Kitabı oku: «Die lange Nacht», sayfa 3
Grünheide
Seit Anfang 1941 sprach man davon, dass die jüdische Jugend der benachbarten Städte zum dauernden Arbeitseinsatz ausgehoben worden sei. Da sich nicht genügend junge Leute zum freiwilligen Einsatz meldeten, führten die Gestapo und die unter ihrem Kommando stehende jüdische Polizei Überfälle auf die jüdischen Einwohner durch, holten sie nachts aus den Betten und verschickten sie zwangsweise in Arbeitslager. In nächster Zeit würden sich auch bei uns solche Überfälle ereignen, davon waren wir überzeugt.
An einem Freitag dieser schreckerfüllten Tage fanden wir uns zum letzten Male zur Heiligung des Schabbats ein. Die Zeremonie wurde in großer Hast durchgeführt. Bei zwei kleinen Kerzen, die unruhig flackerten und unser Zimmer spärlich beleuchteten, heiligte mein Vater mit dem stillen Schabbatgebet diesen sonst so fröhlichen, jetzt aber von Angst erfüllten Schabbatabend. Zitternd und mit ängstlichen Gesichtern saßen wir vier Kinder beim Gebet. Unablässig bohrte in mir der Gedanke: »Wer weiß, ob das nicht der letzte Schabbat ist, bei dem ich dem Gebet am Tische meines Vaters lausche.«
Nach dieser kurzen Andacht gab mir meine Mutter schnell das Päckchen mit dem Abendessen und geleitete mich mit tränenfeuchtem Gesicht aus dem Haus, denn ich musste nun schnell in mein Versteck verschwinden, um nicht nachts von der Gestapo geholt zu werden.
Einige Nächte hindurch versteckte ich mich bei christlichen Freunden, die außerhalb der Stadt wohnten. Dann aber blieb ich wieder im Elternhaus. Am Abend des 25. März – es war ein Dienstag – erzählte jemand, dass der Überfall für die kommende Nacht geplant sei. Bei dem letzten Überfall auf die benachbarte Stadt sei man vor Schießereien und Mord nicht zurückgeschreckt. Diese Berichte in ihren verschiedenen Versionen versetzten die jüdischen Einwohner in schreckliche Unruhe. War es wahr, dass man Leute, die man in ihrem Versteck aufgestöbert hatte, an Ort und Stelle erschossen hatte? Dass man ganze Familien als Geiseln verschleppt hatte, wenn irgendein gesuchtes Familienmitglied unauffindbar war? Solche Nachrichten ließen uns das Blut in den Adern gefrieren, und wir waren überzeugt, dass auch wir bald voneinander Abschied nehmen müssten. Manche Familien rannten planlos auseinander, um sich in Schlupfwinkeln außerhalb der Stadt zu verstecken.
Die angsterfüllten Nächte schienen kein Ende zu nehmen. Ich wanderte nachts von einem Versteck zum anderen. Einmal hauste ich auf dem Speicher, dann wieder im Keller, immer in der Hoffnung, meinen Verfolgern zu entkommen. An jenem Dienstagabend also, als viele meiner Freunde wieder in ihr Versteck gelaufen waren, beschloss ich, zu Hause zu bleiben. Vergebens flehte mich meine Mutter an, ich solle mich verbergen. Ein plötzlicher Widerwille gegen dieses nächtliche Versteckspiel schwemmte alle Bedenken weg und zwang mich wider mein besseres Wissen, die Nacht im Hause zu verbringen. Ich beschloss, der wilden Panikstimmung nicht nachzugeben und ging ruhig zu Bett. Um vier Uhr morgens klopfte unsere Nachbarin an die Wohnungstür. Im Nu waren wir hellwach. Es war zwar stockfinster, aber von der Straße her drang wirrer Lärm herauf, und das Knallen schwerer Soldatenstiefel auf dem Steinpflaster ließ augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen wach werden. Mit einem Sprung war ich beim Fenster und schob vorsichtig den Vorhang beiseite. Ich glaubte, in einen gespenstischen Abgrund zu sehen. Die gegenüberliegenden Häuser wurden bereits von SS-Leuten bewacht. In einer Hand hielten sie das aufgepflanzte Gewehr, in der anderen eine Taschenlampe, mit deren Strahl sie die Häuserfront abtasteten. Aus einer Haustür wurden gerade Männer und Frauen mit Kolbenschlägen auf die Straße hinausgestoßen. Bei den Frauen vergewisserte man sich rasch, ob sie nicht verkleidete Männer waren. Dann stieß