzeuge und fühlte, dass nun ein neuer Abschnitt der Geschichte begonnen hatte.
Die ausweglose Situation der jüdischen Jugend unter dem ultranationalistischen polnischen Regime des Obersten Beck hatte bewirkt, dass auch ich eine Veränderung der bestehenden Gesetzlichkeit unseres Lebens herbeisehnte. Wie freilich diese Veränderung aussehen sollte, davon hatte ich nur vage Vorstellungen, es waren mehr Wünsche und Ahnungen. Als ich mittags zufällig bei einem Fliegerangriff in einem Hausflur mit dem Polizeipräsidenten unserer Stadt beisammen war, merkte ich, wie dem gefürchteten Mann beim Einschlagen der Bomben die Hände zitterten und gleich so, dass er die Zigarette nicht zum Munde führen konnte. Er, vor dem sonst die ganze Stadt in Ehrfurcht erstarrte, stand versteckt, geduckt und zitternd unter der steinernen Stiege. Das Bild erschütterte mich und ließ mich plötzlich ahnen, dass die Situation um vieles ernster sein musste, als ich im Augenblick wahrhaben wollte.
Dies war auch der erste Freitagabend, an dem das Schabbatfest nicht geheiligt wurde. Dass die Familienfeier so schweigend übergangen wurde, stimmte mich traurig. In unserer Wohnung waren viele Nachbarn versammelt, und wir hörten zusammen die großsprecherischen Reden der polnischen Militärführung an, die versprach, man werde die deutschen Eindringlinge bald schlagen und verjagen.
Die Neuigkeiten überschlugen sich. Versprengte polnische Soldaten erzählten von aufgeriebenen Kompanien, von der motorisierten deutschen Wehrmacht, die auf uns zurollte. Eine drückende Stimmung legte sich auf uns – verschwunden war meine Gier, Interessantes zu erleben. Langsam wurde mir klar, dass die Flugzeuge alle deutscher Herkunft waren und das polnische Militär dem deutschen Einbruch keinen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Samstag früh sahen wir, wie sämtliche Regierungsgebäude evakuiert wurden. Das gesamte öffentliche Leben und der Verkehr waren bereits lahmgelegt. Gerüchte gingen um, dass Panzerspitzen der deutschen Wehrmacht schon vor unserer Stadt stünden und dass besonders die Männer von der deutschen Wehrmacht Gewalttaten befürchten müssten.
Mit ein wenig Handgepäck machten mein Vater, einige Nachbarn und ich uns auf den Weg, der uns zur nächsten östlich gelegenen Ortschaft führen sollte. Meine übrigen Angehörigen waren schon am Tag zuvor geflüchtet. Die Straßen waren mit Flüchtlingen verstopft, viele zogen Ochsen, Kühe oder Ziegen hinter sich her. Andere schoben kleine Handwagen, auf denen sich ihre ganze Habe befand. Obenauf saßen weinende Kinder. Umherirrende Kinder schrien nach ihren Eltern, die sie in dem Gewimmel verloren hatten. Der ganze Zug wirkte chaotisch und gespenstisch. Artilleriegeschosse pfiffen über unsere Köpfe hinweg und erfüllten uns mit Angst und Schrecken. Wir kamen nur langsam vorwärts, denn das Militär sperrte zeitweise die Straßen ab. Ich sah überall in erschrockene Gesichter, alles schien in Auflösung begriffen. Gerüchte wollten wissen, dass sich Hunderte von Spionen, als polnische Soldaten und Offiziere verkleidet, unter der flüchtenden Menge befanden und den deutschen Flugzeugen Zeichen gaben. Uns zur Seite ritt ein polnischer Offizier, und neben ihm, an ein Pferd gebunden, lief ein Soldat, angeblich ein deutscher Spion. Die aufgebrachte Menge stieß und schlug auf ihn ein.