und schlug man sie in das Haus zurück. Mutter und Geschwister hatten diese Szene vom Fenster aus beobachtet und begannen laut zu weinen. Ihre Klagen und dazu die lähmende Furcht vor dem nun Kommenden ließen mich plötzlich an Händen und Füßen zittern. Mir begannen die Zähne zu klappern, und nur taumelnd konnte ich mich aufrechterhalten. Ich war völlig ratlos, was ich nun mit mir beginnen sollte. Wohin konnte ich jetzt noch laufen, um mich zu verstecken? Alle Überlegung war sinnlos, denn für eine Flucht war es zu spät. Ich umarmte meine Mutter und bemühte mich, ihren Tränenstrom zu stillen. »Ich will schnell weglaufen und versuchen, mich irgendwo zu verstecken«, versprach ich ihr. »Ich glaube, bei den Nachbarn findet sich noch ein Unterschlupf.« So rannte ich schnell in den ersten Stock hinunter zu den Nachbarn. In höchster Eile beschlossen wir, einen großen Schrank vor die Zimmertür zu stellen, hinter der wir uns verbergen wollten. Der Schrank war aber nicht hoch genug, um die Tür ganz zu verdecken. So schob uns die Frau des Nachbarn kurzerhand in den Schrank hinein und deckte uns mit den darin hängenden Kleidern zu. Noch ehe wir uns in unserem Versteck eingerichtet hatten, hörten wir schon das ohrenbetäubende Geschrei von Gestapo und Polizei: »Männer raus! Verfluchte Juden raus!« Die schweren Schritte kamen auf uns zu, und ehe wir uns besinnen konnten, waren die SS-Männer schon in der Wohnung und rissen auch die Schranktür auf. Mit Hurrageschrei durchwühlten sie den Schrank und stießen uns schimpfend heraus, ein Hagel von Schlägen mit dem Gewehrkolben ging auf uns nieder. Von Fußtritten angetrieben, liefen wir zur Treppe, und ein Stoß beförderte uns die ganze Stiege hinunter. Unten stieß man mich zu den schon versammelten Nachbarn. Meine Mutter stand im zweiten Stock und sah mit Tränen in den Augen dieser Szene zu. Ich blickte hinauf zu ihr – gerne hätte ich sie noch ein letztes Mal umarmt und mich von ihr verabschiedet. Aber Schläge und Kolbenhiebe stießen mich immer weiter weg von unserem Heim und trieben mich der großen Schar der Leidensgenossen zu. Auf der Straße stand schon dichtgedrängt eine Menge von Männern, von denen manche blutig geschlagene Köpfe hatten. Augenblicklich wurden wir von Gendarmerie und Polizei umzingelt, die uns von nun an mit aufgepflanztem Gewehr bewachten. Als unsere Schar groß genug war, hieß es: Vorwärts, marsch! Schließlich kamen wir zu einer Fabrik, vor der uns schon eine große Gruppe von Gefangenen erwartete.
Gendarmerie, Polizei und Gestapo hatten bereits ein Spalier gebildet, mit Gewehrkolben und Knüppeln schlugen sie von rechts und links auf uns ein und trieben uns hindurch. Blutend und stöhnend erreichten wir die Fabrikhalle. Auch der Weg ins Innere der Halle war blutgetränkt, und in allen Ecken lagen Verwundete herum. Älteren Männern wurde der Bart ausgerissen, mit Stiefeln trat man ihnen in die blutigen Gesichter.
In all diesem Jammer fand ich auch meinen Vater wieder. Schweigend legte er mir die Hand auf die Schulter. Eine gemeinsame Trauer erstickte uns die Worte in der Kehle. Beide mussten wir an das Gleiche denken – an unsere Familie, die ohne Schutz und Hilfe zurückgeblieben war.
Mein Vater, der sich mit einigen anderen Bekannten in einem Nachbarhaus versteckt hatte, war schließlich auch entdeckt worden. Gestapo und Polizei waren dazu übergegangen, Speicherund Kellerräume mit Spürhunden zu durchsuchen und auszuheben. Einige seiner Freunde waren dabei so zusammengeschlagen worden, dass sie ihren Wunden erlagen; andere waren in ihren Verstecken erschossen worden.
Gegen Mittag war die Fabrikhalle überfüllt. Über tausend Männer verschiedenen Alters waren nun versammelt. Schließlich erschien der Gestapochef Knoll, der Leiter des Arbeitseinsatzes in Ostoberschlesien, begleitet von Gestapochef Lindner, mehreren Offizieren und einigen Leuten aus dem Judenrat1.
Die Leute vom Judenrat bestimmten einige Ordnungsmänner, die sie aus der Menge herausholten, und brachten schließlich zwei Ärzte mit, die den Verwundeten flüchtig einen Verband anlegten und sie von den Gesunden absonderten. Mit Hilfe der Ordnungsmänner mussten die Ärzte nun 500 der kräftigsten Männer aus unseren Reihen auswählen. Wir mussten uns ausziehen und hintereinander an dem Arzt, der von der Gestapo flankiert war, vorbeimarschieren. Der Arzt entschied über die Tauglichkeit und stellte die Gruppe der Gesunden zusammen. Plötzlich hieß es: »Ruhe!« Nun erklomm der Gestapoführer Knoll einen Tisch und hielt eine drastische Ansprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. »Eure Zeit ist sowieso vorbei«, sagte er. »Wer sich freiwillig meldet, kommt weg zur Arbeit, wird dort gut behandelt und kann dann nach einiger Zeit wieder zu seiner Familie zurückkehren. Er wird den nichtjüdischen Arbeitern gleichgestellt werden.«
Entsetzt vom Anblick der Verwundeten und Erschossenen, sagte ich zu meinem Vater, ich wolle mich freiwillig zum Arbeitseinsatz melden; er aber solle sich um seine Freilassung bemühen, um bei der Familie bleiben zu können. Insgesamt meldeten sich 150 junge Männer freiwillig. Als die Meldungen abgeschlossen waren, wurden wir aus der Halle hinausgeführt und in Omnibusse verfrachtet. Nun erst sahen wir die riesige Menge von Frauen und Kindern vor dem Fabriktor. Alle hielten sie bangend nach Männern, Söhnen oder Vätern Ausschau. Auf der Suche nach meinen eigenen Angehörigen sah ich endlich meine kleine Schwester Noemi, damals ein dreizehnjähriges Mädchen. Verzweifelt lief sie von Bus zu Bus, um einen von uns zu entdecken. Schließlich bemerkte sie mich, aber es wurde uns untersagt, die Fenster herunterzulassen. Auch durfte niemand den Bus betreten. Stumm sahen wir uns durch das Fenster an; wir hatten beide das Gefühl, dass das Schicksal etwas Schreckliches mit uns vorhatte. Diese Blicke waren das Letzte, was ich von meiner kleinen Schwester mitnahm.
Nach mehrstündiger Fahrt erreichten wir nachts ein hinter einem Wald gelegenes Gelände, auf dem einige halbfertige Baracken standen, unsere Behausung für die nun kommenden Wochen. Einige von uns wurden gleich zum Strohholen abkommandiert. Als sie zurückkamen, erzählten sie, das ganze Gelände werde von bewaffneten Posten in SA-Uniform bewacht.
Als wir die Baracken betraten, starrten uns leere Wände entgegen. Beleuchtung gab es nicht. Das Stroh wurde auf dem Boden verteilt und uns befohlen, uns hinzulegen und Ruhe zu bewahren. Lange lagen wir wach und versuchten, die Ereignisse der letzten 24 Stunden in unserem verwirrten Gedächtnis zu ordnen. Wie Traumvisionen zogen die grausigen Bilder an unserem inneren Auge vorbei. Noch begriffen wir nicht ganz, dass man uns endgültig aus unseren Familien und Heimen gerissen hatte, dass es für uns keine Rückkehr gab. Wir konnten und wollten es nicht fassen, dass all das wirklich geworden war, was wir bisher nur vom Lesen und Hörensagen gewusst hatten. In unseren Ohren gellte noch das Geschrei, mit dem das Inferno begann: Juden raus! Alle Männer raus! Auf unschuldige, ahnungslose Menschen hatte man mit Gewehrkolben eingeschlagen, hatte die blutigen Gesichter alter Männer zertreten, hatte ihnen Fetzen der Gesichtshaut mitsamt dem Bart ausgerissen. Es waren Bilder, die sich dem Gedächtnis für immer eingruben, Bilder, die jetzt, in der Gefangenschaft, immer wiederkehrten und uns quälten und peinigten.
Trotz all dieser Erlebnisse wollten wir die Hoffnung auf ein Weiterleben nicht aufgeben. Hatte uns die Gestapo nicht versprochen, wir würden als freiwillige Arbeiter gut behandelt werden?
Mit der Ungewissheit im Herzen, was wohl meinem Vater zugestoßen sein mochte, mit dem Gedanken an eine kummervolle Mutter, mit der Sorge um meine übrigen Geschwister fiel ich schließlich in einen unruhigen Schlaf. Morgens wurden wir durch Pfiffe geweckt, und der Schrei: »Aufstehen! Auf den Appellplatz hinaus!« ließ uns erschreckt hochfahren.