Am Sonntag kamen wir im Morgengrauen bei unserer Großmutter in Pilica an, wo uns unsere Mutter mit den Geschwistern erwartete. Nachmittags berieten die Familien, ob man weiterflüchten oder bleiben sollte. Der Vormarsch der deutschen Truppen setzte jedoch den Beratungen ein Ende. Vorhuten der Deutschen waren schon in die Ortschaft eingedrungen. Als wir am nächsten Morgen erwachten, wimmelten die Straßen von deutschen Panzerwagen und Soldaten. Nachbarn kamen und sagten, es sei alles gar nicht so schlimm, wie man sich immer erzählte. Die Soldaten seien friedlich, sie unterhielten sich mit den Männern, teilten Schokolade an die Kinder aus und täten niemandem etwas zuleide. Unsere jüngste Tante ging auf die Straße hinaus, um sich von der Wahrheit dieser Worte zu überzeugen. Als sie nach einiger Zeit zurückkam, bestätigte sie die allgemeinen Aussagen. So gingen einige Stunden ohne weitere Behelligung vorbei. Plötzlich war eine wilde Schießerei zu hören. Wir spähten durch das Fenster auf die Straße und sahen gerade noch, wie sich deutsche Soldaten auf den Boden warfen und ihre Gewehre in Anschlag brachten. Eine Nachbarin kam mit der Nachricht, dass im Nebenhaus deutsche Soldaten bereits die Männer aus der Wohnung holten. Wir liefen in den Keller hinunter und versteckten uns. Gleich darauf erschienen auch bei uns Soldaten in der Wohnung und befahlen: »Alle Männer raus!« Über unseren Köpfen dröhnten die schweren Tritte der Stiefel und wildes Geschrei: »Verfluchtes Pack! Wo sind die Männer?« Einen Augenblick lang hielten wir den Atem an, dann aber leuchteten uns Taschenlampen ins Gesicht, und unsere Häscher trieben uns mit Gewehrkolben und Fußtritten auf die Straße, wo schon mehrere Männer versammelt waren. Als wir zu einer größeren Gruppe angewachsen waren, führten uns einige Soldaten auf den Marktplatz. Hunderte von Männern standen hier zusammengedrängt, umgeben von Soldaten mit schussbereitem Gewehr.
Einige schossen in die Luft, um die allgemeine Verwirrung zu steigern. Dann ertönten die Kommandorufe: »Reihenweise zu fünft aufstellen! Auf geht’s! Marsch! Marsch! Schnell anschließen!« So marschierten wir mit ungewissem Ziel aus der Ortschaft hinaus, bis wir vor einer großen Fabrikhalle haltmachten, in die wir mit Geschrei und Schlägen hineingepfercht wurden. Sofort traten die älteren Männer zusammen, um eine Delegation zu wählen, die sich erkundigen sollte, warum man uns hier gefangen hielt. Nach ihrer Rückkehr erzählten die Männer, man habe von einem Versteck aus auf deutsche Soldaten geschossen und jeder zehnte Mann von uns würde erschossen werden, falls wir die Schuldigen nicht preisgäben. Unsere Delegierten forderten uns auf deutsch, polnisch und jiddisch auf: Wer ein Gewehr besitzt, soll sich melden! Aber niemand meldete sich. Schließlich beschworen sie uns eindringlich, diejenigen, die Waffen besäßen, sollten vortreten. Um den Rabbiner versammelten sich nun die Gemeindeältesten und berieten, wie ein großes Blutvergießen zu vermeiden sei.