Sogenannte Kolonnenälteste wiesen uns an, wie wir uns aufzustellen hatten, während sich uns gegenüber eine Gruppe von über 100 Jugendlichen wie von selbst in Reih und Glied ordnete. Sie zählten militärisch ab und marschierten dann zum Lager hinaus, flankiert von SA-Leuten mit aufgepflanztem Gewehr. Nun kam eine Anzahl jüdischer Ordnungsmänner auf uns zu und erklärte uns das Antreten, Abzählen und Abmarschieren. Es waren Häftlinge, die schon einige Monate vor uns in das Lager eingewiesen worden waren, das Lager teilweise aufgebaut und auch die Verwaltungsposten übernommen hatten. An der Spitze der Lagerverwaltung stand ein von der SA bestimmter Judenältester, der sich seine Block- und Kolonnenältesten selbst gewählt hatte. Diesen Ältesten waren die Lagerinsassen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Je nach Sympathie oder Antipathie wurden die einzelnen Häftlinge zu leichteren oder schwereren, angenehmen oder schmutzigen Arbeiten eingeteilt. Diese Funktionäre führten die Neuankömmlinge (unsere Gruppe bestand aus mehreren hundert Leuten) nun in die Disziplin des Zwangsarbeitslagers Grünheide ein.
Nachdem wir belehrt worden waren, wie wir zu marschieren, uns aufzustellen und abzuzählen hatten, wurden wir auf die Baracken und Stuben verteilt. Plötzlich kam ein Häftling aus meiner Heimatstadt auf mich zu und sagte: »Dein Vater steht da hinten.« Schnell versuchte ich, in der Kolonne einige Reihen weiter nach hinten zu gelangen, um meinem Vater näherzukommen. Schließlich stand ich vor ihm. Mein Vater erzählte mir, dass nach unserem Abtransport die zurückgebliebenen Männer, die unter Aufsicht der SS von einem jüdischen Arzt als arbeitsfähig befunden worden waren, auf Lastautos geladen und in der Nacht nach hier gebracht worden waren. So waren auf einmal Freiwillige und Unfreiwillige im gemeinsamen Arbeitslager versammelt.
Dann gab man uns Schaufeln, Spaten und Kreuzhacken in die Hand und teilte uns in Gruppen ein, die im Umkreis des Lagers zur Arbeit eingesetzt wurden. Andere wieder mussten beim Ausbau der Baracken helfen, in denen wir nachher hausen sollten. Um diese Jahreszeit – es war Ende März – war es noch bitter kalt. Für die Arbeiten nicht ausgerüstet – wir trugen dieselbe Kleidung, in der man uns überraschend aus unseren Wohnungen geholt hatte – hoben wir in der Morgendämmerung einen Graben um das Lager herum aus. Manche konnten ihre Ungeschicklichkeit nur schlecht verbergen. In dunklen Anzügen, ungelenk den Spaten in der Hand haltend, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und hochgezogenen Socken, gaben sie wider Willen ein groteskes Bild ab. Die wachhabenden SA-Männer sparten denn auch nicht mit ihrem Spott und beschimpften uns als Faulenzer. Ein SA-Mann schrie uns an: »Ihr Faulenzer! Ihr Judenschweine! Nicht einmal einen Spaten könnt ihr in der Hand halten!« Die meisten von uns hatten nie in ihrem Leben solche Arbeit gemacht, da sie zumeist geistige Berufe ausgeübt hatten. Es war nur allzu leicht, uns jetzt zu Karikaturen herabzuwürdigen, zu minderwertigen Menschen zu stempeln, die zu nichts taugten.
Der Tag zog sich endlos hin, bis wir am Abend in die Baracken zurückkehren durften und uns von dieser ungewohnten Arbeit im Freien ausruhen konnten. Nun bekam jeder einen Löffel, mit dem er an der Küche vorbeigehen und sein Mittagessen holen musste, um es dann im sogenannten Speiseraum zu verzehren.
Viele Männer stellten ihren Teller wieder hin und gingen in ihre Baracken zurück, wo sie in kleinen Gruppen zusammenstanden und über ihre zurückgebliebenen Familien und die düstere Zukunft sprachen. Ich war am Abend sehr hungrig und aß mein Essen auf. Neben mir stand mein Vater, der sein Essen kaum berührte und mir seinen Teller zuschob. Ich weigerte mich zuerst, seinen Teil anzunehmen, doch er drängte mich zum Essen und munterte mich mit seinem gütigen, väterlichen Blick auf, mich nicht unterkriegen zu lassen, denn, so sagte er, das erste Ziel der Nazis sei es, uns seelisch zu schlagen. Er zog mich an sich und mahnte mich mit eindringlichen Worten, um mein Leben zu kämpfen, denn die Zukunft würde noch andere Ausblicke zeigen, als das graue, scheinbar aussichtslose Dasein der Gegenwart vermuten lasse. »Du hast ein ganzes Leben vor dir«, sagte er. »Jeden Morgen kann deine Zukunft neugestaltet werden.« Er sprach ruhig, und ich fühlte, dass er mich, den unerfahrenen Schüler, der immer behütet worden war, auf diese Situation gefasst machen wollte. Nie hatte mein Vater mit mir so eindringlich gesprochen, aber die Worte, die er mir jetzt sagte, wogen schwer und prägten sich mir für immer ein.