Schließlich traten einige alte Männer auf die Gruppe der Beratenden zu und teilten ihnen ihren Entschluss mit, ihr Leben freiwillig für das der übrigen Gemeindemitglieder zu opfern. Ich drückte mich indessen fester an meinen Vater, der traurig, aber gefasst abseits stand. Er war voll düsterer Vorahnungen. »Wir sind zu spät davongelaufen«, sagte er zu mir. »Schon vor einem Jahr hätten wir Europa verlassen sollen, das wäre richtig gewesen.« Unter schwerer Bewachung wurden wir schließlich von den Soldaten von der Fabrikhalle hinaus ins freie Feld geführt und erhielten den Befehl, uns hinzulegen. Jeder zitterte vor Angst, da er glaubte, er könne jener Zehnte sein, der das Leben lassen sollte. In diesem Augenblick hielten vor uns einige Militärautos. Ein hoher Offizier stieg aus und versammelte die übrigen Offiziere um sich. Nach einigen Minuten Beratung erhielten wir den Befehl: »Aufstehen! Ihr könnt wieder nach Hause gehen! Ihr seid frei!«
Nachträglich erfuhren wir, dass man tatsächlich auf deutsche Soldaten geschossen hatte, worauf der Kommandeur den Befehl gegeben hatte, alle Juden zusammenzutreiben und jeden zehnten zu erschießen. Inzwischen aber hatte die Feldgendarmerie die wirklichen Täter aufgespürt. Es waren einige versprengte polnische Soldaten, die entschlossen waren, unter allen Umständen Widerstand zu leisten. Sie hatten sich auf dem Kirchturm verschanzt und von dort aus auf die deutschen Soldaten geschossen.
Noch einmal war uns die Rückkehr ins großelterliche Haus vergönnt. Wie glücklich leuchteten die Augen unserer Mutter, als wir zurückkamen. Im Überschwang der Freude waren wir geneigt, gleich alles zum Guten auszulegen, und meinten, dass die Deutschen wohl nichts Böses im Schilde führten und mit ihren Maßnahmen nur die Schuldigen zu treffen suchten; benähme sich nur jeder vorschriftsmäßig, so würde ihm kein Unrecht geschehen. Von anderen Ortschaften jedoch drangen bedrohliche Nachrichten zu uns. Man erzählte, dass man Männer zu Hunderten erschossen habe und dass im Chaos der Besetzung ganze Ortschaften ausgesiedelt worden seien. Andere Gerüchte dagegen besagten, dass in manchen Städten vollkommene Ruhe und Ordnung herrsche. Die deutsche Besatzung habe dort befohlen, die Geschäfte wieder zu öffnen, die Betriebe wie bisher weiterzuführen; mit einem Wort, sie sorge für eine schnelle Normalisierung des Lebens, ohne aber bei der Behandlung der Bevölkerung einen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden zu machen.
Auch hier in dem kleinen Städtchen Pilica legte sich die anfängliche Aufregung wieder. Wir konnten sehen, wie die Soldaten sich friedlich mit der Bevölkerung unterhielten. Man tat niemandem etwas zuleide, und so wich die Angst langsam von uns. Gerüchten von Geiselerschießungen und Gräueltaten, die sich in anderen Ortschaften ereignet haben sollten, wollten wir einfach kein Gehör mehr schenken. Zu tief war in der jüdischen Bevölkerung der Glaube eingewurzelt, dass die Deutschen ein Volk von hoher Kultur seien, bekannt als Träger humanitärer und freiheitlicher Ideen, das Volk der Dichter und Denker. Die ältere jüdische Generation wusste noch von Begegnungen mit dem Deutschland vor 1918 zu berichten, zudem sie Vertrauen hatten und dem sie Respekt entgegenbrachten. So neigten auch jetzt die meisten Juden dazu, die verschiedenen Gräueltaten, von denen sie hörten, nur als unvermeidbare Ausschreitungen einzelner Frontsoldaten auszulegen, und hofften im Übrigen, der humanitären Gesinnung des deutschen Volkes vertrauen zu können, die sich zeigen musste, sobald die Frontsoldaten abgezogen waren.
Nach einem Aufenthalt von zwei Wochen beschloss auch meine Familie, wieder in die Heimatstadt zurückzukehren. Auf dem Rückweg begegneten uns unaufhörlich Einheiten aller Waffengattungen der deutschen Wehrmacht, die nach Osten marschierten. Doch man hinderte und belästigte uns nicht auf dem Heimweg. Als wir schließlich wieder zu Hause eintrafen, verkündeten uns große Plakate, dass alle Juden männlichen Geschlechts ab dem 14. Lebensjahr sich in der großen Textilfabrik einzufinden hätten. Da dieser Befehl jedoch schon eine Woche alt war, befolgten wir ihn nicht. Die Juden, die bereits in den großen Fabrikhallen interniert waren, wurden noch weitere zehn Tage festgehalten und schließlich wieder entlassen.