Als wir später zum Schlafengehen aufgefordert wurden, konnte ich mich schwer von meinem Vater trennen. Wir sprachen über unsere Mutter zu Hause und fragten uns, was wohl jetzt die einsamen drei Geschwister ohne Vater machten.
Beim Morgenappell wurden wir verschiedenen Arbeitskommandos zugeteilt. Dann wurden wir unter die alten Häftlinge gemischt und bildeten mit ihnen zusammen neue Arbeitskolonnen. Unter Bewachung der SA marschierten wir zur Autobahn hinaus, wo man uns dann den Baufirmen übergab, die die Autobahn anlegten. Ich wurde der Firma »Kaltwasser Hoch-Tiefbau« zugeteilt und musste, in eine geschlossene Kolonne eingereiht, Lehm in Loren laden. Das wechselhafte Frühjahrswetter machte ein ständiges Arbeiten im Freien noch unmöglich. Der März brachte viel Schnee, und über Nacht war der Lehmboden oft hart gefroren. Pünktlich marschierten wir frühmorgens hinaus, oft war es aber unmöglich, mit der Arbeit zu beginnen. Schließlich teilte man uns zu verschiedenen Transportarbeiten ein oder ließ uns von Brettern und Verschalungen den Zementmörtel abklopfen. Da wir weder Handschuhe noch Winterkleidung trugen, wurden die Arbeiten zu einer Qual. Viele hatten Erfrierungen an den Händen, andere wieder hielten in der Arbeit nicht inne, um die Kälte durch ständige Bewegung zu vertreiben. Manchmal schickte man uns von der Baustelle wieder ins Lager zurück, da bei dem ständigen Schneematsch oder Regen die Meister und zivilen Angestellten die Arbeit weder leiten noch ausführen wollten. Also musste man uns frei geben und ins Lager zurückschicken. Doch Anton, der Wachhabende, vergönnte uns die Ruhepause nicht. Er jagte uns stundenlang auf dem Appellplatz herum, indem er uns unsinnige Beschäftigungen auftrug. Trotzdem konnten wir auch einige Stunden in unseren Stuben verbringen. Wir kochten und brieten dann Kartoffeln und trockneten unsere Kleidung. Fast alle von uns trugen Straßenanzüge, die beim Lehmschaufeln schnell mit Lehm verklebt und feucht wurden.
Der April brachte Sonne und Regen und immer noch wechselhafte Arbeitsbedingungen. Bei Regen kam der Befehl, die Arbeit einzustellen; das geschah jedoch erst, wenn wir ganz durchnässt waren. Die deutschen Meister und Vorarbeiter und die SA-Posten trugen Regenmäntel mit Kapuzen, wir aber wurden nass bis auf die Haut.
Der April brachte auch einen unserer großen Feiertage, den Pessach, der zeitlich etwa mit Ostern zusammenfällt. An diesem Tage erinnert man sich der großen Ereignisse, die unserem Volk im Altertum den Frühling der Freiheit brachten. So wird auch die Befreiung der Juden aus der Knechtschaft in Ägypten in symbolischen Riten gefeiert. An den beiden Feiertagsabenden werden große Familienfeiern veranstaltet, zu denen auch Gäste geladen sind. Diese patriarchalische Feier wird mit der Erzählung des Familienältesten über die Knechtschaft und die Befreiung der Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft eingeleitet und mit einem Freudenmahl beschlossen. Die Kinder erwarteten dieses Fest immer mit großer Ungeduld. Diesen Pessach erlebten wir jetzt nur noch in der Erinnerung. Tiefer noch als bisher empfanden wir die Trennung von unseren Familien. Das Heimweh bedrängte unsere Herzen schwer und ließ brennende Fragen nach der Zukunft auftauchen. War es wohl unsere letzte Bitternis, aus den Familien gerissen zu bleiben und als Verschleppte unser Leben hinter Stacheldraht zu beenden? Würden wir der Gefangenschaft je wieder entrinnen? Niemand wusste eine Antwort. Einige Gläubige beschlossen, auch unter den gegebenen Verhältnissen das Ritual einzuhalten und kein Gesäuertes zu essen. Auch mein Vater schloss sich ihrer Gruppe an. Es gelang, heimlich Mehl zu besorgen und die Matzen, die nur aus Mehl und Wasser bestehen, nachts auf dem Ofen zu backen. Am Abend, als der Feiertag anbrach, setzten sich die Gläubigen in einer Stube zusammen, verrichteten die Gebete, aßen die Matzen und erzählten aus den heiligen Büchern den Auszug aus Ägypten.
Als ich einige Wochen auf der Kippe gearbeitet hatte (die Kippe baute den Aufschütt zu einer Brücke), waren meine Hände von der schweren Arbeit mit der Schaufel so übel zugerichtet, dass ich den Spaten nur noch mit Mühe heben konnte. Mit Neid sah ich daher den wenigen zu, die schon von früher her an harte Arbeit gewöhnt waren und sich in der gegenwärtigen Situation einigermaßen zurechtfanden.
Schachtmeister Greguletz, ein Schlesier, trieb die Kräftigen unter uns dazu an, die Loren im Eiltempo zu füllen; wer nicht mithalten konnte, wurde von ihm sadistisch geschlagen und mit dem Spatenstiel gestoßen. Ich setzte all meine Kräfte ein, um meine Lore ebenso schnell vollzubekommen wie die anderen. Doch es gelang mir schlecht. Die Schaufel schwankte in allen Richtungen, wenn ich sie zur Lore hochhob, und manchmal konnte ich sie kaum vor dem Umkippen bewahren. Greguletz beobachtete mich. Gelegentlich nahm er sogar selbst einen Spaten in die Hand und half mir, da er sah, dass ich die Lore beim besten Willen nicht ganz füllen konnte.
Das Schmieren der Loren besorgte ein alter Wagenschmierer, ein gewisser Heiduck, auch ein Schlesier, der sich uns gegenüber sehr anständig benahm. Oft brachte er uns belegte Brote und sprach uns Mut zu. Das Nazispiel, meinte er, müsse bald ein Ende haben und die Juden könnten dann wieder den alten Platz in ihrer Heimat einnehmen. Eines Morgens kam Heiduck nicht zur Arbeit. Die Loren begannen zu quietschen, und manche Lager liefen sich heiß. Plötzlich rief mich Greguletz: »Du, kleiner Pinscher, komm her! Ich werde dir zeigen, wie man die Wagen schmiert. Wenn du deine Sache gut machst, bleibst du unser Wagenschmierer, wenn nicht, wirst du zu den Loren zurückgeschickt und bekommst obendrein den Stock zu spüren!« Ich freute mich über diese neue Arbeitseinteilung. Meine wunden Hände konnten nun endlich heilen.
Ich tat meine Arbeit so gründlich wie möglich. Nach einiger Zeit kam Heiduck wieder, aber ich blieb als Hilfsschmierer weiter bei ihm. Der alte Heiduck hustete und rauchte fast ununterbrochen, während ich seine Arbeit übernahm. Dafür gab er mir mittags sein ganzes Essen und steckte mir auch manches für die anderen zu. Trotz der Rationierung gab es damals ja noch genügend markenfreie Lebensmittel im schlesischen Gebiet. Greguletz hat keinem von uns jemals ein Stück Brot gegeben. Was von seinen Schnitten übrigblieb, warf er den vorbeikommenden Kühen zu, und viele hungrige Augen folgten seinen Händen, wenn er die Brote den Tieren zum Fressen hinhielt.
Ich konnte jetzt also ohne Bewachung auf der Baustelle herumgehen und mich mit den freien Arbeitern unterhalten. Auch besorgten mir einige von ihnen gewisse Artikel, die man damals am Bahnhof Kaltwasser in der Kantine noch kaufen konnte, z. B. Taschenspiegel, Kämme und andere Dinge, die sich als Tauschobjekte verwenden ließen. Auch konnte ich meiner Mutter öfter einen Brief schicken. Eigentlich durften wir nur alle vierzehn Tage schreiben, und auch dann nur eine Karte, die zensiert wurde. Nun verfassten mein Vater und ich ausführliche Berichte, die der gute Heiduck auf dem Postamt in Kaltwasser aufgab. Vor allem, um meine Mutter zu beruhigen, schrieben wir ihr, dass es uns gut ginge und sie sich unsertwegen keine Sorgen zu machen brauche. Die Tatsachen aber sahen anders aus. Meinem Vater ging es gar nicht gut. Er versuchte zwar, seinen schlechten Gesundheitszustand vor mir zu verbergen, doch durch einen Zufall entdeckte ich, dass er mehrere Geschwüre am Körper hatte. Auch bemerkte ich, dass er sich beim Marsch zur Arbeit nur mit Mühe in der Kolonne halten konnte. Beschwichtigend versuchte er, seinen Zustand zu bagatellisieren. Ich hatte aber keine Ruhe mehr, und voll ängstlicher Sorge beobachtete ich ihn bei der Arbeit.