Der Feldzug gegen Polen ging schnell zu Ende. Die Besatzungsmacht bemühte sich zunächst, das tägliche Leben wieder in Gang zu bringen. Doch einige Einschränkungen für Juden waren in Kraft, so das Verbot, die Wohnungen nachts zu verlassen, Gottesdienst oder Versammlungen anderer Art abzuhalten. Die Synagoge wurde gesperrt und die jüdischen Schüler von den Schulen, in denen wieder normaler Unterrichtsbetrieb herrschte, ausgeschlossen. Immer häufiger und rücksichtsloser wurden wir bei Arbeiten aller Art eingesetzt. So zwang man die Männer besonders am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen zur Arbeit. Mit vielen anderen holte man eines Tages auch mich an unserem größten Feiertag, dem Versöhnungstag, damit ich beim Abladen von Kohlen am Bahnhof mithelfe. An diesem Tag, der für uns ein strenger Fasttag ist, trieb man uns in die Waggons, die von je zwei jungen Wehrmachtsangehörigen bewacht waren. Der Kohlenstaub brannte uns in den Augen und trocknete uns den Mund aus, aber man erlaubte uns nicht, die Waggons zu verlassen, um etwas zu trinken. Einer der jungen Soldaten war gutmütig und erlaubte uns, Ruhepausen einzulegen, da uns die Hände, die an die schwere Arbeit nicht gewöhnt waren, vom Schaufeln brannten. Erschien aber sein strenger Begleiter, so passte er sein Verhalten dem seines Vorgesetzten an. Solche Schikanen zeigten uns deutlich unsere Situation. Aber noch wollten wir versuchen auszuwandern. Wir nahmen Verbindungen mit verschiedenen Konsulaten auf und nährten eine Zeitlang Hoffnungen, die dann wieder kläglich dahinschwanden. Allgemein gab man sich dem trügerischen Glauben hin, der Krieg könne nur wenige Monate dauern. Sei er aber einmal zu Ende, so gäbe es bestimmt eine Möglichkeit zum Auswandern. Deshalb nahm man auch beherrscht Schikanen und Entrechtung hin und wollte in ihnen nur kriegsbedingte Maßnahmen sehen. Wir glaubten allen Ernstes, der Zwang, für die Besatzungsmacht Arbeit zu leisten, sei das Schlimmste, was uns geschehen könnte, und das sei, wenn nötig, mit Geduld zu ertragen.
Einige Monate nach Beendigung des Polen-Feldzuges hatte man unser Gebiet, Polnisch-Oberschlesien, dem Deutschen Reich eingegliedert. Unsere Stadt mit dem polnischen Namen Zawiercie wurde in »Warthenau« umbenannt. Durch Schikanen wollte man die nichtjüdische polnische Bevölkerung nötigen, sich als Volksdeutsche zu melden. Man spiegelte ihr vor, sie stiege damit zum »Herrenvolk« auf. Aber weite Kreise wehrten sich dagegen, allen voran die Mitglieder der sozialistischen Partei PPS, von denen viele verhaftet wurden, um den Widerstand der Polen zu brechen. Die ersten »Volksdeutschen« waren vor allem polnische Geschäftsleute, die Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen in ihre Auslagen stellten. Gleichzeitig wurden die Juden unter Androhung schwerer Strafen gezwungen, weiße Armbinden mit einem gelben Stern zu tragen, in den das Wort »Jude« eingedruckt war. So wurden wir Gezeichnete, Menschen zweiter Klasse.
Auf Befehl der Gestapo bildete sich ein »Judenrat«, dem aufgetragen wurde, Kontributionsgelder einzutreiben und den deutschen Behörden täglich einige hundert Männer für verschiedene Arbeiten zur Verfügung stellen. So musste auch ich mich zunächst jeden zweiten Tag zum Arbeitseinsatz melden. Wir wurden damit beschäftigt, die Straßen zu reinigen, die Polizeireviere sauber zu machen, Pferdeställe in Ordnung zu halten und verschiedene Transportarbeiten auszuführen. Oft genügte die Zahl der Arbeiter nicht, die dem Judenrat zur Verfügung stand, dann holte die deutsche Polizei gewaltsam jüdische Männer aus ihren Wohnungen.
Anfang 1940 hatte man die Juden aus dem deutschen Grenzgebiet um Teschen und Kattowitz ausgesiedelt und in unseren Kreis eingewiesen. Auch in unsere Stadt kamen einige hundert Familien. Die Vertriebenen hatten aus ihren Wohnungen nur einen Koffer Wäsche mitnehmen dürfen und waren völlig mittellos, da man ihnen alles Bargeld abgenommen hatte. Das heillose Elend der Vertreibung stand uns nun erstmals vor Augen. Auch in unserem Haus musste man für einige vertriebene Familien Platz machen, sie mit dem notwendigsten Hausrat versorgen und ihnen mit Geld aushelfen, damit sie die ohnehin kärglichen Lebensmittelrationen auf Karten kaufen konnten. Alle Bedürftigen wurden schließlich von der jüdischen Wohlfahrt betreut. Sie richtete Wohlfahrtsküchen ein, in denen die Mittellosen umsonst essen konnten, und gab kostenlos Lebensmittel aus. Unter den Familien, die in unser Haus aufgenommen wurden, war auch eine Familie mit vielen Kindern aus der deutsch-polnischen Grenzstadt Tarnowitz. Der Vater der Familie, Herr Hadda, war ein stolzer deutscher Nationalist, im Ersten Weltkrieg war er Offizier gewesen, hatte dann die oberschlesischen Kämpfe mitgemacht. Für seine Heldentaten im Kampf um Annaberg hatte er eine hohe Auszeichnung erhalten, und stolz erzählte er, dass auch auf seine Initiative hin das oberschlesische Gebiet Annaberg verteidigt und für das Deutsche Reich erhalten wurde. Täglich predigte er uns, dass es sicher ein Irrtum sei, dass gegenwärtig die deutschen Juden in alle Schikanen und Verfolgungen einbezogen wurden. »Es sind nur die Ostjuden gemeint«, sagte er. Und oft gebrauchte er sogar den Ausdruck »der Führer«, ein Wort, das er mit Stolz und Respekt aussprach. Er meinte, es wären nur kriegsbedingte Vorsichtsmaßnahmen, dass man die deutschen Juden verfolge. Sobald der Krieg vorbei sei, würde man ihnen ihre Rechte wiedergeben. Doch auch ihm, dem begeisterten Patrioten, sollten seine Kriegsauszeichnungen, die er für seinen tapferen Kampf ums deutsche Vaterland erhalten hatte, wenig nützen. 1943 wurde er zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz gebracht und mit anderen jüdischen Einwohnern von Zawiercie vergast und verbrannt.