Wie schon erwähnt, bestimmte Greguletz das Arbeitstempo nach dem flinksten, stärksten Mann. An der ersten Lore stand der große Mydlarz. Er war von Beruf Arbeiter, und da er Greguletz gefallen wollte, füllte er seine Sandlore so rasch wie möglich. Da den meisten anderen das Heben der vollen Schaufel schwerfiel, flüsterten wir dem starken Mydlarz oft zu, er möge langsamer arbeiten, weil die anderen seinem Tempo nicht nachkommen könnten. Als Antwort auf unsere Bitten grinste er nur dumm und stolz. Er hielt dies Arbeitstempo ein knappes Jahr durch und starb dann an Entkräftung. Damit teilte er das Schicksal vieler Starken.
Als ich sah, wie sich mein Vater damit abquälte, die Sandloren randvoll zu füllen, und hinter den anderen zurückblieb, fürchtete ich, dass Greguletz bald mit seinem Stock bei ihm erscheinen würde. So ging ich zu seiner Lore und begann sie rasch vollzuschaufeln. Auf einmal spürte ich einen harten Schlag auf dem Rücken. Als ich mich umdrehte, stand der Schachtmeister vor mir. Sein aufgeblähtes Rattengesicht war wutverzerrt, und außer sich schrie er mich an: »Du verdammtes Aas! Was machst du hier? Schau, dass du an deine Arbeit kommst!« Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich einige Minuten frei hätte. Auch der Kolonnenälteste kam hinzu, um den Meister zu beschwichtigen. Aber Greguletz jagte mich fort, und schweren Herzens musste ich meinen Vater allein bei seiner Arbeit zurücklassen. Wie konnte ich ihm nur helfen? Nach dem Abendappell im Lager ging ich zu dem Sanitäter Kristall, der aus unserer Nachbarstadt stammte. Ich bat ihn eindringlich, meinen Vater krankzuschreiben. Erst wollte er mich gar nicht anhören. Er gab zwar zu, dass er meinen Vater kannte und dass dieser in der letzten Zeit oft zu ihm gekommen sei, um sich verbinden zu lassen. Seine Krankheit sei jedoch nicht von der Art, dass ihm seine Vorschriften erlaubten, ihn von der täglichen Arbeit zurückzustellen. Nebenbei hatte ich aber erwähnt, dass ich auf der Baustelle gute Verbindungen habe und manche brauchbaren Dinge, u. a. auch Medikamente besorgen könne. Auf einmal sagte er, er müsse einen Brief wegschicken, ob ich den sicher weiterleiten könne? Als Sanitäter hatte er zwar die Möglichkeit, über den Judenältesten die Post häufig unzensiert zu erhalten, aber selbst Briefe wegschicken konnte er nicht, da er das Lager nur selten verlassen und keine Beziehungen zu Leuten außerhalb des Lagers aufnehmen konnte. Von meinem Freund Kanatzky, mit dem ich im Lager alles teilte, bekam ich hier und da Bonbons, da seine Eltern zu Hause Süßwaren herstellten und er von ihnen gelegentlich Pakete erhielt. Ich schenkte dem Sanitäter eine Tüte Bonbons, um ihn günstig zu stimmen. Alle paar Wochen kam ein SS-Arzt ins Lager und kontrollierte die Krankenberichte. Er bestimmte auch, ob die Kranken, die nicht mehr arbeitsfähig waren, dabehalten oder nach Hause geschickt werden sollten. Bei der nächsten Visite
des Arztes wollte der Sanitäter sich nun dafür einsetzen, dass mein Vater als untauglich abgestellt wurde. Er sagte mir aber, dass bei jedem Besuch des SS-Arztes auch der Judenälteste anwesend sei und dass auch dieser seine Zustimmung geben müsse.