Der Frühling 1940 zeigte seine ersten blutigen Spuren. In einer Nacht verhaftete man zwölf Personen, meistens junge Menschen, die sofort verschwanden, ohne dass man je wieder von ihnen hörte. Es hieß, dass die deutschen Behörden aus Sicherheitsgründen alte Kommunisten in ihrem Gewahrsam haben wollten. Unter den Verhafteten waren aber nur wenige Kommunisten. Auch unser Nachbar Yehuda Grünkraut wurde in dieser Nacht von der Gestapo geweckt. Er musste sich eilig anziehen und mitkommen. Grünkraut war ein aktives Mitglied der zionistischen Bewegung »Bejtar«, einer rechtsgerichteten nationalen Partei. Die Verhaftung Grünkrauts war auf eine Denunzierung zurückzuführen. Überhaupt blühte das Denunziantentum. Die Zuträger waren meist Polen, die sich nun als Volksdeutsche bei der Gestapo meldeten und sich als emsige Helfer verdingten. Um der Gestapo ihren Eifer zu beweisen, stellten sie willkürlich Namenslisten zusammen. Auf Grund dieser Listen wurden oft Menschen verhaftet, an denen die Gestapo gar nicht interessiert war. Nach einigen Wochen erhielten die Eltern Grünkrauts ein Kleiderpaket und die Nachricht, dass ihr Sohn an Herzschwäche verstorben sei. In dieser Zeit wurde ich einmal das Opfer einer Namensverwechslung. Wie schon erwähnt, musste die jüdische Gemeinde oder, wie sie sich jetzt nannte, der »Judenrat«, eine ziemlich hohe Kontributionssumme an die deutsche Verwaltung abliefern. Da die Summe nicht rechtzeitig beschafft werden konnte, verhaftete die Gestapo dreißig Juden, die man vornehmlich aus den Reihen der wohlhabenden älteren Bürger unserer Stadt wählte. Auch der Name Bornstein stand auf ihrer Liste. So geschah es, dass eines Tages zwei Gestapobeamte bei uns erschienen und mich mitnahmen, da ich zufällig allein zu Hause war. Zusammen mit einigen anderen Leidensgefährten wurde ich auf einem Lastwagen nach Sosnowitz gebracht, wo die SS ein Ausbildungslager hatte. Jungen SS-Leuten wurde dort der »richtige« Umgang mit Untergebenen und Gefangenen beigebracht. Zum ersten Mal in meinem Leben verbrachte ich Tag und Nacht in der Nähe der SS. Wie sich herausstellte, sollten wir als Versuchstrupp für die SS dienen. Die Nächte verbrachten wir in einem zugigen Schuppen, in voller Bekleidung auf harten Holzpritschen ausgestreckt. Frühmorgens weckte uns ein durchdringendes Pfeifsignal. Wir bekamen eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Stück Brot, dann wurden wir auf den Exerzierplatz getrieben. Nun begannen stundenlange strapazierende Übungen, denen viele von uns nicht gewachsen waren. Den Erschöpften wurde mit Schlägen wieder auf die Beine geholfen.
So vergingen einige Tage in ständiger Hetze. Später schickte man uns ohne weitere Erklärung wieder nach Hause. In unserer Heimatstadt fanden wir schlimme Veränderungen vor. Wir stießen unvermittelt auf so ungewohnte Beschränkungen und Einengungen, dass die eben erduldeten Demütigungen daneben geringfügig erschienen. Hatte man schon bisher jüdische Familien, die in der Nähe von öffentlichen Ämtern und Behörden lebten, zur Umsiedlung in andere Straßen und Stadtteile gezwungen, so waren diese vereinzelten Maßnahmen nun zu einer Großaktion ausgeweitet worden, deren Ziel auch dem Wohlmeinendsten nicht verborgen bleiben konnte: Man baute planmäßig ein Getto auf, in dem wir bald wie in einem Käfig lebten. Da der Zustrom der jüdischen Bevölkerung von den umliegenden Stadtteilen anhielt, nahm die Wohnraumnot ständig zu – nicht zu sprechen von der finanziellen und wirtschaftlichen Notlage, da ja besonders die geistig Schaffenden durch die behördlichen Zwangsmaßnahmen aus ihren Stellungen verdrängt worden waren und keine Möglichkeit hatten, eine neue Existenz aufzubauen.
Wir erhofften uns nichts Gutes von den kommenden Tagen und versuchten, wenigstens einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So besorgten wir uns bereits im Sommer schwere Winterschuhe und Winterkleidung, da sich hartnäckig das Gerücht hielt, dass für die Juden Arbeitslager errichtet würden und unser aller Weg dorthin führen musste. Aber noch fanden einige Polen Mittel und Wege, in unser Getto zu kommen und uns zusätzlich mit verschiedenen Lebensmitteln und anderen Dingen zu versorgen, die es bei uns schon nicht mehr gab. Besonders Textilien standen hoch im Kurs. Langsam schwand unser Hab und Gut bei diesen Tauschaktionen dahin.
Die Mühen und Gefahren, die wir auf uns nehmen mussten, um das tägliche Leben zu fristen, lenkten uns zunächst von allen Zukunftsplänen ab. Der Spuk musste ja einmal ein Ende nehmen. Im Übrigen hatten wir längst keine Möglichkeit mehr, aktiv über unser Schicksal zu bestimmen. Jeder wusste, dass eine Flucht aus dieser Gefangenschaft von vorneherein zum Scheitern verurteilt war.
Bald darauf wurden die Schikanen weiter verschärft. Eine neue Verordnung zwang alle Juden, ihre Geschäfte Treuhändern zu übergeben. In unserem Gebiet wurden einige hundert Ruthenen- Deutsche angesiedelt, denen die jüdischen Geschäfte übereignet wurden. Auch mussten einige hundert jüdische Familien ihre Wohnungen räumen, um für die Volksdeutschen Platz zu schaffen, so dass das Getto immer kleiner und der verbliebene Raum immer überfüllter wurde, denn die Obdachlosen mussten wiederum bei anderen jüdischen Familien Unterschlupf suchen. Im Spätsommer 1940 erhielt der Judenrat den Befehl, einige hundert Männer zum Arbeitseinsatz zur Verfügung zu stellen. Sie sollten beim Bau der Autobahn eingesetzt werden. Als ich erfuhr, dass auch mein Name auf der Verschickungsliste stand, flüchtete ich und versteckte mich zwei Wochen lang in der benachbarten Stadt. Erst als der Transport für dieses Zwangsarbeitslager abgegangen war, kehrte ich zurück. Inzwischen waren einige meiner Kameraden verschleppt worden. Der Kummer ihrer Angehörigen war so groß, dass ich es verständlicherweise nicht wagen konnte, ihnen gegenüberzutreten, da ich dem Schicksal der Verschleppten noch einmal entgangen war.
Kaum erholte man sich von einem Schlag, folgte der nächste. Vermögensenteignung und Sklavenarbeit waren an der Tagesordnung. Wir waren Freiwild für die deutsche Polizei und die Besatzungsbehörden, da jeder von ihnen die Möglichkeit hatte, jüdisches Eigentum zu konfiszieren und jüdische Menschen abzuführen und zu verschleppen. Wir waren umgeben von strengen deutschen Bewachern, und zu ihnen gesellten sich jene feindselig gesinnten Polen, die sich jetzt als Volksdeutsche fühlten und die Unterdrücker eifrig unterstützten. Es gab aber auch Polen, die zu uns Juden gute Beziehungen unterhielten. Meist waren es einfache Arbeiter oder kleine Bauern, fromme und aufrichtige Katholiken, die jede noch verbliebene Möglichkeit ausnützten, uns zu helfen. Freilich waren ihre Bemühungen nicht ungefährlich, denn die Hilfsbereiten mussten die Macht jener einflussreichen Polen fürchten, die judenfeindlich gesinnt waren. So konnten wir keine entscheidende Hilfe erwarten. Der Fluchtweg war von einer unbezwingbaren Mauer verstellt. Nicht nur die Besatzungsmacht riegelte uns von der Außenwelt ab, auch die breite Schicht der polnischen Bevölkerung bildete eine Art Sperrmauer. Die systematisch durchgeführte Judenhetze in Bild und Schrift hatte in vielen Köpfen so viele Vorurteile erzeugt, dass man nie wusste, wie der betreffende Pole eingestellt war, an den man gerade geriet – judenfreundlich oder judenfeindlich. Mochte die Flucht infolge einer Verkettung von Glücksfällen gelegentlich Einzelnen gelingen, ganze Familien konnten nicht fliehen. Und welcher verantwortungsbewusste Familienvater oder Sohn hätte sich in solchen Notzeiten von den Seinen getrennt? So blieb kein anderer Ausweg als das standhafte Ausharren angesichts einer Gefahr, die täglich drohender auf uns zukam.