Unser Judenältester Sorski aus Kattowitz war nicht gerade bösartig, aber er bildete sich wirklich ein, die SS habe ihn deshalb als Judenältesten eingesetzt, weil er über die anderen erhaben sei. In unerschütterlichem Glauben an seine »Berufung« regierte er auch. Dadurch, dass ich gelegentlich heimlich Post wegschicken konnte, kam ich auch mit ihm in Verbindung, und auch er schickte durch mich einige Briefe weg. Er prüfte mich genau, und als er meine Zuverlässigkeit erkannte, fasste er allmählich Zutrauen zu mir. Als ich am Sonntag bemerkte, dass er guter Laune war, ging ich zu ihm in sein Zimmer und trug ihm meine Bitte vor. Ich bat ihn um Verständnis für den Zustand meines Vaters, der vor Schmerzen kaum mehr arbeiten konnte. Eindringlich stellte ich ihm vor Augen, dass ich als Sohn dabei nicht tatenlos zusehen könne. Sorski, immer noch in Gönnerlaune, antwortete mir: »Wenn er krank ist, habe ich nichts dagegen, vorausgesetzt, dass der Sanitäter ihn auf die Krankenliste setzt.« Ich bedankte mich und verließ überglücklich das Zimmer. Nun musste ich auch noch den Sanitäter günstig stimmen. Wusste ich doch nur zu gut, dass viele ähnliche Wünsche vorbringen wollten. Es gab noch Leute im Lager, die Brillanten und Schmuck versteckt hielten und sich damit freikaufen wollten, um wenigstens wieder ins Getto zurückkehren zu können.
Beim nächsten Gespräch erkundigte sich der Sanitäter nach meinen wirtschaftlichen Verhältnissen zu Hause. Ich sagte ihm wahrheitsgemäß, dass wir zwar kein Geld mitnehmen konnten, da wir überstürzt weggeschleppt worden seien, versicherte ihm jedoch, dass meine Mutter noch über einige Mittel verfüge. Darauf schlug er mir vor, meine Mutter brieflich um die Überweisung einiger hundert Mark an seinen Vater zu bitten. Dieser würde ihm dann in einem verschlüsselten Brief davon Mitteilung machen. Sollte dies Unternehmen gelingen, so wolle er versuchen, meinen Vater auf die Krankenliste zu setzen. Weiter versprach er mir, dem SS-Arzt, von dessen Entscheidung alles abhing, klar zu machen, dass mein Vater arbeitsuntauglich sei und er seine Entlassung befürworte. Fieberhaft überlegte ich, was ich noch tun könnte, und schickte meiner Mutter immer neue Anweisungen. Sie musste die entsprechenden Schritte unternehmen, damit bei der Rückkehr meines Vaters keine weiteren Schwierigkeiten auftraten. Man schickte die Kranken nämlich nicht unmittelbar in die Heimatstadt zurück, sondern brachte sie zuerst in ein Durchgangslager in Sosnowitz, Dulag genannt, das der Zentrale der Judenleitung für Ost-Oberschlesien unterstand. In diesem Dulag sammelte man sowohl diejenigen, die man in Arbeitslager weiterverschickte, als auch die Kranken, die aus den verschiedenen Arbeitslagern zurückkehrten. Wie überall in Lagern, war auch hier die Korruption groß. Die Gestapo und die SS, die dort die Regie führten, bekamen durch die Vermittlung jüdischer Hilfspolizisten Brillantringe, Goldzähne und auch große Geldsummen. Die Lagerleitung kaufte damit ihre Günstlinge los und schickte dafür andere an ihre Stelle. So war es durchaus nicht sicher, dass die Kranken, wenn sie im Dulag anlangten, auch tatsächlich nach Hause geschickt wurden. Ohne Geld und ohne Beziehungen war man völlig der Willkür der Lagerleitung ausgeliefert. Um einem Zwischenfall vorzubeugen, bemühte sich meine Mutter um die Hilfe eines gewissen Windmann, der dem Judenrat in unserer Stadt vorstand. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang 1940 der damalige Oberbürgermeister unserer Stadt, Dr. Frick, die Ablieferung der Kontributionsgelder unter Androhung der Todesstrafe verlangt hatte. (Dr. Frick lebt in München und ist jetzt als Oberregierungsrat tätig.) Alle einflussreichen Bürger waren vom Judenrat aufgefordert worden, bei der Eintreibung des Geldes behilflich zu sein. Auch mein Vater wurde zu dieser Aktion herangezogen, erzählte aber zu Hause, seine und Windmanns Anschauungen gingen in mancher Hinsicht auseinander. Sie waren zwar ursprünglich Freunde und jahrelang an der Spitze einer Partei tätig gewesen. Jetzt aber war Windmann seine Stellung als Chef des Judenrats zu Kopf gestiegen. So kühlte sich die freundschaftliche Beziehung im Jahre 1940 immer mehr ab. Nun aber war meine Mutter gezwungen, bei diesem Mann Protektion zu suchen, in dessen Macht es stand, den Weg meines Vaters vom »Dulag« nach Hause vor weiteren Schwierigkeiten zu bewahren.